
Neuigkeiten 2023 – Februar
Erdbeben in Anatolien

Am 6. Februar erschütterte ein doppeltes Erdbeben den Südwesten der Türkei. Das Epizentrum wurde im Nordwesten der Provinz Gaziantep (nach dem Kandilli-Observatorium) oder im Osten der Nachbarprovinz Kahramanmaras (nach dem öffentlichen Katastrophendienst AFAD) verortet, die Magnituden betrugen 7,7 und 7,6. Während normalerweise die Schäden in einem Bereich von einigen Dutzend Kilometern vom Epizentrum am schwersten sind und mit größerer Entfernung abnehmen, war diesmal ein ganzer Landstrich betroffen, von Diyarbakir im kurdischen Teil Südostanatoliens bis nach Adana an der 300 km entfernten Mittelmeerküste, etwa 100.000 Quadratkilometer, eine Fläche die ganz Portugal entspricht. Offizielle Quellen sprechen von bisher 45.000 identifizierten Toten; unabhängige Schätzungen sehen eine deutlich höhere Opferzahl voraus.
Am schlimmsten war die Zerstörung in Antakya, dem alten Antiochien, in der Provinz Hatay, trotz der Entfernung von 175 km vom Epizentrum. Das erklärt sich dadurch, daß man es bei diesem Beben eigentlich kein Zentrum gab, sondern die tektonischen Kräfte sich entlang einer geologischen Verwerfung entfalteten, die von Inneranatolien bis nach Antiochen verläuft, wie mir der Geophysiker Ali Pınar vom Kandilli-Observatorium erklärte. Hier trifft die arabische Scholle mit der anatolischen zusammen; beim Beben verschoben sich beide Platten um mehrere Meter gegeneinander. Dem türkischen Geophysiker Çağlar Bayık zufolge, bis zu fast vier Meter — die südliche, arabische Scholle rutschte 2,7 Meter nach Nordosten und die nördliche, anatolische, um 1,1 Meter nach Südwesten. Luftaufnahmen belegen dies ganz augenfällig.
In Antakya kam dazu ein weiterer Faktor: die Stadt liegt am Orontesfluß, der, geologischen Karten zufolge, genau in der Verwerfungsspalte entlangfließt. Die Häuser stehen auf weichem Sedimentboden, der seismische Schwingungen sehr gut leitet, so daß die Fundamente der Gebäude stärker bewegt werden als bei Häusern auf Felsboden. Außerdem breiten sich die Bebenwellen aus, bis sie an andere, härtere Gesteinsformationen stoßen — im Falle Antiochiens, das auf 100 m NN liegt, der 500 m hohe Hügelzug am Ostrand der Stadt und der 1500 m hohe Musa Dağ im Nordwesten — und von dort zurückgeworfen werden, “wie Wellen die ans Ufer eines Teiches schlagen, wenn man einen Stein hineinwirft, um sich mit den nachfolgenden zu überlappen”, in Pınars Worten. Der Potenzierungseffekt muß unglaublich gewesen sein. Das Ausmaß an Zerstörung, sagte mir ein Erdbebenretter, der zwanzig Jahre im Dienst ist und auch schon das Beben von Marmara 1999 (18.000 Tote) miterlebte, hat er nicht einmal je in den Lehrbüchern gesehen.

Antiochien ist völlig zerstört. Abgesehen von einigen Vierteln neueren Datums auf den Hügelzügen im Westen und älteren höher am Hang im Osten, ist die Stadt so gut wie dem Erdboden gleichgemacht. Die Altstadt mit den engen Gassen und mehreren hundertjährigen Moscheen ist ein einziger Trümmerhaufen, völlig unzugänglich, da alle Eingänge verschüttet sind. Ob die Statd je wieder aufgebaut werden kann, ist fraglich.
Das Beben führt uns vor Augen, in welchem Ausmaß Naturkatastrophen die menschliche Zivilisation beeinflussen können, auch wenn, wie in diesem Falle, die gemessene Magnitud von 7,7 gar nicht so ungewöhnlich ist. Ein Großreich kann ein Beben dieser Art überstehen, aber ein kleineres historisches Reich —etwa von der Ausdehnung des nordwestlich von Antiochien gelegenen Kilikien— könnte durch die Zerstörung der Hauptstadt durchaus so stark betroffen werden, daß eine bestimmte Kultur damit untergeht. Dazu kommt, daß wahrscheinlich schon früher öfters darauf verzichtet wurde, eine durch Beben zerstörte Stadt wieder aufzubauen, vielleicht aus demselben Grund, aus dem man heute erwägt, Antiochen ganz neu an anderer Stelle zu gründen: weil die geographische Lage auf der Verwerfungslinie auch für die Zukunft riskant erscheint. Daß manche berühmte Städte der Antike, wie Ephesus oder Troja, heute nur noch als Ruinenfeld existieren, anstatt weiterhin bewohnt zu sein wie andere gleichen Alters, läßt sich so erklären, aber wie uns die ungeheure Ausdehnung dieses Bebens vorführt, können solche tektonischen Bewegungen, die an sich nicht weiter überraschend sind, ungeahnte katastrophale Folgen haben.
Ilya U. Topper
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Antiochien hatte ich im Frühling 2000 gesehen und in meinen Fahrtnotizen (Auflage 20 Stück) kurz beschrieben. Die Notiz übernahm ich 2016 in mein Buch “Jahrkreuz” (Teil 7, S. 361-362). Unter der Überschrift “Die Geschichte schrumpft” bringe ich drei Beispiele für künstlich erzeugte Leerzeiten, zuerst den großen Abstand zwischen dem Astronomen Ptolemäus und den arabischen astronomischen Schriften, der in Antiochen am augenfälligsten wird:
In Antiochien entstand angeblich das paulinische Christentum, hier wurde das Wort „Christen“ erstmals geschrieben. Die sogenannte Peterskirche im Felsen über der Stadt stammt aber erst von den Kreuzfahrern, „mehr als ein Jahrtausend später“, laut Fremdenführer. Wer in dieser Felsenhöhle mit ihrer heiligen Quelle anbetete, weiß man nicht; es fehlen jegliche christlichen Ornamente, wie überall auch sonst in dieser Stadt. Im Museum in Antiochien befinden sich die besterhaltenen Mosaiken des gesamten römischen Gebietes, sie werden ins 1. bis 5. Jahrhundert n. Chr. datiert und zeigen nirgends christlichen Einfluß. Im Gegenteil, sie sind deutlich heidnisch in ihrer Bildaussage. Da gibt es eine griechische Göttin Soteria, „Erlöserin“, aus dem 5. Jahrhundert, und das stimmt nachdenklich, denn da wäre nach Schulwissen das Christentum schon mindestens ein Jahrhundert lang Staatsreligion gewesen! Soter (Erlöser) ist immer männlich: der Christus. Die Ornamente sind Hakenkreuze, gewundene Bänder, Mäander, auch Kreuze einfachster Form, die uralt und keineswegs christlich sein müssen. Die szenischen Bilder sind gar zu heidnisch: der All-Gott Pan als Bock; sodann Dionysos und die übrige Götterwelt der klassischen Griechen.
Die Münzen der byzantinischen Kaiser – in der Sammlung dieses Museums wie auch anderswo – machen erst ab Justin II (6. Jh.) einen oberflächlich christlichen Eindruck; echt christlich werden sie erst ab Konstantin Nikeforos und Phokas (Ende 10. Jh.), und deutlich mit den Kreuzfahrern (ab 1200).

Übrigens wunderte sich schon Carsten Niebuhr (1774) über das völlige Fehlen christlicher Zeugnisse in dieser Geburtsstätte des Christentums. (Anm. 1) Römische Reste sind dagegen reichlich vorhanden, auch Figuren gnostischer oder heidnischer Kultur. Es sind die Reste einer Übergangsform zwischen Heidentum und Byzanz, die ich vorgreifend als aramäische Gnosis bezeichnen möchte. Die Verbindung zur Gnosis bietet sich an, weil zahlreiche alte Kirchen der heiligen Weisheit, Hagia Sophia, geweiht sind, nicht der Gottesgebärerin oder dem Erlöser. Die zeitliche Festlegung dieser Grabsteine und Götzenfiguren ist jedoch völlig unmöglich; nur selten ist griechische oder syrische Schrift damit verbunden, nie eine Jahresangabe. Der Formenreichtum dieser bäuerlich naiv wirkenden Sakralkunst ist erstaunlich, aber doch begrenzbar: Lebensbaum, Pfau, Stier, Erdmutter, Schlange, geflügelte Wesen. Die Übernahme dieser Bilderwelt in die aramäische Kirche ist erkennbar. Der Pfau ging auch ins byzantinische Christentum (und in den Buddhismus) ein. Deutlicher noch ist das Weiterleben dieser Kunst bei den Jesiden sichtbar, in Kurdistan und im Kaukasus.
Während hier im behaupteten Entstehungsbereich der frühchristlichen Kirche christliche Denkmäler fehlen, sind die heidnischen Steinbilder, Mosaiken und Überlieferungen erhalten geblieben. Damit scheidet der Gedanke aus, daß die islamischen Eroberer das Christentum ausgelöscht haben könnten. Die römisch-griechische Welt endet irgendwann abrupt, dann folgt kurz gnostischer Synkretismus (wie zum Beispiel in Hierapolis zu sehen) und bald darauf die türkische Eroberung. Die “Sternanbeter” von Harran, Sabäer genannt, werden zu arabischen Astronomen in knapp drei Generationen, wie am Beispiel von Thabit und seinen Nachkommen gut ablesbar ist.
Wieder bietet sich nur eine Lösung an: Es wird schriftlich ein enorm großer Zeitraum geschaffen; unsere Geschichtsschreibung hat bis zu einem Jahrtausend „Zeit“ eingefügt, die nirgends berechtigt ist.
Anmerkung 1: Carsten Niebuhr schreibt 1774 über die Stadt Antiochien:
„Antiochia hat für uns Christen nie an Bedeutung verloren, da hier die Apostel zuerst den Namen Christen angenommen haben (Apostelgeschichte XI.26). Das Christentum gewann in dieser Metropole auch so an Bedeutung, daß ihr die Griechen den Beinamen Theopolis verliehen. Jetzt findet man aus der Zeit der Christen fast nichts mehr. Von der großen, dem Apostel Paulus geweihten Kirche ist nur noch ein Wasserbehälter übrig, der vor der Kirche stand. Dort sitzen jetzt Leute, die Brot und Kaffee verkaufen. Außer diesem Wasserbehälter konnte ich keine Zeugen einer stolzen Vergangenheit finden. … Es gibt in Antiochia nur noch wenige Christen. Ihre Kirche ist eine kleine Felsengrotte. Alle anderen Bewohner sind Mohammedaner, die von Tabakanbau leben. Seltsamerweise wird in Antiochia türkisch gesprochen.“ [Niebuhr, Carsten (1774): Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern (Kopenhagen, Nachdruck 1973)]
Besser hätte ich es auch nicht beschreiben können, mehr als zwei Jahrhunderte später.
Uwe Topper
