„Negierung der wahren Wissenschaft“
– eine neue Form der Streitansage gegen die Geschichtskritiker
(Bemerkungen zu einem Buch von A. García Sanjuán, 2013)
„Negacionismo“ – spanisch für Verneinung, Leugnung, ist das neue Schlagwort, mit dem sich die offizielle Geschichtsschreibung zu Wort meldet, um ihre geheiligten Hallen von Zweiflern und Neudenkern freizuhalten. Der Ton, in dem diese Erwiderung auf die jahrzehntelangen Bemühungen um eine kritische Sichtung der historischen Gegebenheiten jetzt vorgebracht wird, läßt schon ahnen, daß es sich hier nicht um ehrliche Forschung handelt sondern um das eilfertige Bemühen, die erreichten Standorte der romantischen Herstellung der eigenen Geschichte zu verteidigen, also Deichbau und Lawinenschutz, wie er sich vor zwanzig Jahren in deutscher Sprache ereignete. Das gerade voriges Jahr in Spanien erschienene Buch „La conquista islámica de la península ibérica y la tergiversación del pasado“ von Alejandro García Sanjuán (Marcial Pons, Madrid, 500 S.) gibt mir Anlaß, einige Bemerkungen zu diesem Streitversuch zu schreiben. Der Titel würde in Deutsch lauten: „Die islamische Eroberung der Iberischen Halbinsel und die Verdrehung der Vergangenheit.“ Der Untertitel „Del catastrofismo al negacionismo“ besagt noch deutlicher, daß hier eine Abrechnung stattfindet: „Vom Katastrophismus zur Leugnung.“
Der Autor, Professor an der Universität von Huelva, sagt selbst, daß es Ignacio Olagües Buch (“La revolución islámica en Occidente” 1974) war, das er schon im Elternhaus vorfand und gegen das er sich nun mit aller Kraft in seinem neuen Buch wendet. So besonnen Olagüe auch vor fast einem halben Jahrhundert vorging, soviel Sprengstoff birgt es doch immer noch und scheint sogar – nach der spanischen Neuausgabe 2004 in Córdoba – noch wirksamer geworden zu sein.
Zunächst einmal fällt es dem Angreifer García leicht, Olagüe zum faschistischen (korrekt wäre: falangistischen) Umkreis zu rechnen und damit unpopulär zu machen. Außerdem wirft ihm García „Unkenntnis, Verdrehung und Veränderung“ (der Fakten) in einer Überschrift und laufend vor. Mit diesen Wörtern arbeitet er durchgehend 500 Seiten lang, spricht von Betrug, führt auch eine gewisse, als einzigartig bekannt gewordene Leugnung als „nicht vergleichbar“ an, kann aber keine anderen als die sattsam bekannten und von Olagüe in Zweifel gezogenen „Beweise“ für die traditionelle Geschichtsschreibung vorbringen: ein paar Münzen und Chroniken, die allesamt sehr spät hergestellt sein können. Außerdem muß er auf nicht relevante orientalische Quellen zurückgreifen, deren Wahrhaftigkeit er ebensowenig beweisen kann.
Als ich 1995 durch einen Freund das Buch von Olagüe (Ausgabe 1974) überreicht bekam, war ich sehr überrascht und sogar erfreut über diese erfrischend andere Sicht der Geschichte Andalusiens. In „Zeitensprünge“ (3/1998) verfaßte ich eine Besprechung und Bewertung, die Folgen hatte (siehe hier). Der auf diese Weise erstmals im deutschen Sprachraum bekanntgemachte Olagüe fand sogleich erstaunte Leser, die den Ball aufgriffen. Besonders Eugen Gabowitsch und Anatoli Fomenko ist es wohl zu danken, daß das Buch in Rußland bekannt wurde und dadurch in Spanien (2004) eine Neuauflage nötig wurde, die schon wieder vegriffen ist. Das Vorwort dazu schrieb übrigens der französisch und spanisch publizierende, hoch angesehene Historiker Bernard Vincent (geboren in Paris 1941, mehrere Ehrendoktorhüte), Fachgelehrter für die Morisken Spaniens im 16. Jahrhundert.
Auch sonst war das in gekürzter Fassung 1969 in Französisch erschienene Buch nicht von schlechten Eltern: Der bekannte Historiker Fernand Braudel (Académie Francaise) setzte sich für die Erstveröffentlichung ein. Die vollständige spanische Ausgabe 1974 wurde von Joseph Perez (Ehrenlegion) und der Fundación Juan March (Madrid) befürwortet, und die Neuauflage im März 2004 (Plurabelle, Córdoba) von der Regierung von Andalusien unterstützt. Das will alles nichts heißen, außer: jenseits der Akzeptanzmöglichkeit bewegt sich das Buch nicht.
Der Baske Ignacio Olagüe Videla (1903-1974), teilweise Nachfolger von Américo Castro und Anhänger der Spenglerschen These vom organischen Auf und Ab in der Menschheitsgeschichte, hatte in seinen Büchern gezeigt, daß die in den Schulen gelehrte Geschichte von der blitzartigen Eroberung und Bekehrung Spaniens durch die Araber 711 in dieser Weise nicht vor sich gegangen sein kann, sondern eher als eine allmähliche Umwandlung der Glaubensinhalte und Aufnahme der überlegenen arabischen Schriftkultur in Andalusien verstanden werden müsse. Die verschiedenen unitarischen Glaubensformen, dem Arianismus nahe und doch verschieden, uns nicht mehr voll einsichtig, entwickelten sich zum Islam hin, im Gegensatz zur trinitarischen Umformung des Christentums in Richtung Katholizismus. Olagüe befand sich damit auf dem Weg zu einer sinnvolleren Rückschau auf die Entwicklung im mittelalterlichen Spanien, wenngleich er die chronologischen Verwerfungen noch nicht zur Sprache brachte. In diesem Sinne gleicht er Günter Lüling, der Olagüe nicht kannte und doch eine ähnliche Entwicklung der monotheistischen Religionen beschrieb, wobei er ebenfalls auf eine chronologische Neuordnung verzichtete.
An Gegnern Olagües hatte es nicht gefehlt. Eine erste französische Ablehnung verfaßte der 1939 geborene Pierre Guichard 1974 (spanische Übersetzung 1987). Andererseits hatte der Schriftsteller Antonio Gala aus Córdoba in einem Interview in der wichtigsten Tageszeitung Spaniens, El País, am 13. Oktober 1988, die Ideen Olagües verbreitet, ohne deren Urheber beim Namen zu nennen. García nimmt ausdrücklich Bezug auf dieses Interview. Er sieht sich im Kampf gegen die Verdrehungen und Verfälschungen der traditionellen Geschichtsschreibung durch verantwortungslose Laien. Wenn diese etwa die Historizität des (jemenitischen oder persischen) Generals Musa Ibn Nusayr, „Eroberer Spaniens 711“, leugnen, weil dieser Nusayr – auch nach Aussagen der besten arabischen Gelehrten wie Mahmud Ali Makki, wie García anführt – praktisch nicht greifbar ist, sondern nach Ansicht Olagües wie eine Heiligengestalt typisch maghrebinischer Art zusammengesetzt sei, führt García einige Münzen an, die von Nusayr in Tunesien gefunden wurden mit der verdächtigen, wenn nicht lächerlichen Aufschrift in Latein (ausführlich in meinem oben zitierten Aufsatz 1998; siehe auch den spanischen Beitrag von Ilya Topper hier). Als Chronik-Beweis für die Richtigkeit der bekannten Geschichtsschreibung dient das Achbar Madschmua (11. Jh., in der Nationalbibliothek Paris), eine romanhafte Darstellung der Ereignisse um Musa und die Gotenkönige, wie sie sich mehr als 300 Jahre früher abgespielt haben sollen. Die etwas knappe Skizze ist weder durch gotische noch durch fremde Zeugnisse belegt.
Das ist ja alles längst bekannt und wird auch von García nicht verbessert. Es geht ihm um die Auswirkung der Zweifler, sowohl in religiöser als auch in politischer Hinsicht. Olagüe hatte sogar ökologische Faktoren, Dürren und Hungerzeiten, als Kräfte im Geschichtsablauf zur Sprache gebracht, ein mutiger Schritt. Und die Auswirkung der „Negierung“ reicht bis ins gesellschaftliche Leben Spaniens: Wenn die Geschichte anders verlaufen ist und die bekannten Gestalten ihre Realität verlieren, dann sind auch Pelayo und der Cid, die Nationalhelden Spaniens, verzichtbar. Das hatte die Frauenrechtlerin Victoria Sendón de León (1986/1993) dazu bewogen, Olagüe mit begeisterten Worten wieder ins öffentliche Gedächtnis zu rufen.
Auf der Gegenseite schrieb die Katalanin Dolors Bramon, Professorin an der Uni Barcelona, 2001 eine kurze Ablehnung Olagües, in der sie auf die Auswirkungen hinweist, die durch diesen „Unsinn“ den neuen islamischen Gemeinden Spaniens erwachsen könnten. Sie widerlegt kein Argument Olagües, lehnt ihn nur aus politisch-sozialen und religiösen Erwägungen ab.
Eben das ist das Hauptmotiv von Garcías Buch, und darum läßt der Fanatismus, mit dem Garcia gegen die „Verneiner“ vorgeht, den Leser an dessen wissenschaftlicher Integrität zweifeln, – das betont sein Fachkollege Kenneth Baxter Wolf in seiner Besprechung – da Garcia sich ausdrücklich an einen größeren Leserkreis als nur den der Fachwissenschaft wendet mit der Absicht, ein möglichst großes Publikum aufzuklären, zu belehren, vor den betrügerischen Machenschaften der Leugner zu bewahren. Das muß für sich genommen noch kein Makel sein, wenn nicht die infantile Ausdrucksweise und Irrationalität in diesem Falle die Lektüre zur Peinlichkeit geraten ließe.
Die Linie, auf der García vorgeht, ist dennoch nicht ungewöhnlich. Er hat sie schon im Untertitel vorgegeben: „Vom Katastrophismus zur Leugnung.“ Unter „Catastrofismo“ in der spanischen Geschichte versteht man den Verlust des katholisch-gotischen Spanien an die islamisch-arabischen Eroberer 711. Von dieser Vokabel möchte auch Garcia loskommen, mehr noch von den so stark ideologisch befrachteten Begriffen „Invasion“ (Eindringen, Besetzung durch die Araber) und „Reconquista“ (Wiedereroberung durch die Christen), also im Grunde sich den Vorteil einverleiben, den Olagües Aufklärung für das moderne Spanien bot, unter gleichzeitiger Verunglimpfung des Erfinders der Formel.
In neuerer Zeit hat Prof. Dr. Emilio González Ferrín, Leiter der philologischen Fakultät der Universität von Sevilla (siehe hier unter Mitarbeiter), Anregungen von Olagüe aufgegriffen und weiter ausgebaut: Historia general de Al Ándalus. Europa entre Oriente y Occidente (2006), und gerade dieses Buch muß es wohl gewesen sein, das García zu seinem 500seitigen Opus anstachelte, denn hier liege nicht das „erbärmlich unwissenschaftlich“ geschriebene Werk eines Laien sondern ein akademisch abgesichertes Machwerk eines Arabisten vor, der nichtsdestoweniger zu den „Betrügern und Leugnern“ der spanischen Geschichte zähle und vom akademischen Betrieb ausgeschlossen werden sollte (García S. 252 f), wie Baxter Wolf hervorhebt, dessen lesenswerte Buchbesprechung das Problem auch unter allgemeinen Gesichtspunkten abhandelt.
Für die Literatur verweise ich auf meinen ersten Aufsatz, hier die neuen Nachweise:
Baxter Wolf, Kenneth (2014): La conquista islámica. Negacionar el negacionismo. Revista de Libros, 9. 6. 2014 (internet)
Bramon, Dolors (2015): Dispatares sobre el Islam en España – Webislam.com
Ferrín, Emilio González (2006): Historia general de Al Ándalus. Europa entre Oriente y Occidente (Almuzara, Córdoba)
(2008): „Al-Andalus: Del mito asumido al Renacimiento“ ( hier im Lesesaal)
Gala, Antonio: Interview in El País, 13. Oktober 1988
García Sanjuán, Alejandro (2013): La conquista islámica de la península ibérica y la tergiversación del pasado (Marcial Pons, Madrid, 500 S.)
Guichard, Pierre (1974), «Les Arabes ont bien envahi l’Espagne. Les structures sociales de l’Espagne musulmane», Annales. Histoire, Sciences Sociales, vol. 29, núm. 6 (spanische Übers. Valencia 1987)
Illig, Heribert (1991): Die christliche Zeitrechnung ist zu lang (VFG 1-91, Gräfelfing)
Lüling, Günter (2006): Preußen von gestern und der Islam von morgen (Erlangen) – hier im Lesesaal
Olagüe, Ignacio (1950): La decadencia de España (4 Bde)
(1969) Les Arabes n’ont jamais envahi l’Espagne (Flammarion, Bordeaux)
(1974) La revolución islámica en occidente (Barcelona)
Sendón de León, Victoria (1986/1993) La España herética (Barcelona)
Topper, Ilya (1998): „La datación árabe en el Mediterráneo“ (hier, bes. Abschn. 2D) – http://revistas.uca.es/index.php/aam/article/viewFile/1011/866
Topper, Uwe (1998): „Ein neues Bild des mittelalterlichen Spanien“, in „Zeitensprünge“ (Mantis Verlag, Gräfelfing) Heft 3/98, S. 466 ff. – hier im Lesesaal