Abnahme der Erdschiefe
Teil 1
Die neue Erkenntnis
Vor zwei Jahren, 2016, erschien „Das Jahrkreuz. Sprünge im Verlauf der Zeit.“
Es gab freundliche und zustimmende Antworten, kaum eine harte Kritik, so als wäre in diesem Buch nur Altbekanntes oder Offensichtliches ausgedrückt worden.
Gewiß muß einiges erst einmal nachgeprüft, durchdacht oder diskutiert werden. Die Präzessionssprünge, auf denen das Buch mehr als meine vorigen Bücher den Brennpunkt legt, müssen verstanden sein, bevor sie sich Bahn brechen werden.
In einem wichtigen Punkt weiche ich von allen früheren Meinungen ab: die behauptete starke Änderung der Schiefe der Erdbahn durch Polsprünge lehne ich ab.
Die Schiefe der Erde zu ihrer Umlaufbahn, der Winkel Epsilon (ε), nimmt zur Zeit stetig ab; ob diese „Bewegung über lange Zeit gleichförmig ist, kann nur vermutet werden“, sage ich S. 126. Jedenfalls lehne ich die gewagten Spekulationen aller Vorgänger ab, daß durch einen „Polsprung“ die Erdschiefe drastisch verändert wurde. Früher bezog man sich gern auf das mythologische Modell (so etwa Anaxagoras und noch Herodot): In der Vorzeit stand die Erdachse senkrecht zu ihrer Bahn, es gab keine Jahreszeiten, ewiger Frühling herrschte in unseren Breiten. Dies hatte ich noch 1977 („Das Erde der Giganten“) übernommen. Im Abschnitt „Einspruch“ (Jahrkreuz 2016, S. 266) habe ich klargestellt, daß ich diese Vorstellung für die letzten überlieferten Polsprünge für falsch halte, gegen alle Katastrophisten der vergangenen Jahrhunderte wie auch gegen die heutigen.
Christoph Marx hat zeitlebens die häufig von Katastrophisten vertretene These beschrieben, die Schiefe habe vor dem letzten Ruck etwa 32° betragen, gegen rund 23° 30′ danach (wie heute). Er schloß das aus der Länge des Päzessionsgroßjahres, das bei Hipparch 36.000 Jahre betrug und heute mit 25.900 Jahren feststeht.
Darin liegt ein Denkfehler, sage ich in meinem „Jahrkreuz“ (S. 268):
„Die Ekliptikschiefe betrug bei Ptolemäus 23,9° oder rund 24°. Überträgt man diese Schiefe auf den ptolemäischen Vollkreis von 36.000 Jahren, dann gibt es nur eine Folgerung: Der Jahresumlauf der Erde (oder im alten Weltbild: der Sonne) muß damals rund fünf Minuten länger gedauert haben. Und genau diesen Wert hatte Hipparch aus der Verschiebung des Frühlingstages im Kalender (kallippisch mit 365 ¼ Tagen) errechnet: ein Tag in 300 Jahren. Ptolemäus hatte dies bestätigt.“
Die Annahme großer Sprünge der Ekliptikschiefe in geschichtlicher Zeit ist demnach falsch. Zur Gegenprobe nahm ich an dieser Stelle die arabisch-schreibenden Astronomen wie Al-Battani, die eine um zwei Minuten kürzere Jahreslänge gemessen hatten, während die Ekliptikschiefe geringfügig weiter abnahm. Zwischen den beiden Werten (Jahreslänge und Epsilon) besteht demnach keine direkte Abhängigkeit.
Folgerung: „Der von uns definierte Präzessionssprung führt nicht zu einer plötzlichen großen Änderung der Ekliptikschiefe, höchstens zu einer geringfügigen Aufrichtung der Erde um wenige Bogenminuten. Allgemein ändert sich Epsilon nur wenig im Verlauf von Jahrhunderten, unabhängig von der Präzessionsbewegung.“ (2016, S. 268).
Diese Folgerung ergab sich aus den überlieferten astronomischen Werten und steht im Einklang mit der heute beobachtbaren Situation (wobei ich auf das Lehrbuch von Julius Dick verweise). Im „Jahrkreuz“ habe ich diesen Befund mehrfach betont, schließlich im Abschnitt „Entwurf“ (2016, S. 444) noch einmal hervorgehoben.
In der Modellbeschreibung der Präzessionssprünge (2016, S. 147) sage ich klar:
„Die Stellung der Erdachse zu ihrer Umlaufbahn, die Ekliptikschiefe, ändert sich dabei nicht wesentlich, – minimale Schwankungen sind anzunehmen …“
Obgleich die tropische Jahreslänge manchmal sprungartig beträchtlich zu oder abgenommen hat, ist die Erdschiefe davon nicht betroffen worden, sondern hat sich in etwa gleichem Maße weiterhin verringert.
Das möchte ich nun etwas breiter ausführen, weil nämlich folgender Rückschluß immer noch durch die Datierungsmethoden der Archäoastronomen geistert:
Da „in den letzten 6.000 Jahren“ (wikipedia) die Schiefe der Ekliptik kontinuierlich abnahm, ist es recht einfach, das Alter eines Bauwerks (oder einer astronomischen Schrift) zu bestimmen, wenn in dem Zeugnis eine genaue Angabe über den damaligen Winkel Epsilon (ε) enthalten oder ablesbar ist. Man interpoliere von der heutigen Kurve der Epsilon-Variation rückwärts im Zeitlauf und erhält den Zeitabstand zu heute.
Teil 2
Das Meßproblem, am Beispiel für Breitengradangaben in der Antike
Beim Betrachten der klassischen Werte für die nördliche Breite vieler Städte der bewohnten Welt (Ökumene), etwa bei Ptolemäus (Geografike, „um 140 n.Chr.“) oder seinen Vorgängern, besonders Strabon und Plinius, auch Hipparch, läßt sich feststellen, daß die Angaben von unterschiedlicher Verläßlichkeit sind. Die allermeisten Werte sind errechnet, nicht vor Ort am Sonnenstand oder Sternhimmel gemessen, sondern berechnet nach der Tageslänge an Sommersonnenwende im Verhältnis zur Nacht, einfachheithalber im Viertelstundenabstand, was gerundete Werte ergibt. Bei Ptolemäus (Syntaxis) erscheinen die Breitenwerte im 5 Bogenminutenabstand.
Die wenigen überlieferten Beobachtungsgrößen[1] stimmen nach heutiger Ansicht recht gut, sie sind nur um 10 bis 20 Bogenminuten zu hoch, wenn man die Rückrechnungskurve anwendet. Daraus wird geschlossen (Peschel 1877, S. 43), daß dies ein systematischer Fehler sei, der dadurch erzeugt wird, daß man ja am Schattenstab die obere Sonnenkante abliest, nicht den Mittelpunkt der Sonne, was 16 Bogenminuten ausmacht (siehe Abb. 1). Die atmosphärische Brechung kann dieses Ergebnis nur um eine Bogenminute verstärken, da im Höchststand der Sonne gemessen wird; am Horizont wäre die Steigerung je nach vorherrschender Luftfeuchtigkeit beträchtlich.
Gegen die Behauptung des systematischen Fehlers bei der Ablesung durch die antiken Astronomen, die von allen neueren Kennern der Astronomiegeschichte anerkannt wird, habe ich einen Einwand: Man setzte deswegen absichtlich eine Kugel auf den Obelisk und darauf noch ein kleines Kreuz oder eine Spitze, damit dieser Fehler beim Ablesen vermieden werden kann. Auch der Blick durch einen Lochstein vermeidet den Fehler. Beides gibt es aus der Antike.
Die etwas „zu hohen“ Epsilonwerte der alten Geografen könnten berechtigt sein.
Zumindest diese Aussage bleibt bestehen: Eratosthenes maß einen größeren Winkel Epsilon als er, von heutigen Rückrechungen ausgehend, hätte messen sollen; er maß 23° 51′ 20“. Warum?
Zur Beantwortung der Frage gibt es drei Herangehensweisen[2]:
1) Warum irrte sich Eratosthenes?
2) Eratosthenes konnte sich nicht irren;
- a) sein Zeitabstand zu heute war größer als historisch behauptet, oder
- b) die heutigen Hochrechnungen der Epsilonkurve müssen falsch sein.
Es geht um die Verlagerung der Erdachse, die Verringerung von Epsilon, der Schiefe des Äquators der Erde zu ihrer Umlaufbahn. Diese Abnahme von Epsilon ist mittels einer modernen Formel im Verhältnis zum Zeitstrahl ablesbar und ergibt, daß die von den antiken Astronomen gemessenen Polhöhen viel zu hoch sind.
Wenn sie aber stimmen würden? Dann wäre die Abnahme der Erdschiefe „früher“ schneller vor sich gegangen, als wir das heute annehmen.
Das war mir schon vor Jahren als beste Erklärung erschienen, spielte aber für meine Präzessionssprünge keine Rolle, wie ich 2016 betonte: die Neigungsänderung ist zu gering, um eine merkliche Fehldatierung herauszuarbeiten.
Dagegen steht: Die von Archäoastronomen ernstgenommenen Werte an Megalithdenkmälern ergeben ein um Jahrtausende höheres Alter. Wegen der Ungenauigkeit beim Nachmessen hielt ich das für unzuverlässig. Zumindest ist Peschels Feststellung in diesem Punkt zu berücksichtigen.
Teil 3
Ergebnis
Die moderne Rückberechnungskurve stellt fest, daß die Schwankung der Ekliptikschiefe in einem Zeitraum von rund 40.000 Jahren zyklisch verläuft, d.h. daß sie in 40.000 Jahren wieder auf einen ähnlichen Wert zurückpendelt. Eine absteigende oder aufsteigende Kurve dauert also rund 20.000 Jahre. In einer Graphik (nach Laskar 1986[3]), die das Ergebnis der Hochrechnung von heute gemessenen Daten und dem berechneten Einfluß der Planeten unter Verwendung der Relativitätstheorie wiedergibt, kann man gut ablesen, daß die Schiefe in den letzten 8000 Jahren kontinuierlich abnahm, davor nahm sie zu. Um 6000 v. Ztr lag sie auf 24° 12′, das war der Höchstpunkt, um 3.000 v. Ztr. lag sie auf 24°. Da sie nicht abrupt umschlägt sondern etwa sinusförmig, sind Zu- und Abnahme an ihren Wendepunkten sehr schwach. Wir befinden uns nun in der Mitte der absteigenden Kurve, die von 4000 vor heute (BP) bis 3000 nach heute fast geradlinig verläuft. Sie wird noch einige tausend Jahre weiter abnehmen, bis auf 22°30′, dann allmählich wieder ansteigen.
Nach herkömmlicher Annahme wirkte Eratosthenes um 2200 vor heute. Entsprechend der modernen Kurve hätte er etwa 23°43′ messen müssen (rund 8′ weniger als der von ihm gemessene Wert 23° 51′ 20“). Wenn es geschichtlich nicht belegbare Leerzeiten gab, wird er näher an uns herangerückt. Bei Kürzung um ein Jahrtausend hätte er 23°36′ messen müssen, also 15′ weniger (ein Viertel Grad).
Vermutlich werden die Präzessionssprünge durchaus sehr kleine Schwankungen verursacht haben – wohlgemerkt: kleine. Die Jahreszeiten änderten sich nicht durch ein paar Bogenminuten Verringerung der Ekliptik, denn der Unterschied zwischen 24°5′ (=24 1/12)[4] und 23°50′ beträgt nur 15 Bogenminuten, das entspricht dem modern errechneten Unterschied zwischen heute und dem Römischen Reich. Präzessionssprünge und ähnliche Phänomene anderer Planeten, die auf Epsilon Einfluß haben, können Eratosthenes’ Meßergebnisse erklären: die Natur macht Sprünge, und die Ekliptik macht in diesem sehr geringen, für uns nicht weiter bedeutungsvollen Bereich, keine Ausnahme.
Die Frage war: Sind die heutigen Hochrechnungen falsch, weil sie eine zu große Regelmäßigkeit der Erdbewegung (und des Sonnensystems überhaupt) voraussetzen, oder sind sie falsch, weil der historische Zeitablauf nicht richtig eingeschätzt wurde, die richtig hochgerechneten Werte also auf andere (frühere) Punkte des Zeitstrahls zu liegen kommen?
Um Eratosthenes mit den hochgerechneten Werten in Einklang zu bringen, müßte er sehr viel länger vor heute gelebt haben, als angenommen wird. Eine Kürzung des Zeitstrahls (unsere These) würde ergeben, daß die dem Eratosthenes zugeschriebenen Werte in einer sehr weit zurückliegenden Vergangenheit gemessen wurden. Das würde auf jeden Fall unsere Geschichtsauffassung umwerfen.
Wenn wir das nicht annehmen wollen, ist der Fehler nicht im historischen Zeitstrahl sondern in der Annahme einer kontinuierlichen Bewegung der Himmelskörper zu suchen. Schon bei Kopernikus (also 500 BP) weicht Laskars Kurve leicht ab (sie ist da steiler). Kopernikus hat 23° 28′ , wogegen die Tabelle 23° 30′ 20“ angibt, über 2′ mehr. Laskar schert sich einen Dreck um historische Dokumente. Dagegen sage ich mit Kopernikus (2016, S. 205): Wer die historisch überlieferten chaotischen Änderungen (Sprünge etc.) im Ablauf des Kosmos nicht beachtet, erhält ein rein theoretisches Bild der Vergangenheit, ohne Anspruch auf Realität.
Es wäre denkbar, daß Epsilon beim Präzessionssprung ruckartig um wenige Bogenminuten abnahm und danach in etwa der heutigen Geschwindigkeit wieder weiter abnimmt. Die Kurve muß keineswegs steiler gewesen sein, sie muß nur unterbrochen worden sein. Man könnte bei Annahme einer gleichbleibenden, der heutigen entsprechenden Abnahmegeschwindigkeit (was eine willkürliche, aber mögliche Annahme ist) sogar grob ableiten, wieviele Bogenminuten sich Epsilon bei jedem der letzten Sprünge ungefähr änderte.
Literatur
Dick, Julius (1965): Grundtatsachen der sphärischen Astronomie (Leipzig)
Mžik, Hans von (1938): Theorie und Grundlagen der darstellenden Erdkunde (Geografike des Ptolemaios) unter Mitarbeit von Friedrich Hopfner (Gerold, Wien)
Peschel, O. (1877): Geschichte der Erdkunde, 2.Aufl. (München)
Ptolemäus – Manitius, Karl (1912-13): Des Claudius Ptolemäus Handbuch der Astronomie (Teubner, Leipzig, 2 Bde, deutsche Übersetzung a.d.Griech., Nachdruck 1963)
Vitruv (1908): Zehn Bücher über Architektur, übers. u. erl. von Dr. Franz Reber (Berlin; Wiesbaden 2004)
Uwe Topper unter Mitarbeit von Ilya Topper 4. 4. 2018
Anmerkungen
[1] Peschel 1877, S. 45:
Eratosthenes (bei Strabo) hat für Alexandria 30° 58′ (statt genau: 31° 11′) – 13′ höher
Hipparch hat für Rhodos 60 : 43 5/6 = 36° 8′ 7“ (statt 36° 25′) – 17′ höher
Pitheas hat für Marseille 42° 57′ (statt 43° 17′ 47“) – 20′ höher
Für den Ort Canopus wird angegeben: 31° 5′ (statt 31° 19′ 14“) – 14′ höher
Peschel will damit zeigen, daß die antiken Werte stets um rund 16′ zu tief liegen, weil eben der obere Sonnenrand abgelesen worden sei, d.h. daß die Sonnenmitte an Mittsommer niedriger liegt als der obere Rand des Schattens anzeigt (er bringt dazu eine Zeichnung, Peschel S. 44)
Vitruv, De architectura IX:
Rom 8:9 = 0,888 = 41° 35′ – der genaue Wert heute ist 41° 53′ 30“ (18′ höher)
Athen 3:4 = 0,75 = 36° 55′ – genau: 37° 59′ (64′ höher)
Rhodos 5:7 = 0,714 = 35° 32′ , genau 36° 11′ (39′ höher)
Tarent 9:11 = 0,82 = 39° 20′, genau 40° 24′ (64′ höher)
Alexandria 3:5 = 0,6 = 31° , genau 31° 12′ 20“ (12′ höher)
Dafür, daß die Brüche handlich klein sein müssen (nämlich geometrisch ausdrückbar), sind die Ergebnisse recht gut. Alle modernen Werte sind demnach höher (zwei sogar über 1°).
Wenn die geografische Breite Phi ( ɸ ) zu tief angegeben wird, ist (ε) höher gewesen.
[2] Es gäbe auch andere Antworten: etwa der Hinweis auf die Drift der Kontinente; oder eine tatsächliche Verschiebung des Pols (was ich in unserem kurzen Zeitraum ablehne), oder zufällig gleichgerichtete Rechenfehler (auch das gibt es!).
[3] Laskar (nach wikipedia engl.): „For the past 5 million years, Earth’s obliquity has varied between 22° 2′ 33″ and 24° 30′ 16″, with a mean period of 41,040 years. This cycle is a combination of precession and the largest term in the motion of the ecliptic. For the next 1 million years, the cycle will carry the obliquity between 22° 13′ 44″ and 24° 20′ 50″[NASA]“
„The Moon has a stabilizing effect on Earth’s obliquity. Frequency map analysis conducted in 1993 suggested that, in the absence of the Moon, the obliquity can change rapidly due to orbital resonances and chaotic behavior of the Solar System, reaching as high as 90° in as little as a few million years.“
[4] Der Wert des Winkels der Erdschiefe (ε) betrug zur Zeit des Eratosthenes, wie er selbst errechnet haben soll, die Hälfte von 11/83 des Vollkreises, das ist 23° 51′ 20“. Der Winkel des Wendekreises (beim Ort Syene), der für seine Berechnung der Erdgröße verwendet wurde, lag knapp über 24°, genau 24° 5′ (= 24 1/12). Die zweite Angabe wurde wahrscheinlich von Eratosthenes nicht selbst gemessen sondern übernommen und stammte aus älterer Zeit. Wann war das?
Wikipedia sagt weiter: „Schon im 5. Jahrhundert v. Chr. war Oinopides von Chios auf 24° gekommen“. Das verstehe ich, denn er lag zeitlich weit vor Eratosthenes, Epsilon also näher bei 24°.