Karl der Große und Harun ar-Rashid, Kulturaustausch zwischen zwei großen Herrschern?

Veröffentlicht in: Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart (VFG, heute ZS) 4-5/1992

1. – Die Gesandschaften Karls

Seit der Wiederentdeckung Kammeiers für die kritische Geschichtsforschung [vgl. Niemitz 1991, 92] und Illigs Überlegungen und Berechnungen zur gregorianischen Kalenderreform [Illig 1991a, 4] steht die Frage im Raum, wie und wann, aus welchen Gründen und in welchem Umfang das Mittelalter als Kuriositätenkabinett gestaltet wurde. Kammeier stellte noch keinerlei Querverbindungen zu Byzanz und zum Islam her; das hätte diesen Einzelkämpfer überfordert; aber eine Revision abendländischer Geschichte, die an Synchronismen zur Geschichte ihres Umfeldes vorbeigeht, beraubt sich wichtiger Ansatzpunkte zur Aufhellung der ganzen Angelegenheit.

Nun sind die orientalischen Quellen, von der Hedschra-Datierung 622 an “islamisch” genannt, noch immer großenteils unzureichend erschlossen oder nicht aus dem Arabischen übersetzt und daher ein Terrain, auf dem nicht nur der Laie leicht in Sackgassen endet. Illig hat [1992a] einen ersten Ansatz gemacht, Chronologieverkürzung und islamische Datierung zu verbinden, indem er das Entstehen des Islams in die Zeit vor 600 verweist; dabei scheint es ihm möglich, daß die Hedschra-Datierungen weiterhin gelten, aber sich nicht mehr auf 622, sondern auf ein früheres Jahr, etwa im 4. Jh. beziehen [ebd. 39f]. Nachdem Illig seine Annahme belegt hat, daß DER abendländische Kaiser eine Phantasiefigur ist [1992b], interessierte mich der angebliche Synchronismus mit DEM Kalifen von Bagdad 1). Im nachhinein stellt sich die Beschäftigung damit als tiefer Einstieg ins mittelalterliche Panoptikum dar und soll, der Arbeit von Michael Borgolte [1976] folgend, referiert werden. [Seitenzahlen ohne Namen beziehen sich im Folg. auf dieses Buch.] Zuvorderst läßt sich ganz klar feststellen, daß bis heute keine einzige griechische und arabische Quelle über diesen Austausch bekannt ist [15] 2). Um so erstaunter ist man, was aus diesem Mangel zu machen war.

Die Geschichte der Gesandtschaftsforschung
In seiner Geschichte der Forschung über die Gesandtschaften ist vermutlich der französische Historiker Pouqueville der Wahrheit am nächsten, als er 1833 die Nachrichten lateinischer Quellen zu diesem Thema für fabulös erklärt [3].1836 tritt ihm jedoch der Orientalist Reinaud mit der Behauptung entgegen, das Motiv für die Gesandtschaften seien wirtschaftliche Interessen gewesen; leider konnte er das aus orientalischen Quellen nicht belegen.

Um 1910 schlägt sich der Russe Barthold auf die Seite Pouquevilles: Es gäbe in den lateinischen Quellen keine überzeugenden politischen Gründe für die dort behaupteten Gesandtschaften; es fehle jeder Beweis, daß die dort erscheinenden “Sendboten” Beauftragte des Kalifen waren. Dagegen sprächen auch arabische Berichte über Gesandtschaften, die Harun nach Byzanz geschickt habe; dorthin sei unvergleichlich kostbarere Ausrüstung gegangen als in den Westen; die arabischen Quellen böten weder Hinweise auf Missionen ins Karolingerreich noch darauf, daß Harun von diesem überhaupt gewußt hätte.

1913 widerspricht der Byzantinist Vasiliev: Die fränkischen Quellen verdienten Vertrauen auch ohne entsprechende arabische Überlieferung, denn – hier staune der Leser über die ‘Kraft’ der Argumentation – ohne Billigung des Kalifen könne Karl gar nicht mit dem Patriarchen in Verbindung getreten sein. Dieser Beurteilung hat sich die Islamwissenschaft angeschlossen, indem sie die fehlenden schriftlichen Grundlagen ihres eigenen Fachgebietes überging. Damit ist die Diskussion um die fragwürdige Zuverlässigkeit der lateinischen Quellen eingeschlafen.

Parallel dazu gibt es eine Forschungsrichtung, die sich von dieser Diskussion nicht berühren läßt und allein abendländische Quellen strapaziert. Bereits 1739 ‘ermittelt’ der Franzose Barbeyrac: Durch einen Vertrag zwischen dem Kalifen, Karl und dem Patriarchen sei ganz Palästina in den Besitz der Franken übergegangen. Das von Kolonialpolitik geprägte 19. Jh. gelangt dann zu einer staatsrechtlich verfeinerten Vorstellung über Karls Position. Erstmals bei Couret entsteht die These vom fränkischen Protektorat über das Heilige Land. Vom Grafen Riant (1881) und von dem Byzantinisten Brehier (1907) werden detailliert die Rechte und Befugnisse des Frankenherrschers über Palästina entwickelt. Doch für all dieses fehlt jede Quellengrundlage.
1926 greifen dann der Deutsche Kleinclausz und der Amerikaner Joransson unabhängig voneinander die Protektoratsthese an: Die Geschenke des Kalifen seien Reliquien ohne politische Bedeutung. Harun habe Karl – laut Einhard – lediglich die Verfügungsgewalt über das Heilige Grab und den Ort der Auferstehung geschenkt. Joransson erklärt auch dies für erfunden, da im Commemoratorium von Jerusalem jeder Hinweis darauf fehle. Andere Forscher halten diese Quelle wiederum für nicht zuverlässig. Kleinclausz erörtert die Entstehung mittelalterlicher Legenden um Karls Herrschaft in Palästina.

Nach Überwindung der Protektoratsthese “erkennt” der amerikanische Orientalist Buckler, Karl sei in der Nachfolge seines Vaters Pippin der Emir von Spanien und Wali von Jerusalem gewesen. Er versucht aus den lateinischen Quellen den Vollzug persisch-muslimischer Herrschaftsinvestituren herauszulesen. Gestützt auf den poeta Saxo, der in der zweiten Hälfte des 9.Jhs. geschrieben worden ist, behauptet er, Karl habe unter anderem ein vom Kalifen selbst getragenes Kleidungsstück erhalten, in welches man 1104 die Überreste des Hl. Cuthbert eingehüllt fand. Diese Thesen wurden von der Islamwissenschaft allerdings nicht angenommen. Auch Joransson und der Deutsche Ganshof erklären sie für Unsinn, ebenso der Kunsthistoriker Rosenthal und der Mediävist O. Meyer. Mit Unterstützung des Byzantinisten Dölger wird jedoch Bucklers Thesen bis in die 50er Jahre in Deutschland große Aufmerksamkeit zuteil. Dies wirft beiläufig Licht auf den Umstand, daß die Byzantinisten mangels eigener zuverlässiger Quellen 3) den lateinischen Quellen eine besondere Glaubwürdigkeit zusprechen. Trotz der Zurückweisung von Bucklers Thesen wird als gesichert angenommen, daß schon die Karolinger politische Verträge mit den abbasidischen Kalifen geschlossen hätten [13].

In den 60er Jahren befreit der Mediävist Meyer die Diskussion aus ihrer Verkrampfung, indem er den Akzent auf die “historische Personenforschung” legt und zeigt, daß die Kontakte nicht etwa erst mit den Gesandtschaften begannen, sondern durch Pilger, Kaufleute und Mönchsgemeinschaften vorbereitet wurden. Im Vergleich mit den fränkischen Methoden bei der Ablösung der Langobardenherrschaft in Italien erschließt er ein ähnliches Vorgehen im Hl. Land. (Möglicherweise hat er damit jedoch nur gleiche Urheber der Quellen erschlossen.) Wie dort hätten fränkische Mönche und Nonnen durch den Eintritt in bestehende Konvente oder die Bildung neuer Klostergemeinschaften dem Karolinger einflußreiche Stellungen aufgebaut. Der Regelung dieser Angelegenheiten hätten auch die Gesandtschaften gedient.

Die einzelnen Gesandtschaften
Borgolte bemüht sich nach diesem historischen Rückblick redlich, die ‘tatsächlichen’ Aussagen der Quellen über die Gesandtschaften zu ermitteln, ohne diese jedoch grundsätzlich in Frage zu stellen. Mangels orientalischer Quellen ist immer nur das Datum der Absendung oder der Ankunft von Boten im Karolingerreich zu ‘erschließen’:

765 Pippin —————————-> Al-Mansur
768 Pippin <—————————- Al-Mansur
797 Karl —————- Patriarch —–> Harun
799 Karl <————– Patriarch
800 Karl ————–> Patriarch
800 Karl <————– Patriarch
801 Karl <———————————– Harun
802 Karl ————–> Patriarch ——> Harun
803 Karl <————– Patriarch
807 Karl <———————————– Harun
809 Karl <————– Patriarch
826 Ludwig <———- Patriarch (?)
830/40 Ludwig ——> Patriarch (?)
831 Ludwig <——————————– Kalif

Der Name ar-Rashid taucht in den fränkischen Quellen nicht explizit auf. Einhard spricht ein einziges Mal im Kap. 16 von “Aaron rege Persarum” (Harun, König der Perser). In den Reichsannalen wird er ebenfalls über den Titel “rex persarum”, König der Perser, erschlossen. Weitere ‘Erschließungshinweise’ sind die Titulaturen “Fürst der Gläubigen” und “Herr der Orientalen”.

765 / 768
Von der Gesandtschaft Pippins an al-Mansur bezeugt einzig und allein der Fortsetzer des sogenannten Fredegars die Ankunft der Gesandten des Kalifen im Jahre 768. Sie halten sich über einen Monat zum Osterfest in Metz auf. Borgolte bedauert hier “den unentwickelten Stand der karolingischen Geschichtsschreibung”, denn der Chronist überliefert uns weder den politischen Auftrag der Gesandtschaft noch die Anzahl und Namen der Sendboten des verballhornten Amormumi (Amir al mu-minin = Fürst der Gläubigen), dafür aber sehr sorgfältig die Reise der Muslime durch den fränkischen Machtbereich; insbesondere “zeigt [er] sich unfähig, die Begegnung an diesem Hochfest zu schildern” [45].

797 / 802
801 wird Karl, der in Pavia weilt, die Ankunft mohammedanischer Gesandter in Pisa berichtet. In den Reichsannalen tauchen diese nur auf, um das Schicksal der fränkischen Gesandten und die baldige Ankunft der Geschenke für Karl bekanntzugeben [53]. Genauen Aufschluß über den Reiseweg dieser Gesandten geben Berichte in den Miracula S. Genesii, die 822-838 auf Anordnung des Abtes Erlebald im Kloster Reichenau verfaßt wurden. Dort wird von der Translation zweier Heiliger berichtet, deren Leichname Graf Trebhard begehrte. Die Zeitangaben kollidieren leider mit denen der Reichsannalen; erstaunlicherweise wird den Miracula die größere Verläßlichkeit zugebilligt. Weitere Quellen als diese beiden gibt es über diese Gesandtschaft des Kalifen nicht.

Dagegen berichten gleich acht Quellen über das aufsehenerregende Geschenk eines Elefanten namens Abu l-Abbas (“Vater des Abbas” bzw. der Abbasiden). Es ist ein fürstliches Geschenk, denn es ist der “einzige” Elefant des Kalifen [Einhard 16]. Damit wird Harun eingereiht in die lange Reihe derer, die um die Gunst des großen Karls buhlen: vom schottischen König bis hin zum byzantinischen Kaiser. Haruns Geschenk hatte den Vorteil, daß es – nach Meinung der Forscher, nicht nach Quellenlage – den Namen der Abbasiden im Karolingerreich fast ein Jahrzehnt zur Geltung brachte [58]. 4)

799 und 800 tauschen Karl und der Patriarch von Jerusalem (heilige) Geschenke aus. Die Reichsannalen glänzen wieder einmal durch “gute Kunde und große Zurückhaltung” [62]. Ihre Andeutungen sind chronologisch in keiner Weise abgesichert, und die Hintergründe dieser Beziehung obliegen den wüsten konjunktivistischen Spekulationen der Karlsforscher. Die Gesandtschaft von 800 ist zwei Tage vor Weihnachten in Rom bezeugt, wobei der Name des Patriarchen nicht genannt wird. Die Rede von “vielen Geschenken”, wie besonders Schlüssel und Fahne, hat die Forschung nachhaltig beschäftigt. Keine Einigung ist im Falle des Schlüssels erzielt worden: Signalisierte er die Bitte um Schutz, die Verpflichtung zur Hütung des Hl. Grabes? Oder bedeutete er die Übergabe der Stadt oder die Verleihung der Königswürde? War er eine Reliquie oder eine Ehrenbezeugung?

Schon früher wurden Karl Schlüssel übereignet: Ende 799 übergab Azan, Präfekt des nordspanisch-arabischen Huesca, an Karl die Stadtschlüssel, und Leo III. sandte ihm 795 sofort nach seiner Papsterhebung die Schlüssel zur Confessio des Hl. Petrus, in die Partikel von der Kerkerkette des Apostelfürsten eingefügt zu werden pflegten” [Schiffers 8]. H.E. Meyer stellt fest, daß “Angebote von Schlüssel und Banner […] im MA immer einen herrschaftsübertragenden Symbolwert” haben. Die Geschenke gewinnen ihre mutmaßliche Bedeutung erst durch die “Umdeutung des fränkischen Hofhistoriographen” (gemeint ist Einhard), weil dieser sie als “Anerkennung der Rechte des schon Kaisergleichen über das Heilige Land” auffassen wollte. Durch die Überlieferung der Reichsannalisten sei der Akt von 800 “in der fränkischen und hochmittelalterlichen Herrscherideologie” wiederverwendbar geworden [sämtlich 74].

Verstehe ich diese verquere Argumentation richtig, so ist der in Andeutungen verbleibende Charakter der Reichsannalen das Unterfutter, auf dem der Einhard erst gedeihen konnte, und Meyer träfe die Wahrheit ziemlich genau, wenn er von einer spätmittelalterlichen Fälschung ausgehen würde. Von “vielen Geschenken” berichtet auch Regino von Prüm (892-899 Abt des gleichnamigen Klosters) in seiner ‘Weltchronik’. Ebenso nennt Notker Geschenke, die Karl dem Kalifen überbringen ließ. Einige gelten als “mit Sicherheit” erfunden, andere “gehen möglicherweise auf eine historisch richtige mündliche Tradition oder eine uns verlorene schriftliche Quelle zurück”. Es sind dabei nämlich (!) einige “nicht ganz unglaubwürdige Gaben” [sämtlich 79].

802 / 807
Die zweite Gesandtschaft Karls ins Abassidenreich kam wahrscheinlich 806 mit Gaben des Kalifen im Hafen von Treviso an. Die Reichsannalen überliefern uns diesmal zwar die Namen der Boten, nicht aber ihre Aufgaben. Einhard gibt “unscharfe Formulierungen”, die “Zweifel über den Wert seines Zeugnisses geweckt haben. Da aber auch moderner Forschung nichts Präziseres gelungen ist [bzgl. Karls Rolle im Hl. Land], entzog sich wohl schon im MA der Sachverhalt einer einfachen Begriffsbildung” [82; Hervorhebung dieser phantastischen Logik: A.M.].

Für 803 berichten die Reichsannalen von der Rückkehr der kaiserlichen Gesandten aus Konstantinopel, wo sie die Friedensinitiative der Kaiserin Irene, einer Chasarenprinzessin bestätigen sollten. Die Forschung nimmt angesichts der politischen Lage an, daß im Jahre 807 tatsächlich eine gemeinsame Gesandtschaft des Perserkönigs und des Patriarchen bei Karl eintreffen konnte. Ihre Geschenke werden detailliert beschrieben, insbesondere die berühmte Wasseruhr, von der nichts mehr da ist, sowie Splitter vom Hl. Kreuz, die in der Reliquiengeschichte ein interessantes Dasein führen [88]. Zentrales Anliegen der Überlieferung bleiben also immer neue Geschenke und immer neues Buhlen um die Freundschaft des Karolingers, sowie deutliche Seitenhiebe gegen Byzanz, die Borgolte zu der Aussage führen: “Vor Karl, dem Kaiser des Westens, bekundete ein Gesandter des Kalifen von Bagdad neue Achtung seines Herrn für das Oberhaupt der Christen im Heiligen Land, während der Kaiser des Ostens zu solcher Vermittlung nicht in der Lage war” [89].

Da diese Fälschungen ja nur wirksam werden konnten, wenn sie ein gewisses Maß an Öffentlichkeit erlangten, darf man annehmen, daß Byzanz solchen Angriffen nicht tatenlos zugeschaut, sondern seinerseits zur ‘Feder’ gegriffen hätte. Oder die Fälschungen wurden erst gemacht, als das byzantinische Reich schwer geschlagen (1204) oder definitiv untergegangen war (1453), von dieser Seite also kein Widerspruch mehr zu befürchten war. Alle drei Möglichkeiten sind in Illigs Hypothese [1991b, 89] enthalten, daß die Fälschungen unter Otto III. begannen, aber bis zu Friedrich II. (gest. 1250) und vielleicht noch länger fortgesetzt worden sind. Insgesamt wird über die byzantinischen Quellen im Zusammenhang mit persischer Geschichte und islamischen Quellen und in Bezug aufs christliche Abendland noch zu reden sein.

Karls angebliches Wirken in Palästina
Friedrich Barbarossa lag bekanntlich sehr an der Heiligsprechung Karls, die 1165 in Aachen vorgenommen wurde [Illig 1992, 113]. Für die Anerkennung dieser nicht den kirchlichen Bestimmungen entsprechenden Kanonisation ließ sich der ‘Rotbart’ einiges einfallen, z.B. die als solche erwiesene Legende, Leo III. habe am 6.1.805 am Dreikönigstag die Aachener Pfalzkapelle geweiht [Schiffers 16]. Übrigens scheint auch Leo unaufhörlich um Karls Gunst geworben zu haben; im Jahre 804 besucht er ihn unangemeldet und ganz überraschend, um mit ihm das Weihnachtsfest zu feiern, “an welchem Ort es Karl beliebe” [ebd]. Immerhin werden die Nachrichten über fast unzählige deutsche Kirchweihen durch Leo III. von einigen Forschern als ungeschichtlich zurückgewiesen [ebd. 17, Anm. 37]. Diese Aussage auf diesen Papst selbst auszudehnen, ist wohl an der Zeit.

Gemäß Einhard hat Karl mit überseeischen Herrschern Missionen ausgetauscht, um den dort lebenden Christen zu helfen, besonders durch Almosen und Spenden zur Wiederherstellung der Kirchen. Zumindest nach den Quellen angeblich christlicher Bischöfe war Schutz für die Christenheit in Palästina auch nötig, denn ihnen zufolge wurden sie besonders in Jerusalem heftig von Muslimen verfolgt, während in Karls Reich z.B. die Juden nie verfolgt wurden und ihr Erwerbsleben ungestört entfalten konnten (Die frühesten authentischen Dokumente der Juden in Europa datieren jedoch nicht vor dem 10. Jh) Obwohl die meisten Forscher darauf bestehen, Karl habe sich stets im Einklang mit dem muslimischen Recht verhalten, wonach zwar die Gotteshäuser erhalten bleiben, aber keine neuen gebaut werden durften, gehen sie doch nicht so weit, jene Quellen in Zweifel zu ziehen, die das Gegenteil aussagen und damit zuverlässig für Unklarheit sorgen.

So sei der bretonische Mönch Bernhardt, der vor 869 eine Pilgerschaft nach Palästina unternahm, dort in einem Kloster für Pilger lateinischer Sprache eingekehrt, das den Namen Karls des Großen trug [Itinerarium Bernhard Monachi, cap. X, 314]. Stärker kommt es noch im Kommentar des Corveyer Mönch Christian v. Stablo zum Matthäus-Evangelium des sogenannten Druthmar (um 865), wonach Karl auf dem Blutacker Besitz gehabt und darauf eine Herberge unterhalten habe. Die Forscher bleiben bewundernswert ernst und vermerken lapidar: “Von einer Bautätigkeit Karls ist wiederum nicht die Rede”, aber möglicherweise ist die von Druthmar gemeinte Herberge mit jener der Kirche St. Maria identisch? [96]

Einer der Hinweise auf ungeheure Bautätigkeit und Machtfülle, die Karl d. Gr. angeblich im Orient entfaltet habe, kommt aus einer byzantinischen Quelle: Im Jahre 951 erstellt Konstantin VII. eine Art Fürstenspiegel, angeblich um seine und seines Sohnes Herrschaft zu legitimieren [96]. Sein Sohn Romanos hatte Bertha, die Tochter von Hugo von Arles, geheiratet, der eine Abstammung von Karl d. Gr. für sich reklamierte. In Kap. 26 dieses Fürstenspiegels wird Karl als Bauherr “einer sehr großen Anzahl von Klöstern” in Palästina erwähnt. Wiederum stellt der mediävistische Kommentar ganz sachlich fest, daß es “keinen eindeutigen Hinweis [gebe], daß Karl gegen die Rechtsauffassung der Muslime verstoßen hat” [97].

Nachdem nun eigentlich überhaupt Belege für lateinische Mönche am Ölberg fehlen, wurde aber immerhin durch einen Brief an Papst Leo III. dafür gesorgt, daß die Nachwelt an sie glaubt. In diesem Brief bitten lateinisch sprechende Mönche um Hilfe gegen griechische Mönche des Sabasklosters (einige von ihnen waren bei der ersten Gesandtschaft dabei), mit denen sie eine dogmatische Auseinandersetzung hätten. Sie hätten sich dabei auf zwei Bücher gestützt, die Geschenke von Karl seien, nämlich die Homilien des Hl. Gregor und die Regeln des Hl. Benedikt. (Die Benediktiner sind eines gesonderten Textes würdig; ich nehme an, daß sie nicht vor 1000 die Bühne der Geschichte betreten, aber dann sogar Regie führen 5).) Die griechischen hätten die lateinischen Mönche “Franken” geschimpft und sie wie auch den apostolischen Stuhl zu Rom häretisch genannt, worauf diese die griechischen Mönche mit dem Anathema belegt hätten. Dieser Brief veranlaßte theologische Gutachten und das Aachener Konzil vom November 809 und ging schließlich in die Geschichte ein als Beginn des “Filioque”-Streits von Jerusalem (Anhang 2). Auffällig sei – so die Quellen – mit welcher Planmäßigkeit Karl die fränkische Auffassung zum Filioque-Problem durchzusetzen sucht.

809 / 826
Zur Gesandtschaft des Jerusalemer Patriarchen an Karl (809) gibt es wieder nur eine einzige Quelle: Einen undatierten Brief Leos III., in dem der Papst vom besagten Ölberg-Mönch-Brief desselben Jahres berichtet und diesen sowie einen Brief des Patriarchen an Karl schickt. Nach Karls und Haruns Tod war die Not der nun schutzlosen Christen angeblich groß; sie emigrieren nach Cypern und Konstantinopel, bis al-Mamun regiert. Lesen wir hier nicht ‘römische Christen’, sondern zum Beispiel Judenchristen, dann kommt dies der Wahrheit vielleicht sogar recht nahe, denn Judenchristen dürften sich unter muslimischer Herrschaft sicherer gefühlt haben, bzw. der Islam selbst enthält viele judenchristliche Elemente. Die Quellen werden aber nach Karls Tod spärlich, als hätten die Schreiberlinge gewußt, daß mit der Niederschrift von Karls Leben ihre Aufgabe getan war und danach nichts vergleichbar Lohnendes mehr kommen brauchte.

Ein anonymer Biograph Ludwigs des Frommen bezeugt für 826 den Besuch des Abtes Dominicus vom Ölbergkloster im Frankenreich. Von einer undatierten Gesandtschaft Ludwigs nach Jerusalem erfahren wir um 850 aus dem ersten Buch der Miracula Sancta Benedicti des Adrevald, Mönch von Fleury, in dem die Wunder “locker in ein historisches Gerüst” eingefügt sind, aber von der Gesandtschaft “nur an entlegener Stelle und mit spärlichen Informationen” berichtet wird [123].

831 und später
Für 831 wird eine Gesandtschaft des Kalifen al-Mamun erwähnt, der angeblich 821 ein taktisches Bündnis mit den Christen seines Reiches gegen Byzanz eingegangen war und die Revolte des Thomas unterstützte. Eine griechische Quelle des Jahres 6344 byzant. Ära, umgerechnet als 836 n.Chr., bezeugt drei Patriarchen auf der Synode in Jerusalem, die einen Brief an den bilderfeindlichen Kaiser Theophilus verfassen. (Dies mag als Hinweis dienen, daß die Aufklärung der sogenannten Bilderstürme noch aussteht.) Die dritte und fünfte Mission des Patriarchen werden in den Reichsannalen gar nicht erwähnt. Und zu guter Letzt bleibt festzustellen, daß nichts in den Quellen darauf schließen läßt, daß irgendeiner der abendländischen Herren damals im Orient gewesen ist.

Weitere Kuriositäten, die noch der Aufklärung bedürfen
Harun ar-Rashid: Eine Gestalt wie aus “Tausend-und-einer-Nacht”, und tatsächlich dient diese Geschichtensammlung als Quelle unter anderem für ihn und seine Zeit. Zu fragen ist also: Ist er eine fiktive Gestalt oder ist er ein durch abendländische Zeitverkürzung an die ‘falsche’ Stelle gerutschter realer Herrscher, um den sich dann Legenden gerankt haben? Bei bleibender Länge islamischer Hedschra-Rechnung, aber um rund 300 Jahre gekürzter christlicher Zeitrechnung müßten wir das Vorbild Haruns in der Zeit Theoderichs suchen. Da wir aber nicht wissen, wann die Fälschungen produziert wurden und wie ihre Synchronismen zustande kamen, könnte sich in der Gestalt des Harun auch ein persischer Herrscher verbergen – oder eine Märchenfigur. In jedem Fall aber ist er für die Zeit, für die er stehen soll, fiktiv, und chronologiekritische Forschungen zu seiner Person und dem Geschlecht der Abbasiden stehen noch aus. 6)

2.-Anhang: Fürstenspiegel

Als Fürstenspiegel gilt “ein geschlossenes Werk, [das] mit dem Zweck der grundsätzlichen Wissensvermittlung oder Ermahnung möglichst vollständig das rechte Verhalten des Herrschers im Blick auf seine besondere Stellung erörtert, […] dabei liegt meist eine persönliche Beziehung zum Herrscher zugrunde” [Blum 31; seinem Buch wird hier gefolgt].

Christlich inspirierte Fürstenspiegel gibt es erst ab dem 4.Jh., seit dem (angeblichen) Entstehen des Staatschristentums. Die vorausgehenden hellenistischen Schriften dienen aber weiterhin als Vorbild, wie überhaupt die Ratschläge sämtlicher F. wörtlich oder sinngemäß bis ins 15. Jh. überall ziemlich dieselben sind. “Die eigentlich große Zeit der abendländischen Fürstenspiegel […] ist das karolingische, das 9. Jahrhundert” [ebd.11]. Während jedoch die Tradition der byzantinischen Fürstenspiegel vom 6. bis 14. Jh. nahezu ungebrochen dieselbe ist (wobei unerwähnt bleibt, dass vom 5.-9.Jh. nichts Nennenswertes existiert), führt “keine Brücke von der Fürstenspiegelliteratur der karolingischen Zeit zu jener des 12. und 13. Jahrhunderts [ebd.10, Anm. 35]. Dieser angedeutete Bruch “ist für Byzanz nicht festzustellen, da hier das philosophische und theologische Denken nichts anderes ist als die bis ins 15. Jahrhundert fortlebende Spätantike” [ebd]. Wir haben aber nicht nur diese byzantinische Bewahrung der Antike, sondern auch eine “gallische Bewahrung” derselben in den Zeiten der Merowinger. So wirkt gegen Ende des 6. Jh. z.B. in Toulouse eine Rhetoren- und Grammatikerschule, deren Mitglieder sich zum Zeichen ihrer römischen Bildung die Namen der Klassiker beilegten, ein Gebrauch, der noch einmal am Hofe Karls d. Gr. auftaucht [vgl. Buzas 4] – und dann wieder bei den Humanisten.

In den Fürstenspiegeln zeigt sich die ‘karolingische Aufbewahrung’ der Antike durch “ständige Anlehnung an hellenistische Lehre” [Blum 13] und führt den Autor bzgl. des Fürstenspiegels von Aegidius Romanum zu der Verwunderung, es sei “heute unbegreiflich, wie dieser Fürstenspiegel, eine bloße Paraphrase der aristotelischen Politik, fast ohne eigene Ideen, eines der erfolgreichsten Bücher des späten Mittelalters werden könnte” [ebd.14, Anm. 49]. Die Fürstenspiegel-Literatur der Karolingerzeit endet 831 – etwa um dieselbe Zeit, zu der auch Berichte über karolingische Gesandtschaften aufhören.

Im 9. Jh. stellt Bischof Jonas von Orléans im F. den Vertreter des Sacerdotiums über den des Imperiums, und er stellt seinem F. einen Laienspiegel an die Seite, was im byzantinischen Bereich nur im 14. Jh. bei Thomas Magister nachgewiesen werden kann [ebd. 11f]. Der erste Fürstenspiegel aus byzantinischer Zeit stammt von Synesios von Kyrene (399) und ist eine Rede für Kaiser Arkadios. Der Fürstenspiegel des Agapetos für Kaiser Justinian wird im 16. Jh. ins Lateinische und Deutsche übertragen und war im deutschen Sprachraum sehr beliebt. Die meisten byzantinischen Fürstenspiegel entstehen nach 1000. Mit Machiavelli endigt 1513 die Fürstenspiegel-Literatur.

Das später so benannte Werk ‘De administrando imperio’ von Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos hat von ihm ausdrücklich die Widmung “an meinen Sohn Romanus” bekommen. Es enthält konkrete Ratschläge an den Sohn und stellt Länder und Völker dar, um Möglichkeiten zu erörtern, wie man sich der von ihnen drohenden Gefahren erwehren kann. Insofern gilt es nicht als “echter Fürstenspiegel” [ebd. 58]

Nach diesem lexikalischen Exkurs gibt die Fürstenspiegel-Literatur insgesamt Anlaß zu Fragen nach ihrer Echtheit. Die ‘doppelte Bewahrung’ der Antike wie auch deren angebliches, ungebrochenes Fortleben in Byzanz über fast 1200 Jahre bedürfen im Zuge der Chronologiekritik noch einiger Aufhellung. Denn selbst wenn wir die karolingische Bewahrung als interpolierte Verdoppelung betrachten, bleibt die “gallische Bewahrung” der Antike, die z.B. dann nicht mehr rätselhaft ist, wenn man sie durch Streichung weiterer 2 bis 3 Jahrhunderte zur römischen Antike selbst erklärt. Es sei hier also vermutet, daß diese “Bewahrungen der Antike” schlicht deren bruchlose Fortsetzung sind, die Antike uns also wesentlich näher ist als bisher angenommen. (Die These einer notwendigen Kürzung von 300 Jahren ist also ein erstes Handwerkszeug, mit dem plausiblere Ergebnisse in der Geschichsbetrachtung erzielt werden, aber keineswegs der Weisheit letzter Schluss).

Fragen wir uns, wie Karl in diesen Fürstenspiegel Konstantins VII. (26. Kapitel), den Illig als einen mittelalterlichen Hauptfälscher vorstellt, hinein kommt, so wurden im Laufe der Zeit verschiedene Erklärungsmöglichkeiten entwickelt, begründet und verworfen, die im Einzelnen in den Zeitensprüngen und den Büchern nachzulesen sind. 7)

3. – Anhang: Filioque

Zunächst die offizielle Lehrmeinung, gemäß dem zitierten Lexikon für Theologie und Kirche, Stichworte Filioque, Heiliger Geist:
In Spanien wurde um 589 angeordnet, das Symbolon über den Heiligen Geist sei mit dem Zusatz ‘Filioque’ in der Messe vor dem Paternoster zu rezitieren. Dieses Filioque (“und vom Sohne”) sagt aus, daß der Hl. Geist nicht nur vom Vater, sondern auch vom Sohne ausgehe. Von Spanien gelangt diese neue Form des Symbolons nach Gallien (bezeugt durch die Synode von Gentilly 787). Karl d. Gr. ließ es in Aachen nach dem Evangelium beten, “ein wahrscheinlich durch Iren, Angelsachsen und Alkuin aus dem Osten mitgebrachter Brauch”. Aus dem “Osten”? 807 gab es die oben genannte Kontroverse zwischen lateinischen und griechischen Mönchen in Jerusalem. Für die Griechen bedeutet der F.-Zusatz den Ausgang aus einem letzten Prinzip und eine “Verdoppelung des Urquells der Gottheit”, (also das endgültige Verlassen des Monotheismus bzw. der Idee der Abhängigkeit aller Dinge vom Absoluten / A.M.).

Leo III. billigte die Lehre des F., mißbilligte die Einführung ins Symbolon und ließ zwei Platten mit dem Symbolon ohne Filioque in griechischer und lateinischer Sprache in St. Peter vor der Confessio aufstellen. Unbekannt ist, wann das Symbolon mit dem Zusatz Filioque in Rom eingeführt wurde, vermutet wird: auf Bitten Kaiser Heinrichs II. durch Benedikt VIII. (1012-1024). Vielerorts wurde noch lange das Filioque ausgelassen, in Paris z.B. bis 1240. Für die östlichen Patriarchen war die Filioque-Einfügung der Hauptangriffspunkt gegen Rom (867) und gilt bei ihnen seither als Ursache des Schismas. 1054 griff deswegen Michael Kerullarios Rom an. Der Streit hielt bis ins 16. Jh. heftig an und ist bis heute nicht beigelegt.

Diesem Lexikonauszug ist anzufügen, daß der Hl. Geist – die ruah Gottes – eine dem Urchristentum durchaus vertraute Vorstellung ist, und daß auch einige schiitische Richtungen die Lehre vom Hl. Geist pflegen. Vereinfacht gesagt, geht dieser vom Propheten über Ali in den jeweiligen Imam ein und lebt in ihm weiter [Ess 35ff]. Die frühchristliche Idee, daß der Geist Gottes durch Christus zu den Menschen kommt, ist also von der schiitischen, wonach er durch den Propheten herabgelangt, nicht deutlich unterscheidbar. Der definitive Unterschied beider zum römischen Christentum kommt erst durch das Dogma der Wesensgleichheit von Vater, Sohn und Hl. Geist hinein.

Wir haben also eine widersprüchliche Herkunft des F. aus “Spanien” und dem “Osten”, den starken Einsatz des fiktiven Karl für das Filioque und das Sowohl-als-auch-Gebaren eines von ‘Ungeschichtlichkeit’ umgebenen Papstes. Daran knüpfe ich folgende Überlegungen:
Der Streit über das Verhältnis von Gott zu Geist und von Geist zu Propheten/Menschen ist älter als die Formulierung des trinitarischen Dogmas. Wenn sich dieser Streit erst kurz vor 1000 (nämlich Ende des 6.Jh.) trinitarisch zuspitzte, so wäre bei einer Verkürzung 600//900 der sogenannte Filioque-Streit von Jerusalem (809) identisch mit jenem oben erwähnten Angriff des M. Kerullarios (1054).

Selbst wenn wir auf die Weise die Zeit vom 11. zum 6. Jh. überbrückt haben, bleibt die Zeit bis zum konstantinischen Edikt der Gottessohnschaft. Wir haben also historisch eine Diskrepanz vom 4. Jh. zum 11. Jh., die einer Erklärung bedarf (welche sich vermutlich erst über eine radikale Kritik der frühen Kirchengeschichte finden wird). Auf jeden Fall betrachte ich das Dogma der ‘trinitarischen Wesensgleichheit’ wie auch den angeblichen Beginn derselben durch den von Konstantin eingeführten Homousie-Begriff als späteren, zurückdatierten ‘Problemlösungsversuch’. Ein solcher könnte im 12./13. Jh., aber ebensogut erst im 16. Jh. erfolgt sein; hier bleibt erheblicher Forschungsbedarf. Einfach wird die Sache auf keinen Fall, denn wir haben es nicht nur mit teilweise bereits bekannten gezielten Fälschungsaktionen (wie in Byzanz) zu tun, sondern offensichtlich ebenso mit verschiedenen ineinander greifenden Fälschungsaktionen von Herrscherhäusern und Klerus der unterschiedlichen (vor allem christlichen) Reigionen. Das böte immerhin einen gewissen Erklärungswert für die oft so verwirrend wechselnden ‘Interessenlagen’ der schriftlichen Quellen.


Fußnoten

1) Harun ar-Rashid (“Aaron, der Rechtgeleitete”) soll von 768-809 abbasidischer Kalif gewesen sein. Zurück zum Text
2) Dies wird 1983 (engl. 1992) bestätigt von Moshe GIL in seiner History of Palestine 634-1099. Eine Beziehung zwischen Karl und den Abbasiden “wird in orientalischen Quellen in keiner Weise erwähnt, und man ist versucht zu fragen, in welchem Ausmaß die westlichen Quellen an Ereignisse glauben oder ob sie nicht die Neigung haben, zu übertreiben. / Die Berichte über die Beziehung zwischen Charlemagne und Harun al-Rashid nehmen allmählich die Ausmaße eines Mythos an. / Dieser Mythos entwickelte sich lange Zeit nach den Kreuzzügen, im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, und erwuchs aus der Neigung, in Charlemagne den ersten der Kreuzfahrer zu sehen.” [GIL 1992, 285/287/288] zitiert nach HEINSOHN: Jüdisches Leben im frühmittelalterlichen Palästina [ZS 3-99, 369] (Übers. A.M.)
(Engl.) “is not mentioned in eastern sources at all and one is attempted to ask to what extent the western sources are faithful to events or whether they were not inclined to exaggerate. / The reports on the connections between Chrlemagne and Harun al-Rashid gradually assumed the proportions of a myth. / This myth developed a long time after the Crusaders’ campaigns, in the fifteenth and sixteenth centuries, and grew qut of an inclination tio view Charlemagne as the first of the Crusaders” [GIL 1992, 285/287/288] zitiert nach HEINSOHN: Jüdisches Leben im frühmittelalterlichen Palästina [ZS 3-99, 369]. Zurück zum Text
3) Es ist bekannt, dass unter Konstantin VII. Porphyregennetos die Literatur seines Reiches eingesammelt, umgeschrieben, und unerwünschte Originale vernichtet wurden. Ausführlich darüber ILLIG, Vom Erzfälscher
Konstantin VII. Eine “beglaubigte” Fälschungsaktion und ihre Folgen [VFG 4-5/ 92, 132-139]. Zu weiteren Folgen: Hans-Ulrich NIEMITZ, Byzantinistik und Phantomzeit [VFG 1/ 94, 56-75]. Zurück zum Text
4) Dass dieser Elefant seine historische Vorlage vermutlich erst in jenem hat, den Friedrich II. vom Sultan Malik al-Kamil von Babylon und Ägypten geschenkt bekam anläßlich des Vertrages über die Abtretung Jerusalems im Jahre 1229, zeigt HEINSOHN: Kaiserelefanten des deutschen Mittelalters – Karl der Große und Friedrich II. von Staufen. In: ZS 2/2000, 228-233. Zurück zum Text
5) Diese Voraussage erwies sich als zutreffend: Die Kirche selbst bezweifelte inzwischen die Realexistenz des
Heiligen. Der Ursprung der Regula benedicti könnte eher in Irland als Italien liegen und nicht vor dem 10.Jh.. Dazu ILLIG: Das Ende des Hl. Benedikt? Der andere ‚Vater des Abendlandes’ wird auch fiktiv. In: VFG 2/ 93, 23-28. Damit werden freilich die Homilien des Hl. Gregor (der Große, 590-604) und dieser selbst fragwürdig, denn einzig durch ihn kennen wir Benedikt. Eine Quelle, die sich auf beides bezieht, bzw. beides schon kennt, kann nicht älter sein! Zurück zum Text
6) Paul C MARTIN gelangt in seinem Aufsatz: Können Münzen Karl den Großen retten? in: ZS 1-2000, 88-112, zwangsläufig zu jenen wenigen Münzen, die Harun al-Rashid zugeschrieben werden und zeigt, dass sie zwar arabische Schrift tragen, teilweise Datierungen (in AH und AD) doch niemals den Namen Haruns. Sein Facit: “Da auch die Geschichte umgeht, ´daß der Kaiser seine Kanzlei nach syrischem Vorbild organisiert habe` [Gardthausen 1966, 158], aber von Beziehungen zwischen Aleppo und Aachen außer im Märchen von Harun ar-Rashid bisher noch keine Rede war, müssen wir uns doch fragen, ob eine Beziehung zwischen muslimischer und christlicher Welt vor Theophano und vor allem vor den Kreuzzügen (Syrien war bekanntlich ein wichtiger Kreuzritter-Staat) ernsthaft in Betracht gezogen werden kann. […] Damit hätten wir für die Datierung der Entstehung […] der Urkunden und Münzen den entscheidenden Hinweis: Es muss sich um das 10.Jh. gehandelt haben (wenn man der Theophano-These anhängt) oder um das 12./13.Jh. (wenn man den Einfluss der Kreuzfahrer im Auge hat). Ich neige im Augenblick eher der zweiten Deutung zu”. WEISGERBER [438] stellt dar, dass als selbstverständlich vorausgesetzt wird, “dass alle frühislamischen [abasidischen] Münzen nach der Hidschra-Zeitrechnung datiert sind, obwohl keine einzige Jahreszahl, die auf den Münzen angegeben ist, sich konkret auf die Hidschra bezieht.” Die “Gewissheit, dass es sich um frühe Prägungen der arabischen Kalifen handelt [nimmt man daher] weil diese Münzen arabische Inschriften und zweistellige Jahreszahlen tragen, die als Hidschra-Daten gedeutet werden!” [Zur islamischen Phantomzeit. Islamica I. in:ZS 3-2000, 419-448]. Zurück zum Text
7) Das Problem besteht darin, dass man sozusagen nicht im ‚chronologiefreien’ Raum argumentieren kann;
Chronologiekritiker müssen vorhandenes Material (!) kritisch in Beziehung setzen und kommen dabei zu
unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, wie die existierenden Dokumente im Ergebnis eingeschätzt werden (alles wahr und richtig / zeitlich korrekt, aber erfundener Inhalt / wahrer Inhalt absichtlich in eine falsche Zeit gebracht / der ganze Text ein Produkt späterer Zeit, nicht Fälschung sondern Roman …usw.). Zurück zum Text

Abspann:
Vermutlich hatte dieser Artikel 1992 noch keine Auswirkungen auf Prof. Borgolte. Doch sieben Jahre später war die Bedeutung der geschichtskritischen Auseinandersetzung soweit bei ihm angekommen, daß er in zwar noch immer alter vertrauter Weise ein Seminar zur Thematik veranstaltete, jedoch im Berliner Tagesspiegel vom 29.6.99 einen Artikel veröffentlichte, in dem seine Meinung zur Chronologieverkürzungsthese bereits im Titel deutlich wurde: “Eine pseudoreligiöse Gemeinde” mit “Sektencharakter”. Er tut darin kund, dass er weiter auf die Echtheit von Urkunden setzt (“zeugniskritische Methodik”) – allen Erkenntnissen seines eigenen Buches zum Trotz, und weil sich dieser Standpunkt eben als “wissenschaftliche Sichtweise” durchgesetzt hat. Sein Credo lautet: Solange die Welt grundsätzlich nicht erklärbar ist, brauchen es auch die Fälschungen und Rätsel ums Mittelalter nicht zu sein. Die Rätsel sind ihm natürlich vertraut, aber er möchte sie gern ungelöst stehen lassen – als ob ihn die Steuerzahler für Rätselbewahren und nicht fürs Rätsellösen finanzieren. Er möchte gern (Ver-)Schweigen breiten über die ganze Sache. Vielleicht möchte er verhindern, dass diese verruchten Thesen noch weiter in die Köpfe der Jugend eindringen? War doch gerade im März 1999 auf dem Mediävistenkongress gewarnt worden: Die Jugend wird das nie wieder aus ihren Köpfen herausbekommen, wenn sie es erstmal verinnerlicht hat. Drum solle man den Anfängen wehren. Hat Prof. Borgolte sich das zu Herzen genommen, aus Furcht, eines Tages von der Jugend abserviert zu werden? Es bleibt ihm unbenommen, die These einer 300jährigen Phantomzeit abzulehnen, zumal niemand sie jemals für der Weisheit letzten Schluss gehalten hat. Aber sie liefert immerhin einen plausiblen Grund für die Fundarmut der Zeit zwischen rund 620 und 920, und für die Unvereinbarkeit von Quellen und Archäologie. Prof. Borgolte dagegen tänzelt auf dem schmalen Grat zwischen Verleugnung und Verharmlosung der gravierenden Probleme, sitzt bewahrend auf den Rätseln und schlägt diffamierend um sich, statt sich aktiv neuen Erklärungsansätzen zuzuwenden.

[Am 11.7.99 erschienen zwei Leserbriefe zu dem Artikel: “Letzte Diffamierungen” von Prof. Dr. Hans-Ulrich Niemitz, und “Gefürchtete Abservierung” von Angelika Müller.]

Weitere Beiträge von Zainab A. Müller findet man auf ihrer Seite Symbolforschung

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