Zur Chronologie der islamischen Randgebiete
in: Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 3/94, 50-71
Zur Chronologie der islamischen Randgebiete
Drei Betrachtungen (1994)
Jahreszahlen ohne Zusatz entstammen grundsätzlich der christlichen
Zeitrechnung, arabische sind mit “H” (Hidschra) gekennzeichnet.
Im Zusammenhang mit Rekonstruktionsvorschlägen zur islamischen Chronologie (Angelika Müller, Heribert Illig, Manfred Zeller u.a.) fiel mir auf, daß es keine unabhängigen, will sagen: nicht-islamischen Dokumente zur Geschichte der Entstehung und Ausbreitung des Islam gibt. Weder Byzantiner noch Goten noch Chinesen habenseinerzeit den Vorgang schriftlich festgehalten. Über die vermeintlichen Gesandtschaften zwischen Harun er-Raschid und Karl d.Gr. hat A. Müller [1992] das Wichtigste zusammengetragen: Auf arabischer Seite liegen keine Dokumente vor, und die karolingischen Texte sind, wie Illig [1992a, 1994] nachwies, gefälscht.
In der byzantinischen Literatur gibt es einen äußerst knappen Hinweis auf den frühen Islam, den Lüling [1981, 197f] ausgewertet hat: Das Kapitel 101 der Anti-Ketzerschrift des Johannes Damascenus (ca. 675-749), in dem allerdings noch keine Kennwörter (Sarazenen, Mohammed, Islam) auftauchen. Die ebenfalls von Lüling in diesem Zusammenhang genannte anonyme Streitschrift von Jerusalem, auf 800 datiert, halte ich für eine typische Polemik der Kreuzzugszeit.
Angesichts dieser dürftigen Quellenlage wäre zu prüfen, ob die islamischen Berichte über die Entstehung und Ausbreitung des Islam vertrauenswürdig sind oder durch missionarischen Eifer entstellt. Soweit es die theologische Diskussion betrifft, hat Lüling [1974, 1981] schon erhebliche Korrekturen vorgelegt, die auch eine Veränderung des Geschichtsbildes nach sich ziehen dürften. Wenn man bedenkt, welch großes Gewicht der kurzen Erwähnung Jesu durch Josephus Flavius heute zukommt, weil es fast das einzige Zeugnis von historischem Wert für die Person Jesu darstellt [Augstein 1974], dann ist es sicher nicht unwissenschaftlich, wenn auch die Entstehung des Islam einer kritischen Prüfung unterzogen wird. Erste Schritte dazu hat Illig unternommen, indem er Mohammed mit “vor 600” datiert [Illig 1992, 39].
Relativiert man zunächst einmal alle islamischen Zeugnisse als “pro domo”, dann bleibt nur der Rückgriff auf die Randgebiete der islamischen Ausbreitung, wo Fragmente einer unabhängigen Geschichtsschreibung vorliegen könnten. Deshalb konzentrierte ich mich auf den äußersten Westen, Süden und Osten der ersten islamischen Eroberungen. Zunächst
wende ich mich dem westlichsten Teil der byzantinischen Einflußsphäre, Iberien und Marokko, zu.
Ia – Die Westgoten in Iberien
In der lateinischen Literatur des westgotischen Spanien gibt es nur wenige Chroniken, die vom Eindringen des Islam berichten, und diese stiitzen sich offensichtlich auf arabische Vorlagen. Es sind dies die “Byzantinisch-arabische Chronik” von 741, dann Isidor Pacense (oder Pseudo-Isidor), der den Zeitraum von 611 bis 754 beschrieb (herausgegeben von Sandoval) und – schon spät – die unter Alfons III. d. Gr. (850-910) verfaßte anonyme Chronik, die nach ihrer Herkunft “Albedense” oder “Emilianense” genannt wird und 881 oder 883 beendet wurde. Leider kónnen sie nicht als unabhängige Quellen gelten. Darum bleibt vermutlich nur ein einziger Satz bei Isidor von Sevilla (t 636), der als echtes Fremdzeugnis anzusehen wäre. In seiner 636 vollendeten Etymologie (VIII,5,59) zählt er zu den Ketzern”die sogenannten Arabischen, die in Arabien entstanden sind und die sagen, daß die Seele mit dem Körper stirbt sowie am Jüngsten (Tage) wiederum aufersteht. ”
Da er in derselben Liste auch die Ebioniten und andere “christliche Sekten” aufführt, ist dieser Satz wohl zu Recht auf den frühen Islam zu beziehen. Zur chronologischen Absicherung von Isidor habe ich folgenden Hinweis gefunden: Der Bericht des 4. Toledanischen Konzils, das auf seine Initiative einberufen wurde und das er auch persónlich leitete, trágt seine Unterschrift neben denen sämtlicher Bischöfe Spaniens. Das Dokumentist datiert im 3. Regierungsjahr des Gotenkönigs Sisenand, im Jahre 671 Era (umgerechnet 633, da Era 1 = 38 v. Chr.). Einer der unterschreibenden Bischöfe war Pimenius von Sidonia. Dieser unterschrieb als Bischof von Sidonia auch den Bericht des 5. Toledanischen Konzils, 676 Era, während er sich beim 7. Toledanischen Konzil, 684 Era, durch einen Gesandten vertreten ließ, aber beim 8. Toledanischen Konzil nicht mehr erwähnt wird, ebensowenig wie sein Bistum. Daraus geht hervor, daß Pimenius sein Amt mindestens von 671 Era bis 684 Era innehatte.
Durch drei steinerne Weihinschriften an Kirchen im Bistum Sidonia (heute Medina Sidonia, Provinz Cädiz) ist Pimenius verewigt. Erstens in Medina Sidonia selbst: “Geweiht wurde diese Basilika am 16. Dezember des 2. Pontifikatsjahres von Pimenius, im Jahre 668 Era.” Dieser Stein, seit 50 Jahren veröffentlicht [Romero 1934], existiert noch heute, ein Foto von 1994 liegt dem Autor vor. Die anderen beiden Inschriften, ebenfalls durch Romero [1934] im selben Katalog veröffentlicht, befinden sich in nahegelegenen Städten. Die Inschrift von Vejer de la Frontera lautet: “Geweiht wurde diese Basilika am 14. November des 16. Jahres des Herrn Bischof Pimmenius[sic !] im Jahre 682 Era.”
Die dritte Inschrift, die sich in Alcalá de los Gazules, also ebenfalls in der Nähe befindet, lautet: “Geweiht am 5. Juni im 33. Jahre des Herrn Pontifex Pimenius Era 700.”
Alle drei genannten Einweihungstage fallen auf einen Sonntag, wie es sein muß. (Anzumerken sei an dieser Stelle, daß die von Illig postulierte Lücke von 296 Jahren ein Jahr mehr, nämlich 297 betragen müßte, wenn die korrekte Fortführung der Wochentage nicht in Frage gestellt werden soll.) Die angegebenen drei Pontifikatsjahre des Bischof Pimenius stimmen unter sich und mit den Konzilsakten überein. Es gibt noch einen vierten Stein, demzufolge Pimenius als “antistite” (Vorsteher, Oberpriester) eine Basilika in der Nähe von Sevilla weihte, dessen Datum sich ebenfalls einfügt (veröffentlicht durch Jose Vives 1941 mit Bezug auf Hübner). Durch diese Inschriften wird im Verein mit den Konzilsakten nicht nur Isidor zeitlich abgesichert, sondern überhaupt ein brauchbarer Fixpunkt für das vorislamische Spanien gewonnen.
Ib – Die Berber des Maghreb
Die offizielle Geschichtsschreibung der islamischen Mission in Nordwestafrika und Iberien liest sich relativ einheitlich und läßt sich in wenigen Stichpunkten so formulieren:
Die erste Eroberung des Maghreb erfolgte durch Oqba ben Nafi, der 680 den Atlantik erreichte; es folgte die Eroberung Andalusiens unter Tariq ibn Ziyad 711 mit Vernichtung des gotischen Königreiches in der Schlacht am Guadalete. Schon wenige Jahre später war die Islamisierung des riesigen Gebietes zwischen Kastilien und Sahara abgeschlossen. Außer einigen charedschitischen Gruppen in Algerien und einigen christlichen Städten in Iberien sowie einzelnen christlichen und jüdischen Stämmen im Maghreb wurde die gesamte Bevölkerung zum sunnitischen Islam bekehrt. Bis zum Jahre 300 H (d.i. 911) untersteht das ganze Gebiet (außer dem kleinen Idrissiden-Fürstentum von Fes) dem Chalifen des Orients, dann läßt sich der Emir von Córdoba, Abd erRahman III., zum Chalifen eines unabhängigen sunnitischen Reiches Andalusien ausrufen. Neben der offiziellen Geschichtsdarstellung haben sich beharrlich berberische Traditionen gehalten, die z.T. auch in der arabischen Literatur ihren Niederschlag fanden und von europäischen Orientalisten in der Neuzeit publiziert wurden. Die wesentlichen Angaben entnehme ich der Encyclopedia of Islam, einiges stammt aus meinen eigenen Aufzeichnungen, die ich in zwei Jahrzehnten Forschung im Berbergebiet angelegt habe.
Ic – Die Regraga-Wallfahrt
Etwa zu dem Zeitpunkt, da der “Berber” Tariq (nach El Idrissi ein Zenata-Berber, nach anderen ein Perser aus Hamadan) mit gotischer Unterstützung (nach anderen als Söldner der Goten) von Ceuta aus die Straße von Gibraltar überquerte und den Gotenkönig Roderich besiegte (“711”), bestand in der fruchtbaren westlichsten Ebene Marokkos, die von Bu Regreg, Umm
er-Rbia und Tensift durchflossen wird, ein selbständiges und mächtiges Berber-Reich, das unter dem Namen Berghwata in die Geschichte einging. Die heutigen Stämme dieses Gebietes sind weitgehend arabisiert. Sie erinnern sich nicht mehr an den Namen der mächtigen Konföderation, haben aber Erinnerungen an ihre Eigenart bewahrt und pflegen – vor allem im südlichen Teil – in kultischer Weise das Andenken. Wichtigste Manifestation dieser Erinnerung ist die Wallfahrt der Regraga, die alljährlich im Frühling (also nicht dem islamischen Kalender folgend) Zigtausende von Stammesgenossen zur vierzigtägigen Rundfahrt durch das südliche Gebiet der ehemaligen Berghwata vereint. Die Huldigungen an den verschiedenen Heiligtümern lassen deutlich die ehemalige synkretistische Gestalt der Berghwata-Religion erkennen, in der heidnische, jüdische, christliche und islamische Ideen vermischt sind.
Der Kern der Wallfahrt, die Legende von den “Sieben Männern”, findet leider keine außerberberische Bestätigung, könnte aber einen historischen Kern haben, zumal gewisse Einzelheiten (byzantinischer Bekreuzigungsgestus, charedschitische Fruchtbarkeitsnacht u.a.) ein hohes Alter haben. Die Legende besagt, daß die damals byzantinisch-christlichen Berber Kunde vom Auftreten Mohammeds bekommen hatten und in der Hoffnung, daß er der erwartete Paraklet sei, sieben Männer zu ihm nach Medina sandten [Topper 1993, 160]. Sie nahmen dort den Islam an, missionierten nach ihrer Rückkehr ihre Stammesgenossen und gründeten die erste Moschee im Lande (die Retnana, die noch heute steht). Diese archaische Glaubensstruktur, in der christliche und islamische Elemente eng verflochten sind, lebt bis heute und erfreut sich offizieller Anerkennung.
Weniger gerne wird von offizieller Seite zugestanden, daß damit Oqba ben Nafı (680) nicht der erste Missionar des Maghreb war. Die historischen Texte haben darum auch die Geschichte der Berghwata ins 8. Jh. gelegt, so daß selbst Tariq (in zeitlicher Hinsicht) noch Vorrang vor ihnen hat. Als Quellen für die folgende Rekonstruktion werden in der Encyclopedia of Islam Al Bakri und Ibn Hawqal angegeben, des weiteren Ibn Chaldun.
Id – Das Berghwata-Reich
Als Stammvater (oder Gründer der Dynastie) der Berghwata erscheint ein Berber unbekannter Herkunft namens Tarif, der vermutlich noch kein Moslem war. Der Name des von ihm geschaffenen Stammesverbandes wird auf den Ort Barbate (im Gebiet von Jerez in Andalusien) zurückgeführt, als Zeitpunkt gilt etwa 711. Wenn man bedenkt, daß die berühmte Schlacht am (spanischen) Guadalete nach Ansicht einiger spanischer Historiker am Barbate (einem dem Guadalete benachbarten Fluß) stattgefunden haben soll (was gute Gründe für sich hat) und daß eine Mißlesung Tarig-Tarif vorkommt, da das magrebinische gaf (noch heute) wie ein gemeinarabisches fa geschrieben wird, könnte man folgern, daß der ominöse Gotenbesieger Tariq und der Dynastiegründer Tarif möglicherweise ein und dieselbe Person gewesen sind. Daß der Perser Musa ibn Nusair im Jahre 711 den Berber Tarif abu Zur’a nach Julia Traducta (= Tarifa) zur Rekognoszierung ausschickte, ware ein weiterer Hinweis in dieselbe Richtung.
Der Sohn von Tarif, Salih, regierte angeblich von 748 bis 794, also 46 Jahre lang. Er trug den Beinamen “el Hudi”, was gewöhnlich mit “der Jude” wiedergegeben wird, aber wohl eher (wie zahlreiche Ortsnamen im Berghwata-Gebiet) auf jütische Seefahrer zurückzuführen ist, deren “megalithische” Ideen in der erwähnten synkretistischen Glaubensform jener Stämme noch heute erkennbar sind [Topper 1977, 82].
Salih hatte eine längere Reise in den Orient unternommen und dort auch den Islam studiert. Bei seiner Rückkehr schuf er für die Stammesföderation eine synkretistische Religion, in der sunnitische, schiitische und charedschitische Motive mit älteren christlichen und typisch berberischen (heidnischen) Elementen zusammentraten. Wegen der asketischen Strenge und hohen Moral dieser Stämme erhält diese ketzerische Religion unverdientes Lob durch Ibn Hawqal, was nur mit einer (dem Tacitus und seiner Germania vergleichbaren) didaktischen Absicht zu erklären ist. Die Einzelhinweise sind aber deutlich unislamisch: Diebe werden getötet, Ehebrecher gesteinigt, man betet nicht nur 5 mal am Tage, sondern ebenso oft des Nachts, mit Radschab und Schawal gibt es zwei Fastenmonate (nur der letztere gilt noch als möglich in der Sunna). Das Gemeinschaftsgebet findet nicht am Freitag, sondern am Donnerstag statt. (Die Hochschätzung des Donnerstag, also Jupiters Tag, geht wohl auf die Römer zurück und ist heute noch nicht ganz auszutilgen.) Tierköpfe, Fische, Hühner und Eier dürfen nicht verzehrt werden (megalithische Bräuche, die im Hindukusch und Himalaya noch erhalten sind). Salih hatte einen berberischen Koran verfaßt, der 80 Suren enthielt (der arabische zählt 114), deren Titel Propheten und Tiere nennen. Die Verwendung der Berbersprache war ausschließlich, Arabisch war unbekannt. Astrologie und Magie hatten hohen Stellenwert, ebenso mystische Praktiken. Die Herrscherfamilie besaß die Gabe der Heilung durch Speichel, noch heute eine hochgeschätzte Therapie im Maghreb.
Salih versprach, er werde in der Regierungszeit des 7. Herrschers seines Volkes als Mahdi wiederkehren und mit Jesus gemeinsam gegen den Dadschal (“Antichrist’) kämpfen. Diese eschatologische Erwartung ist ebenfalls typisch für die heutigen Regraga.
Auf Salih folgte sein Sohn al Yasa’ für 48 Jahre, dann dessen Sohn Yunus für 43 Jahre (842-884), der aufs Neue die synkretistische Religion stärkte und ausbreitete. Die Regierungsjahre, die Ibn Chaldun von Al Bakri übernommen hat, sind ungewöhnlich lang: Vater, Sohn und Enkel hätten demnach zusammen 136 Jahre geherrscht. Nimmt man noch den Großvater Tarif (vermutlich ab 711) und den Nachfolger von Yunus, seinen Neffen Abu Ghufayl, 884-911, dazu, dann haben wir fünf Herrscher in 200 Jahren; das ist geradezu typisch für die andernorts festgestellten gestreckten Daten, die den leeren Zeitraum überbrücken sollen. Mit Abu Ghufayl betreten wir vermutlich historischen Boden: Er mußte eine äußerst blutige Schlacht am Wadi Baht (also am Nordostrand seines Gebietes) gegen die Sunniten schlagen. Etwa Mitte des 10. Jhs. schürten die Sunniten von ihrem Ribat in Salé aus einen heiligen Krieg gegen die “ungläubigen” Berghwata, der aber zunächst keine Folgen hatte. Die Berghwata unterhielten gute Handelsbeziehungen mit den Fürsten von Fes, Aghmat, Sidschilmassa und dem Sus und unternahmen sogar diplomatische Vorstöße zum Hofe von Córdoba. Im Jahre 977 startete dieser allerdings einen Angriff, dem ein weiterer 982 von seiten der Fatimiden aus Tunis folgte. Möglicherweise erfolgreich war ein Heereszug unter einem Sklaven des großen Mansur von Córdoba, 998, von dem sich die Berghwata allerdings bald wieder erholten.
Im Jahre 1029 wurden sie von den Bani Ifran besiegt. Dann erfolgte nach 30 Jahren Atempause der Angriff der Almoraviden 1059, die erbarmungslos ihre sunnitische Doktrin durchsetzten. Die Berghwata kämpften wie Löwen, konnten auch den geistigen Führer der Almoraviden, Abdallah ben Yasin, töten, wurden aber vernichtend geschlagen. Neunzig Jahre danach, 1148, wurden sie durch den Almohaden Abd el Mu’min in mehreren Feldzügen angegriffen und im Jahr darauf völlig aufgerieben. Ihr Name verschwindet aus der Geschichte. Leo Africanus (nach 1550) weiß nur noch, daß in jenem Gebiet einst “Ketzer” gelebt hatten. Wären nicht die heute noch deutlichen Reste jener synkretistischen Religion unter den Nachfolgestämmen des Gebietes lebendig, könnte man die verstreuten Nachrichten für Legenden halten.
Ie – Weitere Berberreiche
Erstaunlicherweise hat auch Ibn Tumart, der Masmuda-Berber des Hohen Atlas, noch einen berberischen Koran geschrieben, wobei er sich als Mahdi und Erneuerer oder “Reiniger” des Islam auffaßte. Dies kann nur als Gegenbewegung gegen die Berghwata verstanden werden. Auf der Nordseite, am Mittelmeer, saß ebenfalls eine starke berberische Föderation (Ghomara), die einen berberischen Koran verwendete, geschrieben von HaMim und seiner Tante [Topper 1984/91, 29]. Bedenken wir weiterhin, daß das Fürstentum der Idrissiden am Dschebel Zerhun und später in Fes nicht sunnitisch war, sondern bestenfalls schiitisch, und daß Sidschilmassa und Tahast, das 911 den Fatimiden erlag, charedschitisch einzustufen sind, dann bleibt kein Raum im Maghreb für einen sunnitischen Staat vor der Mitte des 11. Jhs. Maghrebinische Historiker räumen auch ein, daß vor der Invasion der arabischen Hilali-Nomaden von einer Arabisierung des westlichen Maghreb nicht gesprochen werden könne. Diese fand nach allgemeinen Quellen im 12. Jh. unter dem Almohaden Al Mu’min statt. Außerdem ist sicher, daß Oqbas “Inkursion” von 680 – “wenn sie überhaupt stattfand” [Encycl. of
Islam] – nicht als echter Feldzug zu werten sei und keine politisch dauerhaften Folgen hatte.
Zusammenfassend läßt sich der Befund so ausdrücken:
Eine erste Islamisierung im (vermutlich) 7. Jh. hatte eine berberische synkretistische Religion zur Folge, die erst rund vier Jahrhunderte später in einen sunnitischen Staat überführt wurde. Die Konföderation der Berghwata wird erst mit Abu Ghufayl geschichtlich faßbar; sein Todesjahr 911 ist möglicherweise das erste verläßliche Datum dieses Bereichs.
If – Calatayuds erfundene Gründungszeit
Während eine umfassende Studie der ersten beiden Jahrhunderte des islamischen Andalusien unter den neuen Gesichtspunkten noch aussteht – wobei vor allem die große Anzahl dokumentierter Münzen untersucht werden sollte – möchte ich nur eine kurze Notiz bringen, die das Dilemma der spanischen Arabisten deutlich macht. Jacques Touchet, der Querdenker aus dem französischen Carcassonne, zitiert in La Grande Mystification [1991] einen spanischen Arabisten, Juan Antonio Souto, und übersetzt dessen Arbeit über die Gründung der spanischen Stadt Calatayud [Universität Zaragoza, 1983, inedit.]. Der Inhalt sei zusammengefaßt in Hinblick auf die hier interessierenden Punkte:
Calatayud habe früher Cala’t-Ayub geheifen und sei von dem kurzfristigen Verwalter Andalusiens, Ayyub ben Habib, im Jahre 716 erbaut worden. Diese Nachricht wird von fast allen Historikern unkritisch übernommen und steht auch in der Encyclopedia of Islam [Seybold], obgleich die beiden islamischen Quellen, Ibn Hayyan und AI ‘Udri, beide 11. Jh., nichts dergleichen behaupten, sondern die Gründung der Stadt ins Jahr 862 bzw. 874 legen, wobei noch auffällt, daß diese beiden Autoren, die nur hundert Jahre später geboren sind, schon um 12 Jahre voneinander abweichen: Der um 14 Jahre jüngere Al ‘Udri macht die Stadt 12 Jahre älter. Die “Legende” von der Gründung durch einen Statthalter Ayyub ist eine schlichte Erfindung seitens Ximénez de Rada (1180-1247), dessen spátlateinisches Geschichtswerk durch Zurita und dann Martinez del Villar (1598) benützt und im Laufe der späteren Jahrhunderte immer gröber ausgemalt wurde.
Die genannten arabischen Quellen (sowie auch Ibn Hazm), die vermutlich auf al-Razi zurückgehen, nennen stets nur ein Calatayud, also mit “d”, was auf Juden oder Jüten zurückzuführen ist. Der Personenname Ayyub taucht dabei nicht auf. Es scheint mir in diesem Falle sicher, daß die Manie mittelalterlicher Historiker, Ortsnamen durch Personennamen zu erklären,
hier eine Verschiebung der Stadtgründung um rund 150 Jahre bewirkt hat.
II – Der Jemen
Der vorislamische Jemen unter der Herrschaft der Himyariten, deren letzter, Dhu Nuwas, den Judaismus annahm, ist relativ gut bekannt. Nachdem Dhu Nuwas 523 eine große Zahl Christen seines Gebietes massakriert hatte, wurde er 525 vom christlichen König Äthiopiens, Abraha, geschlagen. Gegen den Christen rief der überlebende Himyarite Sayf ibn Dhu Yazan – bis heute einer der überragenden Helden aller arabischen Sagen – die Perser zu Hilfe, die 575 diese ihnen wohl nominell ohnehin rechtmäßig gehörende Provinz besetzten. Im Jahre 6 H (628) – nach der Encycl. of Islam im Jahre 9 H – nahm der fünfte Statthalter der persischen Satrapie, Badhan, den Islam an, und damit versinkt dieses Hochkulturreich in geschichtsloses Dunkel, das mindestens zwei Jahrhunderte währt. Man kennt nur eine Liste der Statthalter, die allerdings “voller Widersprüche und Datierungsprobleme” [Smith 137] ist. Erst mit den Yu’firiden (847-997) beginnt eine einigermaßen verläßliche Geschichtsschreibung. Im Hochland herrschten 818-981 die Ziyaditen, aber die diesbezüglichen arabischen Quellen sind “oft unzutreffend, große Unterschiede bestehen in den Jahresangaben” [ebd]. Die Namen der Ziyaditenherrscher von 981 bis 1018 sind gänzlich unbekannt. Liegt hier Amnesie durch Übernahme des Islam vor oder handelt es sich um zuviel gezählte Jahre, die nicht gefüllt werden können?
IIIa – Das iranische Schahname
Am Ostrand des arabischen Sprachgebietes, im Iran, sind mehrere Paradoxa aufzuzeigen, die nur mit Hilfe der Illigschen Zeitverkürzung um rund 300 Jahre aufzulösen sind. Wenden wir uns zunächst einmal dem Schahname zu, das als Heldenepos für den Iran etwa die Rolle einnimmt, die die /lias für Hellas und das Nibelungenlied für uns hatte. Aber im Gegensatz zu den Dichtern der meisten Heldenepen, deren Person im Dunkel der Frühgeschichte verschwimmt, ist der Dichter des Schahname eine bekannte und gut bezeugte Persönlichkeit: Er hieß Firdausi und lebte im 10. Jh. im östlichen Iran. Schon zu Lebzeiten war er ein bejubelter Dichter, an seiner Realität ist nicht zu zweifeln. Firdausi erhielt für sein Epos, das angeblich 60.000 Verse umfaßte, als Lohn 60.000 Silbermünzen, was ihn verdroß, denn er hatte sich für dieses “Lebenswerk” (er schrieb noch andere Werke) dieselbe Anzahl von Goldmünzen erhofft. Als dies dem damals herrschenden Fürsten, Mahmud Ghaznawi, zu Ohren kam, ließ dieser dem Dichter sofort eine ganze Karawane mit kostbarem Farbstoff schicken, die Firdausi aber nicht mehr entgegennehmen konnte, da er just zu diesem Zeitpunktstarb. Die Anekdote zeigt zumindest, daß Firdausi zu Lebzeiten ein berühmter und geschätzter Mann war, von der Obrigkeit gebührend belohnt. Also ein Goethe oder G. Hauptmann seinerZeit.
Das früheste erhaltene Manuskript des Schahname stammt von 1217, mithin wären zahlreiche Arabismen und islamische Formeln zu entschuldigen. Doch es kommen fast keine vor! Auch die späteren Abschriften beginnen nicht mit “Bismillah”, und vom Propheten findet sich sowenig eine Spur wie von Allah. In der Urfassung, die etwa um 1010 (spätestens) vorgelegen haben muß, ist kein einziger islamischer Gedanke zu finden. Es handelt sich um ein rein heidnisches Heldenepos, das die Geschichte des Iran von der frühesten Bronzezeit bis zum Ende des Sassanidenreiches wiedergibt.
Die ältesten Nachrichten über die machtpolitischen Vorgänge im Iran sind im Schahname noch recht dürftig und “mythologisch” verschleiert. Die Achämeniden sind durchaus klar erkennbar, wenn auch verzerrt für unsere Geschichtsschreibung, was mich nicht wundert. (Es wäre eine interessante Aufgabe, die Angaben im Schahname mit den neuen Erkenntnissen von Heinsohn zu vergleichen!) Die Alexander-Episode nimmt ungemein breiten Raum im Schahname ein, was wissenschaftlicherseits mit der Behauptung erklärt wird, dieser Schock, den Hellas dem Iran versetzt habe, wäre derart tiefsitzend gewesen, daß auch der mehr als tausend Jahre später geborene Firdausi ihn nicht verkraften konnte. Nach den weiteren Herrschern, die zeitlich seltsamerweise stark verkürzt auftreten, werden die Sassaniden mit all ihren Schahinschahs chronologiegetreu aufgeführt, und zwar ist die Beschreibung desto genauer, je näher sie an Firdausi heranreicht. Das halte ich für normal, oder jedenfalls für erwartungsgemäß.
Mit dem letzten Sassaniden, Jäzdegird III., bricht das Epos ab. Von der islamischen Eroberung erfahren wir kein Wort. Von dem ungeheuren Aufschwung in kultureller Hinsicht, den der Iran durch die Araber erfuhr, findet sich noch keine Spur. Feueranbeter und Magie, Ahuramazda und der Kampf der Lichtengel gegen die Engel der Dunkelheit sind die Hauptthemen des Riesenliedes. Rund 350 (in Worten: dreihundertfünfzig) Jahre islamischer Herrschaft sind spurlos an Firdausi und seinen Zuhörern vorbeigegangen. Daß das Werk nicht klandestin (neudeutsch: im underground) entstanden war, hatte ich oben schon gezeigt. Und bei aller Toleranz, die wir dem Islam zugestehen: Das wäre doch ein starkes Stück! Oder wie könnte Mahmud Ghaznawi, der ein gestrenger Herrscher und eine bis heute gut bekannte Persönlichkeit war, ein so eindeutig heidnisches Epos belobigen und belohnen? Hätte er nicht allen Grund gehabt, den Dichter töten zu lassen und die Manuskripte dem Feuer zu übergeben? Er tat das Gegenteil. Es wird wahrheitsgemäß berichtet, daß Mahmud keineswegs erfreut war über dieses titanenhafte Lied, weil es ja den Turan, Mahmuds Heimat, als Domäne des Dunkels verteufelte, ebenso auch die Herkunftsgebiete der Araber zur Sphäre der Dunkelheit rechnete, was Mahmud später etwas peinlich war, weil er gerade im Begriffe stand, mit dem Chalifen von Baghdad diplomatische Beziehungen anzuknüpfen. Aber von einer religiösen Ablehnung war nie die Rede. Firdausi konnte also mitten in islamischem Herrschaftsgebiet, im “4. Jh. der Hidschra”, sein gewaltiges Heldenepos vom heidnischen Arierland singen, ohne Gefahr zu laufen, verfolgt zu werden, sondern seine großen Ansprüche auf Belohnung sogar durchsetzen. Er konnte seine theologischen Anschauungen (und die seiner vielen Zuhörer), die vom Islam meilenweit entfernt sind, straflos vortragen, konnte den damals angeblich seit Jahrhunderten islamisierten Turan und das arabische Mutterland des Islam als Abgrund des Bösen hinstellen und – der Gipfel ! – die letzten dreihundertundfünfzig Jahre “des Lichts” völlig übergehen. Ich glaube nicht, daß man hier von einer kurzfristigen iranischen Renaissance sprechen kann, wie dies zuweilen von einigen Wissenschaftlern vorgebracht wird, wenn ihnen diese Ungereimtheiten gar zu kraß aufstoßen.
Im übrigen war Firdausi kein Einzelgänger, sondern fußte auf mehreren Barden, die in der Generation vor ihm schon den Grundstock für sein großes Arierepos gelegt hatten. Er benützte – nicht schamlos, sondern ganz im Stile seiner Zeit, die noch kein copyright kannte – die Vorlagen und Liedfragmente einer Reihe von Dichtern, die uns bis heute bekannt sind. Und diese knüpften – wie er – direkt an die Sassaniden an. Neu an ihrem Pahlewi, ihrer persischen Sprache, ist eigentlich gar nichts, nur die Lettern in den Manuskripten, die bekanntlich frühestens aus dem 13. Jh. stammen, sind arabisch bzw. umgewandelt: neu-persisch. Dadurch kann sich im Laufe der Zeit auch die Aussprache gewandelt haben, wie überhaupt die dichterische Tätigkeit von Firdausi und seinen Vorgängern sicher Einfluß auf die Entwicklung des neuen Persisch hatte. Aber ein echter Bruch zur Sassanidenzeit ist linguistisch nicht erkennbar.
Man hörte also etwa beim Tode Jäzdegirds III, gegen 650, im Iran auf, Lieder und Gedichte oder Chroniken zu schreiben, und fing dann gegen 950 wieder damit an, und zwar vornehmlich mit der Zusammenfassung der iranischen Geschichte von der Urzeit bis 650. Da stellt sich die Frage, ob denn in den dazwischenliegenden 300 Jahren überhaupt etwas literarisch Bedeutsames bekannt ist. Generell könnte ich da nur auf die minutiösen Schilderungen des Lebens des Propheten Mohammed (Sirat), seiner Aussprüche und Taten (Hadith) hinweisen. Die meisten dieser Werke, die noch heute allgemein benützt werden, sind im östlichen Iran ab Mitte des 10. Jhs. entstanden, die ältesten Handschriften sind beträchtlich jünger. Obgleich die Kette der Hadith-Überlieferer (Isnad) durch zahlreiche Biographien gesichert scheint, ist doch immer wieder erkannt worden, daß es sich in vielen Fällen um fromme Fälschungen handelt. (Dieses Thema müßte in einem gesonderten Aufsatz von einem Fachmann bearbeitet werden.)
IIIb – Die Vorstufen des Epos
Doch zurück zur “heidnischen” Literatur des Iran. Die Sammlung altpersischer Königssagen, die dem Schahname zugrundeliegen, war schon unter Chosrau II. erfolgt. Dieser kulturliebende Schah hatte heidnische Griechen, die vor den unduldsamen Christen aus Byzanz geflohen waren, in seinem Reich angesiedelt, hatte aus Indien das Schachspiel und die Dichtung Kalila we Dimna eingeführt, die die Araber später begeistert übernahmen.
Eine weitere Vorstufe zum Schahname bildet die umfangreiche Chronik der iranischen Dynastien, die eine Landadliger zusammen mit einem zoroastrischen Priester und einem Höfling während der Regierungszeit von Jäzdegird III. verfaßte. Sie soll durch Ibn al Mugaffa’ (der heidnisch Rozveh, Sohn des Dadoe, hieß und nach arabischen Angaben um 757 gestorben sein soll [Klima 66]) ins Arabische übersetzt worden sein. Eine neupersische Übersetzung sei aber erst im 10. Jh. erfolgt.
Eine derartige “Übersetzung” aus dem Mittelpersischen ins Neupersische ist jedoch unsinnig, denn der Übergang dieser beiden Sprachformen ist unmerklich. Mittelpersisch wurde noch bis ins 15. Jh. verwendet, wenn auch nur in einigen nordiranischen Fürstentümern, die sich durch ihre geographische Lage vom Islam abgrenzen konnten. Auf Bauwerken wurde das Mittelpersische allgemein noch im 10. Jh. verwendet. So ist z.B. eine Inschrift aus Istachar bezeugt, die ein Bujjidenherrscher im Jahre 955 sah und sich von einem Einheimischen vorlesen ließ. Er setzte dann seine eigene Inschrift (in Kufisch!) daneben, und diese gilt als erste islamische Inschrift auf persischem Boden! [Klima 67].
Al Mas’udi berichtet, daß er im Jahre 915 bei iranischen Gebildeten in der Stadt Istachar eine große Königschronik sah. Ihre Texte begannen mit “pat nam-i Yazdan” (= im Namen Gottes), nicht etwa mit “Bismillah”, das wie eine gelungene Nachahmung klingt.
IIIc – Die Lücke
Alle neueren Iranforscher sind sich darin einig, daß ein Bruch zwischen dem Mittelpersisch (der Sassaniden) und dem Neupersisch (der Moslems) nicht erkennbar ist. Der Unterschied liegt in der Verwendung der arabischen Lettern, die sich schrittweise durchgesetzt hätten, weil sie leichter zu handhabenseien. (Letzteres halte ich für unrealistisch, denn eine so vokalreiche Sprache wie das Persische mit einer fast reinen Konsonantenschrift wiederzugeben, bringt erhebliche Probleme.) So sagt Klima [138, 131], daß die oft behauptete Lücke von 150 und mehr Jahren nicht existiere, sondern “ein schwerer Irrtum” sei. Es gäbe eindeutige Belege für das Neupersische im 7. Jh., die Wiedergeburt der persischen Literatur unter dem Islam sei eine “Fiktion späterer Zeiten”. So habe man aus dem Jahre 642 zwei Gedichte, die in sprachlicher Hinsicht fast gleich seien: Das eine ist ein spätmittelpersisches Mathnawi, das andere ein frühneupersisches Gedicht [Klima 135]. Diese Argumentation von Klima weist auf die Problematik deutlich hin: Eine Entwicklung, die in sehr kurzer Zeit und wohl zwangsweise ablief, nämlich die Übernahme der arabischen Lettern bei gleichbleibender Sprachform, muß über den unvorstellbar langen Zeitraum von 350 Jahren gestreckt werden, Die Diskussion dieses “Problems” wird noch dadurch
erschwert, daß einige Spezialisten nur Alt- und Mittelpersisch bearbeiten, andere nur Neupersisch. Ob es eine Lücke gibt und wie weit sie zwischen den beiden Fachdisziplinen klaffen könnte, wird kaum erörtert.
Klima räumt allerdings ein, daß die tradierten Datierungen neupersischer Texte oft gefälscht sind, etwa die Daten 809 und 813, die die wahre Entstehung im frühen 10. Jh. verschleiern [Klima 136]. Im 10. Jh. habe auch noch eine Festung mit Mobeds (zoroastrischen Priestern) in Arradschan in der Fars bestanden. Das ist nur dann verwunderlich, wenn man
annimmt, daß die Eroberung des Iran damals schon 300 Jahre zurücklag.
IIId – Türken im Ostiran
Bei Mahmud Ghaznawi fiel mir nicht nur auf, daß er den heidnischen Dichter Firdausi so hoch belohnte für sein anti-arabisches Epos, und daß er erst relativ spät, nämlich nach 1000, diplomatische Beziehungen zu den islamischen Herren des Zweistromlandes aufnahm, sondern daß er vermutlich selbst noch Heide war und erst im vorgerückten Mannesalter zum Islam übertrat. Sein Vater, Subuktegin, war offensichtlich noch nicht Moslem. Die türkischen Emire und Schahs pflegten damals die Sitte, ihre Stammbäume auf Jamschid oder späte Sassaniden zurückführen zu lassen. Diese Kunststücke zum Zwecke der Machtlegitimation wurden von gelehrten Gebr (= Feueranbeter, Zoroastrier) ausgeführt [Klima 66].
Diese Türken – und im Verein mit ihnen die Hepthaliden – wehrten sich mit äußerster Kraft gegen die islamischen Heere. Die Kabulschahis (Herrscher der Paktun, Ostafghanistan) widerstanden demIslam bis ins 10. Jh. Auf ihren Münzen sieht man den Feueraltar, liest in Mittelpersisch den Herrschernamen, etwa Sri Bahmana Vasu Deva (also echt hinduistisch) und findet Jahreszahlen als Daten, in diesem Falle 65. Gelehrte Numismatiker wie Michael Mitchiner [1977, 63] fassen diese Jahreszahlen fraglos als Hidschra-Daten auf. Das kommt mir absurd vor. Würde man die Zeitrechnung des Todfeindes auf den eigenen Münzen verwenden? Wann immer diese Daten einzuordnen sein mögen – Hidschra-Jahre sind es gewiß nicht. Ob man hier die Ära von Chosrau II. (590-627) fortsetzte oder die von Jäzdegird III. (ab 632) oder eine eigene, wäre ein interessantes Thema. Aber daß die Münzen der Kabulschahis nicht von 700 bis 1000 reichen, läßt sich klar erkennen.
Im Iran wurden bis zur Herrschaft von Mu’awiya (ab 41 H) die Münzen von Chosrau II. und Jäzdegird III. verwendet, im Osten des Iran, wo “Hunnen” und Altsassaniden herrschten, sogar bis in die achtziger Jahre der Hidschra [Gaube 2]. Die islamischen Heere, die nach offizieller Geschichtsschreibung schon 662 Kabul erreichten und vor 666 Herat und Balch eroberten sowie in Merw eine große Garnison erbauten, ließen die kursierenden Münzen der Sassaniden mit Kontermarken (nachträglichen Aufprägungenzur Legitimierung) versehen [Gaube 116f]. Um diese Widersprüche in der Münzgeschichte müßte sich ein Kenner dieser Materie bemühen. Ich möchte hier nur anmerken, daß Balch (und wohl auch Merw) zu diesem Zeitpunkt chinesisches Vasallengebiet waren. Müßten die chinesischen Chroniken nicht von dem Verlust dieser Gebiete berichten?
Ille – Die Parsen
Auch die arabische Eroberung des Sindh zu diesem frühen Zeitpunkt scheint mir fragwürdig. Ähnlich wie die Eroberung des Maghreb durch Ogba ben Nafı (vgl. S.54) machen auch hier die Nachrichten eher den Eindruck frommer Legenden. Indischerseits konnte ich keine Dokumente dazu finden. Dafür bin ich auf andere Hinweise in Indien gestoßen, die ebenfalls
einen chronologischen 300-Jahres-Sprung vermuten lassen. Daß die Anhänger Zarathustras den Islam nicht scharenweise freudig übernahmen, sondern sich zur Wehr setzten und gegebenenfalls flohen, ist geschichtlich einigermaßen erwiesen. Zumindest sind die Parsen von Bombay ein heute noch lebender Beweis dafür. Schwierig wird es allerdings, wenn man den
Zeitpunkt dieser Massenfluchtfestlegen will. Der Brockhaus [1972] sagt lapidar, daß die Parsen im 10. Jh. aus dem Iran nach Bombay ausgewandert seien. Es gebe zwei Sekten, deren einziger Streit auf der Zeitberechnung beruhe, die auf Jäzdegird zurückgehe. Wer nicht weiß, daß die Wissenschaft keineswegs so einhellig dazu steht, dem dürfte diese Auskunft des Brockhaus als Erklärung aller Probleme die beste erscheinen: Im 10. Jh. flohen zoroastrische Bewohner des Iran vor den heranrückenden islamischen Heeren nach Indien, um ihren Glauben zu bewahren.
Nach allgemeiner Geschichtsauffassung rückten diese Heere aber bereits im 7. Jh. gegen die Feueranbeter vor. Sollten sie das 300 Jahre später noch einmal getan haben? Sie selbst haben es nicht so dargestellt. Sicher ist, daß die Zoroastrier nach Jäzdegirds Niederlage geflohen sind. Der letzte Sassanidenherrscher, Jazdegird III., soll in den Nordostiran geflohen sein und dort im Jahre 651 durch einen gedungenen Mörder getötet worden sein. Gläubige Iraner behaupteten noch lange Zeit später, daß der König “verschwunden” sei und wiederkehren werde. Aber das kennen wir ja aus anderen Kulturgebieten auch. Trotzdem kann man hier schon den Mythos vom verschwundenen und wiederkehrenden Imam erkennen, der die Schia bis heute bewegt.
In chinesischen Quellen taucht ein Sohn Jäzdegirds auf, Feroz III. (die Numerierung ist unerklärt), der vor den Moslems floh und in China am Hofe des Kaisers zum General avancierte. Er baute Feuertempel in Si-nganfu und genoß große Ehren. Sein Sohn Ni-ni-sse war sogar General des “linken Flügels” der kaiserlichen chinesischen Armee. (Diese Angaben entnahm ich der französischen Grande Encyclopedie, Band 25, unter dem Stichwort “Parsisme”, konnte sie allerdings noch nicht nachprüfen. Ein Sinologe beschäftigt sich damit.)
Die Chroniken der Parsis, der nach Indien geflohenen Zoroastrier, stammen aus später Zeit (Kissah-i-Sandschan, um 1600 verfaßt), sind nicht ganz einheitlich und stimmen auch nicht ganz mit den übrigen Texten überein, aber der Grundtenor ist etwa gleich. Demnach seien die Flüchtlinge zuerst nach Kohistan gekommen (wo immer das liegen mag; Kohistan heißt einfach Bergland, es gibt vom Iran bis Indien viele Gebirge, die so heißen) und hätten dort exakt 100 Jahre ausgeharrt, bevor sie sich in Richtung Süden wandten und über den Ozean Indien erreichten. Die Flucht nach Indien ist genauer belegt. Sie seien zwischen 682 und 697 nach Hormuz und von dort mit Schiffen nach dem indischen Gudschrat geflohen [Rypka 1959, 128]. Nach ihren eigenen Quellen hatten sie in Hormuz 15 Jahre gewartet, ob sich die Lage im Heimatland wieder bessern würde, setzten dann übers Meer nach Diu, wo sie 19 Jahre blieben, zogen dann weiter nach Gudschrat, wo sie der Hindukönig freundlich aufnahm und nach fünfjähriger Probezeit ihnen erlaubte, einen Feuertempel zu errichten, so daß sich ihr Leben wieder normalisierte. 651 (Tod Jäzdegirds) plus 15 Jahre (in Hormuz) plus 19 Jahre (in Diu) plus 5 Jahre ergibt 690 für den Beginn kultureller Stabilität der Parsengemeinde in der Gegend von Bombay. Dieses Datum fällt zwischen die von Rypka genannten Daten 682 und 697, es könnte verläßlich sein. Glatte 300 Jahre danach, so steht in den Annalen der Parsen, mußten sie sich dann gegen einen islamischen Angriff verteidigen, wobei sie dem Hindu-Radscha nach Kräften halfen. Der Angreifer wird (in der Grande Encyclopedie) als Asaf Khan, ein General von Mahmud Ghaznawi (der uns ja bereits im frühen 11. Jh. begegnet ist) genannt. Über diesen liegt leider nichts Genaues vor, der Name selbst scheint gar zu häufig und nur ein Titel zu sein. Wenn wir hier Mahmuds Angriff gegen Indien (daß er so weit nach Süden vorgetragen worden sein soll, ist nicht belegt) erkennen wollen, dann stimmen die 300 Jahre genau.
Wenn wir aber schon bei Mahmud den Eindruck hatten, daß er nicht gut 300 Jahre nach Einführung des Islam geherrscht haben kann, sondern eher in unmittelbarem Zusammenhang mit ihr, dann fallen uns diese glatten 300 Jahre in der Parsen-Chronik auch nicht mehr so überraschend auf, sondern eher als die übliche Zahl, die den Zeitsprung vertuschen soll. Für diese 300 Jahre nennt die Parsenchronik kein einziges Vorkommnis, keine Priester oder Könige, keine Literatur dieser sonst an schreibenden Menschen so reichen Gruppe! Hindukönig und parsische Allierte wurden geschlagen, die Parsen zogen sich ins Gebirge zurück, konnten aber bald wieder ihre Wohnorte beziehen, denn der islamische Angriff war ephemer. Auch das würde zu Mahmud passen, dessen Eroberung Indiens nur im nördlichen Teil, im Pandschab, beständig war.
Aus der langen Chronik der Parsen wird erst wieder im 18. Jh. ein Vorgang für uns interessant, der den Zeitstreit betrifft [Encyclopedia of Islam]. Unter dem Einfluß und dem politischen Schutz der Engländer, die die Parsen als europide Rasse begünstigten, entwickelten die Zoroastrier Bombays ein neues Selbstbewußtsein und knüpften Verbindungen zum alten Iran, wo trotz jahrhundertelanger grausamster Unterdrückung immer noch “Feueranbeter” überlebt hatten. Man bat um Priester und Unterweisung in der Lehre. Zweimal kamen Mobeds (Priester) aus dem Iran nach Indien: 1721 und 1736. Das Aufregendste, was dabei zutage kam, war, daß die Zeitrechnungen der beiden Gruppen, der iranischen und der indischen, nicht übereinstimmten. Die Feste fielen auf unterschiedliche Tage. Angeblich habe der Unterschied nur einen Monat betragen, aber an anderen Stellen liest man auch, daß dieser Streit unüberbrückbar gewesen sei, weil sonst alle Daten der früheren Zeit – also wohl der Jäzdegird-Zeit, die man noch immer fleißig weiterzählte – falsch wären. Es bildeten sich nun zwei Gruppen in Indien, die Schahinschahis und die Qadimis, deren eine die “neuen” Datierungen von den Sendboten aus dem Iran übernahm, die andere aber bei den “alten” Datierungen, die sie einst selbst mitgebracht hatten, blieb. Jahrzehntelang tobten blutige Kämpfe zwischen den beiden Gruppen, bis man 1783 in der Stadt Broach einen Kompromiß schloß, der das Thema schlicht unter den Tisch fegte. Seitdem bestehen beide “Sekten” nebeneinander, Mischehen kommen kaum vor, aber Kämpfe auch nicht mehr. Die Encyclopedia Britannica [1911] sagt unter dem Stichwort “Parsees” über die beiden Sekten:
“Sie unterscheiden sich in keinem einzigen Glaubenspunkt; der Disput beschränkt sich auf den Streit um das korrekte chronologische Datum für die Berechnung der Ära des Yazdegerd, des letzten Königs der Sassaniden-Dynastie.”
Hochinteressant wäre eine Feldstudie, die den tatsächlichen Unterschied der beiden Zeitrechnungen der Parsen untersucht. Leider hatte ich während meiner indischen Studienzeit nichts von diesem Problem geahnt.
Literatur
Augstein, Rudolf (1974): Jesus Menschensohn; Reinbek
Brockhaus Enzyklopädie (171972); Wiesbaden
Daum, Werner (Hg., 1987): Jemen; Innsbruck : Frankfurt/M.
Encyclopedia of Islam (1954f); Leiden
Gaube, Heinz (1973): Arabosassanidische Numismatik; Braunschweig
Grande Encyclopédie (o.J.); Paris (ca. 1900)
Illig, Heribert (1992): “Wann lebte Mohammed?”; in VFG IV (2) 26
– (1992a): Karl der Fiktive, genannt Karl der Große; Gräfelfing
– (1994): Hat Karl der Große je gelebt?; Gräfelfing
Isidorus Hispalensis (1862): Etymologiarum (ed. Faustinus Arevalo), Paris, Bd. I
(Zitate von mir übersetzt)
Klima, Otakar s. Rypka 1959
Lüling, Günter (1981): Die Wiederentdeckung des Propheten Mohammed; Erlangen
Mitchiner, Michael (1977): Oriental Coins and their Values. The World of Islam; London
Müller, Angelika (1992): “Karl der Große und Harunal-Raschid. Kulturaustausch zwischen zwei großen Herrschern?”; in VFG IV (4-5) 104
Romero de Torres, Enrique (1934): Catálogo monumental de la Provincia de Cádiz; Madrid
Rypka, Jan (1959): Iranische Literaturgeschichte; Leipzig (mit Beiträgen von Otakar Klima u.a.)
– (1968): History of Iranian Literature; Dordrecht
Smith, Rex G. (1987): “Politische Geschichte des islamischen Jemen”; in Daum 136f
Topper, Uwe (1977): Das Erbe der Giganten; Olten
– (1991): Sufis und Heilige im Maghreb; München (1984/1991, Köln)
– (1993): Das letzte Buch. Die Bedeutung der Offenbarung des Johannes; München
Touchet, Jacques (1991): “La Grande Mystification”; in MEDITERRANEA Nr. 41
Zeller, Manfred (1993): “Das Kalifat der Omaijaden”; in. VFG V (3-4) 69
gedruckt in Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 3/94, S. 50-71
zum Thema passend ein Beitrag von 2005: Chronologieprobleme der islamischen Geschichte, hier im Lesesaal.