Olagües neues Bild vom mittelalterlichen Spanien

Zu dem Buch von Ignacio Olagüe: La revolución islámica en Occidente, 1974

Dieser Beitrag erschien in „Zeitensprünge“ (Mantis Verlag, Gräfelfing) 1998, Heft 3, S. 466 ff.

Die islamische Eroberung Andalusiens ist eine Erfindung der katholischen Wiedereroberer zur Rechtfertigung ihrer Kriege, sagt der Spanier Ignaz Olagüe. Dafür gibt es viele Hinweise aus den Chroniken, wenn man sie recht zu lesen versteht. Olagües Analyse wird aber erst durch die von Heribert Illig gefundene Verschiebung der Zeittafeln zwischen islamischer Hedschra und spanischer Era verständlich.

Ein neues Bild des mittelalterlichen Spanien

Der sagenhafte Zug der Wandalen von der Oder über den Rhein und die Pyrenäen bis nach Karthago unter König Geiserich begeisterte noch in der Generation meiner Eltern einen deutschen Dichter zu einem Roman, der von Millionen gelesen wurde. Die Spanier haben ein ähnlich ausgeprägtes Bedürfnis für religiös fundiertes Heldentum, züchtige Frauen und Eroberungszüge: Ihre “Reconquista” (= Wiedereroberung) mit Leitfiguren wie Don Pelayo und “el mio Cid” wird bis heute in Schulen und Geschichtswerken aufs Prächtigste ausgeschmückt. Seit aber 1974 das für Spanien bahnbrechende Lebenswerk von Ignaz Olagüe (1903-74) erschienen ist, beginnt dieser goldene Schein zu verblassen; wir kommen vielleicht der historischen Wirklichkeit einen Schritt näher.

Dieser Baske, der in Französisch und Spanisch schrieb, hat im Spenglerschen Sinne (Der Untergang des Abendlandes, 1918-22), einen Untergang Spaniens geschrieben (4 Bände, 1950) und nach vieljähriger Kleinarbeit die Entzauberung der islamischen Eroberung unter dem provozierenden Titel: “Die Araber haben Spanien nie erobert” (Les Arabes n’ont jamais envahi l’Espagne, 1969) begonnen. Seine spanische Übertragung, die er “Die Islamische Revolution im Westen” nannte (La revolución islámica en Occidente, 1974) wurde von einer erstaunten Leserschaft mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen. Die Auswirkung reicht heute bis in die Frauenbewegung hinein. Olagüe wird von der bekannten Autorin Victoria Sendón de León enthusiastisch gefeiert (1986/1993), denn der grundsätzliche Schock, den die Darstellung der Islamisierung Westeuropas in jedem Spanier auslöst und wiederobernde Nationalhelden wie den Cid bis heute fortleben läßt, mußte irgendwann einmal aufgeklärt werden. Damit werden endlich Vorurteile gegen die bösen “Moros”, die unmittelbaren Nachbarn Spaniens, abgebaut.

Die allgemein geglaubte Geschichte, derzufolge Tarik mit 7000 Reitern (nach anderen Berichten mit 4000) gegen die Goten zog, nachdem er das ganze Heer in einer Nacht auf zwei (in anderen Texten vier) Schiffen über die Meerenge von Gibraltar gebracht hatte, ist vollkommen unrealistisch, denn ein Schiff trägt höchstens 50 Reiter. Die Goten waren übrigens auch beritten und hatten sogar an der Küste Wachen aufgestellt, wie dieselben Chroniken berichten. Dennoch sei die Reiterschlacht sehr heftig gewesen und habe tags darauf mit dem Sieg der Araber am Guadalete (einen Tagesritt weit von der Landungsstelle entfernt) geendet, wonach ihnen das gesamte Gotenreich zwecks Eroberung offenstand. Das war nach allgemeiner Ansicht im Jahr 711.

Für außergewöhnliche Siege müssen auch neue Kriegstechniken vorhanden sein, wie etwa die Feuerwaffen Pizarros gegen indianische Pfeile, sonst sind die Berichte unglaubwürdig. In unserem besonderen Falle nun, wo einige hundert berberische Reiter – mehr kann man mit zwei (oder vier) Schiffen in einer Nacht selbst bei ruhiger See nicht über die Meerenge bringen – ein nach gotischer Sitte organisiertes Reiterheer schlagen sollen, lagen vielleicht ganz andere Zustände vor, die uns in den Chroniken verschleiert werden. Die Goten beherrschten ja die gesamte Iberische Halbinsel und Okzitanien (Westfrankreich) mit einer Struktur, die aus einer Kombination von römischem Beamtenstaat und germanischem Lehnsverhältnis funktionierte. Das können einige Hundertschaften berberischer Reiter unter persischer Führung nicht im Handumdrehen vernichten.

Da hier nichts an den Chroniken stimmen kann, haben ernste spanische Historiker Überlegungen angestellt, wie diese Unmöglichkeiten zustandegekommen sein könnten. Am beliebtesten ist die These von den Sümpfen am Barbate oder der Lagune La Janda, wo das schwerbewaffnete Reiterheer der Goten einfach versank. Aber das löst nicht einmal die militärtechnischen Probleme der seltsamen Geschichtsschreibung. Wir müssen uns also die Quellen näher ansehen.

Romane oder Chroniken ?

Die ältesten Nachrichten über die Eroberung Iberiens durch die Araber finden sich in dem berühmten Text des Ibn al Hakam aus Ägypten (gestorben 871, aber von einem Schüler erst niedergeschrieben), “Eroberung Ägyptens, des Maghreb und Andalusiens”, auch Achbar el Madschmua genannt. Da haben wir schon alle Sagenmotive zusammen: Die Tochter des gotischen Grafen Julian von Ceuta (Nordafrika) wird von ihrem jungen Ehemann, dem Gotenkönig Roderich von Westeuropa, vernachlässigt, der deshalb den Moslems hilft, die Goten zu besiegen; erzählt wird auch von dem Tisch des Salomon in Toledo, den der byzantinische Geschichtsschreiber Prokop schon zwei Jahrhunderte vor der angeblichen Eroberung Toledos in seinen “Gotenkriegen” (I, 12) und “Wandalenkriegen” (II, 9) beschreibt; und besonders der verschlossene Saal mit der Weissagung, der zu einem Märchenmotiv aus dem Orient gehört. Der persische oder jemenitische Heerführer Musa kämpft mit seinen arabischen Berittenen gegen Kupferstatuen, die zielsicher Pfeile abschießen, oder er kommt vor eine Stadt, in der Geister leben, die ihn bitten, weiterzuziehen, was er sogleich tut. Chronik?

Dieses Buch wurde vielfältig abgeschrieben, wobei die einzelnen Geschichten oft groteske Formen annahmen, etwa bei Ibn el Kardabus (d.h. aus Córdoba), dessen Jahresangaben nicht einmal dort miteinander übereinstimmen, wo er sie mit leichter Mathematik noch hätte korrigieren können. Die Regierungsjahre sind einfach nicht aufeinander bezogen, sondern wahllos zusammengestellt.

In diesen “Geschichtswerken” – es gibt eine handvoll davon – kann man eine legendäre Frühzeit mit völlig unglaubwürdigen Nachrichten bzw. zusammengestellten Sagenmotiven herausfiltern und gegen eine den Autoren näherliegende historische Zeit absetzen. Die Sagenzeit liegt gegen Ende des ersten Jahrhunderts der Hedschra-Jahreszählung, die zweite beginnt mit dem Jahr 300 der Hedschra (= 911 AD), der Zeit des glanzvollen ersten Kalifen aller Gläubigen, Abd er-Rahman III, in Córdoba. Die dazwischenliegenden beiden Jahrhunderte sind mit einer trockenen Liste von Herrschernamen ausgefüllt, ohne Ereignisse, oder mit ganz kurzen Angaben, die keine historische Gestalt annehmen. Dabei sind glatte Jahreszahlenangaben wie 25 und 50 für die Regierungszeiten der Kalifen die Regel.

In dem sterilen Zeitraum werden neunzigjährige Herrscher und sogar schon beerdigte, aber wieder aus dem Grab geholte Fürsten der Gläubigen von ebensolchen gläubigen Fürsten gekreuzigt. Für islamische Bräuche kann das eigentlich nicht gelten, es ist aber in den arabischen Texten enthalten. Wenn wir nicht wüßten, daß unsere Orientalisten ganze Arbeit hinsichtlich der Lesung und Übersetzung dieser islamischen Handschriften geleistet haben, würden wir ihre Bücher wegwerfen. Aber über chronologische Probleme oder inhaltliche Widersprüche haben sich die wenigsten Orientalisten den Kopf zerbrochen; sie sahen das nicht als ihre Aufgabe an.

Außerdem gewann ich beim Lesen den Eindruck, daß diese Texte nicht nur ganz unglaubliche Vorkommnisse berichten, sondern auch zu häufig aus christlichen Quellen schöpfen. Der Tenor ist byzantinisch, manchmal sogar katholisch. Da gibt es einen katholischen Spanier, Jiménez von Rada (1180 – 1247), der diese arabischen Chroniken als Handhabe im Kampf gegen den andalusischen Islam verwendet (Olagüe, S.29). Wer nun seinerseits unter den heutigen Historikern diesen Jiménez als verläßliche Quelle angibt, hat Märchen, Lügen und religiöse Streitschriften unbedacht ausgeschöpft. Daraus läßt sich ein Sittenbild des 13. Jahrhunderts entwerfen, kaum mehr.

Schlimmer ist der umgekehrte Fall: Von der Königs-Chronik des islamischen Cordobensers Ahmed ben Mohammed al Razi, der den Beinamen “der Historiker” (al Tarichi) trägt und eine Menge Bücher verfaßt haben soll, gibt es keine einzige Seite mehr, aber eine portugiesische Übersetzung von 1344! Hatten die christlichen Wiedereroberer wirklich solches Interesse an den andalusischen Königslisten? Oder haben sie sie selbst erst verfaßt? Olagüe weiß nun, daß es diesen „Historiker“ nie gegeben hat, sondern daß er ein Vehikel war, mit dem man gefälschte arabische Texte in die Geschichtsschreibung einschleuste.

So sind nun auf der Iberischen Halbinsel weder die islamischen noch die christlichen “Chroniken” jener Zeit vertrauenswürdig, sondern bieten ein Bild wie andere abendländische Texte aus dem gleichen Zeitraum: Es sind politisch bezogene Märchen mit eher religiös nutzbarer Tendenz.

Olagüe sagt über die arabischen Texte (S.217):

“Ohne diese Bestätigung (durch fremde Quellen) bleiben sie verdächtig, wie wenn man heutzutage eine Geschichte Karl d.Gr. schriebe mit Nachrichten von Pater Mariana.”

Die frühen lateinischen Texte

Nicht nur die arabische Eroberung Iberiens hat sich ganz anders abgespielt, auch die davor liegende Eroberung der römischen Provinzen Westeuropas durch Goten und Sueben usw. war keine Haudegengeschichte, sondern eher ein Verwaltungsakt. Der Einsatz der Germanen als Militärinstanz ging rechtmäßig und mit höchstkaiserlicher Billigung vor sich. Auch das hat Olagüe (S. 30) richtig gestellt.

Realistische Quellen und Chroniken über die arabische “Invasion” existieren also nicht, schreibt Olagüe, alle heutigen Schriften sind Wiederholungen von mittelalterlichen Sagen. Einige beziehen sich auf einen kirchlichen Text, den des Isidor Pacense, der seit mehr als einem Jahrhundert als Fälschung erkannt ist. Die beiden Gelehrten Dozy und Saavedra wissen überdies, daß von der Regierungszeit des Gotenkönigs Wamba (680) bis zu Alfons III von León (um 900) keine Chroniken existieren, weder islamische noch christliche, und daß – seltsames Zusammenfallen – für Byzanz, Nordafrika und den Nahen Osten dasselbe gilt. Das hatte schon Louis Brehiér festgestellt: “Vom Ende des 7. Jahrhunderts bis Anfang des 9. Jahrhunderts besteht eine Leere” (zit. in Olague 34). Moderne Chronisten haben es nicht leicht, diese Leere auszufüllen.

Die Ersten Chroniken der Wiedereroberung (der Zyklus von Alfons III, herausgegeben von Gómez Moreno 1932) berichten von der die Wiedereroberung einleitenden Schlacht von Covadonga, in der 124 000 Chaldäer ( = Araber) erschlagen und die übrigen 60 000 über die asturischen Berge verjagt werden, von denen einer (ein Berg) gleich noch einen ganzen Heeresteil unter sich begräbt. Auf diese Art kann man künstlich erzeugte Angreifer wieder aus der Welt schaffen. Entsprechende Sagen, die zur gleichen Zeit erfunden wurden, nennt Olagüe gleich dazu: Die Schlacht von Tours und Poitiers “732”, die Ankunft des Heiligen Jakob in Compostela in Galicien “68 ” (unbekannt vor dem 10. Jh.), die Niederlage von Roland in Roncesvalles “778”, alles “stories”, die nur auf christlicher Seite bekannt sind (Olagüe S. 43 f).

Gar zu unsinnige Geschichten hat man natürlich schon eher wieder unter den Tisch fallen lassen, wie etwa die lustige Episode in der “Chronik” des Sankt Ildefonso (gestorben 667), die “wie man heute weiß, zwei bis drei Jahrhunderte nach seinem Tod geschrieben wurde” (Olagüe 45): Der arabische Prophet Mohammed hält eine Predigt für den Islam in Córdoba, weshalb der heilige Isidor von Sevilla ihn fangen wollte, was ihm aber nicht gelang, da der Prophet, vom Teufel gewarnt, rechtzeitig entkam. “O heiliger Gott!”, sagt Pater Flórez (in Band 5 seiner Heiligen Geschichte Spaniens Mitte des 18. Jahrhunderts) “Daß man das dem Ildefonso zuschreibt!” Was den gelehrten Pater aber nicht an der Gestalt und den Texten des Ildefonso oder Isidor selbst zweifeln läßt. Man schneidet aus, was nicht gut klingt, nennt es “Interpolation”, läßt aber den Rest des romanhaften Textes als Geschichtsquelle stehen und baut darauf neue Folgerungen. (Olagüe 48).

“Wenn schon die Märchen, die die lateinischen Chroniken uns auftischen, das Verdienst haben, daß sich den Gelehrten die wenigen Haare, die sie noch haben, sträuben, dann tritt der Leser beim Lesen (der berberischen Chroniken, das heißt: der islamischen Geschichtsschreibung derselben Zeit) in eine Welt des Phantastischen und Unwirklichen ein” (Olagüe 49),

die etwa 1001-Nacht entspricht. Der Menschenfresser-Trick des General Musa ist Gemeingut der Mittelmeerliteratur von Al-Hakam über Roger von der Normandie bis Wilhelm von Tirus. Die Araber wollten ihre Leser unterhalten, je absurder die “stories”, desto besser. “Eine Geschichtsschreibung im (islamischen) Westen vor Ibn Chaldun gibt es nicht” (Gauthier).

Das gilt allerdings auch für den Orient. Régis Blachère schrieb 1953 die arabische Geschichte neu, um die Koransuren datieren zu können.

Das neue Bild Olagües

Aus den Hinweisen, die uns archäologische Funde wie Inschriften und Münzen geben, rekonstruiert Olagüe nun ein Bild jener Vorgänge, das er in wenigen Worten so zusammenfaßt:

“Beim Tod von Witiza entstand Streit um den leeren Thron zwischen den Söhnen des Verstorbenen einerseits und Roderich andererseits, der nach germanischem Gewohnheitsrecht zum König von Toledo erhoben worden war. Die ersten waren noch minderjährig, weshalb ihre Anhänger, um Roderich zu besiegen, den Herrn der (römischen) Provinz Tingitana (Nord-Marokko), die ebenfalls unter westgotischer Herrschaft stand, (nämlich Graf Julian) um Hilfe baten. Dieser war der Gruppe um Witiza geneigt – vermutlich verdankte er ihm den Posten – und schickte einige hundert Rif-Krieger den Söhnen seines (ehemaligen) Königs zu Hilfe. Mit ihnen besiegten sie Roderich in einer Schlacht, die 711 in Südandalusien stattfand, zwischen Cádiz und Algeciras. Das war der Anfang einer Serie von Bürgerkriegen, die zwischen verschiedenen Führern ausgetragen wurden und siebzig Jahre dauerten.” (S. 52)

Aus dieser Episode, die keine weiteren politischen Folgen für Spanien hatte, wurde die islamische Invasion geschneidert, erläutert Olagüe weiter. Das geistige Fundament dazu lieferten die Abwehrschriften der Kirche gegen gewisse Arianer, die damals angeblich die herrschende Religionsgruppe bildeten. Ein echt anmutendes Schriftstück aus dem 9. Jahrhundert aus Córdoba, das in ganz eigener Handschrift und mit Miniaturen erhalten blieb, bezeugt das Vorhandensein dieser “Ketzerschriften”. Ob die von Schepps 1885 in der Universitätsbibliothek von Würzburg gefundenen elf kleinen Schriften Priscilians, die in westgotischer Handschrift aus dem 5.-6. Jahrhundert vorliegen, echt sind, bleibt dabei offen (Olagüe Anhang I). Isidors Gotengeschichte dagegen ist fabulös, keineswegs als Chronik zu werten, sondern ein “Preislied auf die Goten”, wie Thompson 1969 sich ausdrückt. Aber auch Olagüe geht noch nicht so weit, dieses berühmte Werk als Kompilation einer viel späteren Zeit zu entlarven.

In bildstarker Sprache und faszinierend bis zum Schluß rollt Olagüe die Geschichte der Islamisierung und der anschließenden “Wiedereroberung” Spaniens auf und stellt eine völlig neue Sicht dar, die zwar noch mit keinem Wort den chronologischen Sprung erwähnt, – das konnte Olagüe trotz direkter Spenglernachfolge doch nicht ahnen – aber eigentlich nur diesen Schluß zuläßt.

Er geht das Problem zunächst architektonisch an, in der Methode also wie Illig (1992), der die Erstellung des Main-Donau-Kanals und (1994) beispielhaft die Datierung des Aachener Doms in Frage stellte. Olagüe untersucht die wichtigste Moschee des islamischen Andalusien, die Freitagsmoschee von Córdoba. Der berühmte architektonische Hufeisenbogen ist nicht aus Syrien gekommen, sondern schon in vorchristlich römischer Zeit auf iberischem Boden heimisch und in mehreren westgotischen Kirchenbauten von Kastilien bis zur französischen Loire vorhanden, stellt Olagüe fest, und zwar vom 7. Jahrhundert (traditioneller Datierung) an, also vor Beginn des arabischen Einflusses.

“Und schauen Sie in diesen Säulenwald der Moschee von Córdoba! Als Moslem hat man da Schwierigkeiten, denn vor lauter Säulen sieht man den Vorbeter nicht, und gerade das ist eine Grundbedingung, die an die islamische Architektur gestellt wird: daß man beim Gebet den Blick auf den Vorbeter frei hat.” (Vorwort)

Auch katholisch kann dieser Säulenwald nicht sinnvoll sein, führt Olagüe weiter aus, denn der Blick auf den Priester bei der Wandlung ist höchst wünschenswert und in der zentralen Achse aller gotischen Dome zur Perfektion gebracht. Wer hat dann diese berühmte Moschee für den Gottesdienst geschaffen?

Nach diesem Prolog, der die Spannung erzeugt, die mich das 500-Seiten-Werk in einem Zuge durchlesen ließ, legt Olagüe das historische Problem bloß: Die angebliche arabische Invasion Spaniens wurde durch christliche Historiker erst in die Welt gesetzt, indem sie einige obskure arabische Legenden dazu ausbauten und als Fakten vorbrachten, um einer katholischen “Rückeroberung” den Boden zu bereiten. Als Vorlage nahm man sunnitisch-fundamentalistische Missionsschriften des 11. und 12. Jahrhunderts, in denen eine irrationale Gewalt, die in kaum 50 Jahren ein islamisches Weltreich von Innerasien bis zum Atlantik geschaffen habe, als göttlicher Wille erklärt wurde. Die bis dahin in ihrem Selbstbewußtsein gedemütigten christlichen Goten konnten nun erleichtert aufatmen und sich zugleich eine “historisch” und religiös begründete Rechtfertigung zur Umkehrung der Eroberung schaffen.

Als Kenner des arabischen Wüstenkrieges hatte schon General Brémond in seinem Buch Berber und Araber (Paris 1950) die vermeintlichen Heldenzüge der Araber des 7. Jahrhunderts als aufgebauscht und absurd erklärt, so wie wir heute wissen, daß die ersten Kreuzzüge der Christen ins gelobte Land eher Pilgerfahrten waren, (wie sich Borst ausdrückt). Wenn man wie General Brémond aus eigener Erfahrung (1916/17) in Arabien weiß, wieviel Wasser ein Pferd täglich trinkt, nämlich 40 Liter, dann nimmt man bei Zahlenangaben über Reiterheere eine strenge Prüfung vor. Auch die Behauptung der Chronisten, man hätte Kamele, die ja bedeutend weniger Wasser brauchen, mit den Pferden zugleich im Kampf verwendet, hält General Brémond für unglaubwürdig, denn Pferde und Kamele können sich gegenseitig nicht “riechen”, sie revoltieren, wenn man sie nebeneinander einsetzt (zit. in Olagüe S. 21).

Olagüe baut nun ein überraschend neues Szenarium auf, das aber am Ende der Lektüre ganz vertraut anmutet, so als hätte man es schon immer gewußt. Er entdeckt keine unbekannten Chroniken oder gräbt verschollene Zeugnisse aus, sondern benützt seinen gesunden Menschenverstand und fügt das, was wir ohnehin über Byzanz und Islam wissen, zu einem stimmigen Bild zusammen.

Als Gegner der byzantinischen Herrschaft und mit ähnlicher Geisteshaltung wie ein Großteil der damaligen “Christenheit”, nämlich einer den Arianern nahestehenden Reformbestrebung, hatte die islamische Missionsbewegung in Nordafrika und Westeuropa einen Heimvorteil, der ihr Haus und Hof öffnete. Unter Ausnützung gotischer Familienzwiste gelang es einigen Berberstämmen, die von Goten in Andalusien und Nordafrika als Hilfsheere benützt wurden, schon in kurzer Zeit, sich eines großen Teils der Iberischen Halbinsel zu bemächtigen. Erst Jahrhunderte später durch die berberischen Almoraviden wurde daraus eine echte (sunnitische) Islamisierung Andalusiens.

Man kann die Erkundung an der Baugeschichte der Moschee von Córdoba festmachen oder an einer Herrschergestalt, etwa dem Gründer des andalusischen Kalifenreiches, Abd er-Rahman, der – angeblich als Flüchtling aus Syrien – im Jahre 756 in dieser Moschee zum Herrscher der Gläubigen ausgerufen wurde und (nach Olagüe, S. 16) so aussah: “hochgewachsen, mit blauen Augen und rotem Haar, weißer Haut, ein typischer Germane,” also vermutlich ein Gote war, der seine Verwandten endlich niedergerungen hatte.

Nur: wann er gelebt hatte, wenn er nicht ganz zur erfundenen Sagengestalt abgestempelt werden soll, das ist fraglich.

Die islamischen “Chroniken” des 11. Jahrhunderts sind pure Erfindungen zum Ruhme des Islam, sagt Olagüe (S. 33) und beweist es mit einer großen Zahl von Details, von denen ich die leichter zugänglichen wie Al Makkari, Ibn Adhari, Ibn al Kardabus u.a. nachgelesen habe und die Richtigkeit von Olagües Einschätzung unterstreichen kann.

Chronologischer Unfug

Je länger sich Olagüe mit den Problemen der spanischen Geschichtsschreibung beschäftigt, desto mehr staunt er darüber, was da alles zutage tritt. Die theologischen Texte des 8. und 9. Jahrhunderts wenden sich gegen verschiedene Ketzer und deren Lehren, meist arianischer Art, wie etwa die Adoptionisten, kennen aber keinen Islam: Weder Migecius (774-785 verfaßt), noch Felix von Urgel, noch Elipando von Toledo (ab 784) haben je von Mohammed oder den Arabern gehört – wo doch gerade der Landesherr des letzteren der erste Omayade im Westen gewesen sein sollte, Abd er-Rahman I, “der Flüchtling”. Olagüe erkennt (S. 415), daß diese Schriften gegen die Adoptionisten eine Art Kompromiß katholischer Bischöfe unter Führung des Primaten von Toledo sein könnten, weshalb in Frankfurt ein Konzil gallischer und germanischer Bischöfe abgehalten wurde, das die Adoptionisten verdammte.

Dieses Frankfurter Konzil ist allerdings nebulös.

Die Akten der ersten 37 Konzilien Spaniens (300 bis 700 AD) – ein ganzer Berg Pergamente (herausgegeben von Vives 1963) – sind voller wüster Erotismen, die viel eher ins 15. und 16. Jahrhundert passen und nicht einmal Bibeltexte respektieren. Fast die Hälfte aller Sentenzen des Konzils von Elvira (bei Granada, 300-306) wendet sich gegen Ehebruch, Bigamie und Inzest.

Pünktlich gegen 700 tritt dann eine längere Konzilienpause ein, bis einige Briefe christlicher Kleriker aus dem 9. Jahrhundert, wie etwa der des Eulogio von 857, erstmals doch echte Hinweise auf einen in Andalusien eindringenden, noch friedfertigen Islam enthalten (S. 212f). Da wird schon eine der typischen Preisformeln auf den Propheten (wahrscheinlich Mohammed) in Latein zitiert:

“Psallat Deus super Prophetam et salvet eum” ( = Gott segne den Propheten und grüße ihn)

oder sogar in klanglich fast richtiger Wiedergabe des arabischen Satzes, wie wir ihn heute aussprechen würden (Salli Allahu aleihi ve sallim, wobei hier noch der Prophet eingefügt ist:)

“Zalla Alá Hala Anabi v. A. Zallen.”

Der Übergang von der lateinischen Formel zur arabischen ist vermutlich schrittweise und friedlich vor sich gegangen, genau wie bei den Münzaufschriften (s.u.).

Diese Entwicklung ist durchaus erkennbar. Zwischen dem letzten „katholischen“ Konzil und den ersten Hinweisen auf einen duldsamen Islam sollen 150 Jahre vergangen sein.

Die chronologischen Ungereimtheiten, die daraus entspringen, und die militärisch absurden und politisch unglaublichen Falschmeldungen über den mit Feuer und Schwert eingeführten Islam zwingen uns zu einer Neuordnung der spanischen Geschichte. Sie muß davon ausgehen, wie Olagüe erklärt, daß auf beiden Seiten des westlichen Mittelmeers eine einheimische Bevölkerung auf Grund ihres arianischen Glaubens schon bereit war, den Islam zu akzeptieren, als dieser in den Bruderkriegen germanischer Herrscher mit Hilfe berberischer Heere ausgebreitet wurde.

Die zeitliche Einordnung kann sowohl nach der julianischen Era als auch nach der späteren Hedschra-Zählung erfolgen, nur muß deren Verschiebung gegeneinander sowie die davon ganz unabhängige Jahreszählung nach Christi Geburt erst neu geeicht werden.

Wenn auch Olagüe dies grundsätzlich schon erkannt hatte, wagte er doch mit keinem Wort, die Jahreszahlen selbst anzugreifen. Sein großes Vorbild, Oswald Spengler, hatte in seinem Hauptwerk schon Klarheit geschaffen, wenngleich man ihm dies nur als philosophischen – nicht chronologischen – Ansatz abnehmen wollte.

Isidor und die Westgoten

Mit unseren neuesten Erkenntnissen muß man auch Isidor von Sevilla als Kunstfigur und viele seiner Texte als Streitschriften des Hochmittelalters bezeichnen. Als Nachrichtenquelle für die Ereignisse im Westgotenreich bis zum 7. Jahrhundert kommen sie kaum in Frage. Schaut man sich Isidors Gotengeschichte als neutraler fremder Beobachter an, dann spürt man, daß dieses Preislied von einem Goten selbst geschrieben sein dürfte. Isidor, der Provinzrömer aus Sevilla, kann nicht der Urheber sein. Da gibt es Lokalkolorit, das etwa León und Kastilien betrifft, dort wo noch heute die Campos Godos (die gotischen Felder) sich erstrecken, und wo man seit altersher bis heute die beste Form des Kastilischen spricht, also das moderne Spanisch.

Erstmals in der Literatur taucht in der Gotengeschichte die durchgehende Benützung von Jahreszahlen nach der julianischen Era auf (hier Aera genannt), stellenweise gekoppelt mit den Regierungsjahren der römischen Kaiser. Da gibt es allerdings viele “Rechenfehler”, wie Mommsen und Zeumer herausfanden.

Über die Anfänge des Gotenvolks bringt Isidor nur den allgemein verbreiteten Unsinn, und als erstes Datum:

“Im Jahre 12 vor der Aera, als die Konsuln Pompeius und Caesar den Bürgerkrieg um die Herrschaft in der Republik begannen, kamen die Goten nach Thessalien, um Pompeius gegen Caesar zu unterstützen.”

Und als nächstes Datum folgt: “Im Jahre 294 der Aera, im ersten Kaiserjahr von Valerian und Galieno, stürmten die Goten von den Alpen herab und zerstörten Griechenland, Makedonien, den Pontus…”

Offensichtlich sind beide Daten viel später rückerrechnet. Das zweite liegt um 3 Jahre falsch. Wäre die Notiz damals selbst aufgeschrieben worden, dann hätte sie das Datum 291 der Aera tragen müssen, als sich Valerian und Galieno, Vater und Sohn, zu Kaisern ausriefen ließen.

Schlimmer steht es mit dem Ausdruck “vor der Aera” für das erste Datum, denn Jahresangaben in diesem Sinne, etwa “vor Christus”, kommen erst im Hochmittelalter auf, jedenfalls nach unserem Jahr 1000. Außerdem enthält die Umrechnung auf “12 vor der Aera” den typischen Fehler, der das Jahr 1 christlicher Zeitrechnung um 7 Jahre zu spät ansetzte. Der Text dürfte also aus dem 12. Jahrhundert frühestens stammen, dem heiligen Isidor ist er nicht anzulasten.

Seltsamerweise finden wir in diesem Werk die Nachricht über die gotische Bibelübersetzung durch Wulfila, angesetzt auf “Aera 415”. Nach den bekannten byzantinischen Quellen soll Wulfila seine Mission bei den Goten schon im Jahr 386 Era abgebrochen haben. Da klafft eine Lücke von rund 30 Jahren. Es scheint auch fraglich, ob man im spanischen Westgotenreich von dieser Missionstätigkeit am Schwarzen Meer gehört haben könnte. Vielleicht liegt hier eine “Einfügung” vor, die Wulfilas Bibelschöpfung bekräftigen soll (mit dem Umrechnungsfehler der 38 Jahre der spanischen Era behaftet). Jedenfalls hat sich im gesamten Westgotenreich nicht einmal das Bruchstück einer Seite dieser vermeintlichen Gotenbibel gefunden. Sollte die Bücherverbrennung so hundertprozentig gewesen sein? Und: Wer verbrennt Bibeln? Außerdem scheint den Humanisten da ein Schnitzer unterlaufen zu sein, denn die wenigen Fragmente dieser westgotischen Missionsbibel fand man in Italien, im Herrschaftgebiet der Ostgoten.

Der Wert der Jahresangaben ist bei Isidor ohnehin zweifelhaft, denn er hielt sich nicht an Augustins Warnung vor chiliastischer Jahresrechnerei, sondern “verwandelte Zahlensymbole für das Zeitlose in Rechenformeln für hiesige Geschichte”, wie Arno Borst sagt (1990, S.31).

Isidor folgt dabei einigen auch anderweitig bekannten Quellen, so etwa dem heiligen Hieronymus, der seinerseits das Werk des Eusebius fortsetzte, (bis 378), dann dem Orosius (bis 417), der aber auch seltsam anmutende Nachrichten bringt, wie zum Beispiel diese:

Philippus, der 24. Kaiser seit Augustus, regierte vom Jahre 997 seit Gründung der Stadt (Rom) sieben Jahre lang, zusammen mit seinem Sohn Philipp. Er war der erste christliche Kaiser. Im dritten Jahr seiner Herrschaft erfüllte sich das erste Jahrtausend Roms. Decius ließ ihn töten. So beging Philippus, der Araber, die Tausendjahrfeier Roms in christlicher Weise, ohne Opfer im Kapitol (Adversum paganos, VII, 20).

Ob Kaiser Decius ihn töten ließ, ist ungewiß; als Wüterich gegen die Siebenschläfer genießt Decius schlechtestes Ansehen. Es scheint mir auch fraglich, ob römisches Militär tatsächlich einen Christen auf den Thron hob, um die Tausendjahrfeier der bis dahin heidnischen Stadt christlich zu begehen. Das soll sich im Jahr 248 abgespielt haben, als Christenverfolgungen üblich gewesen sein sollen. Der erste christliche Kaiser – vielleicht war er auf dem Totenbett arianisch getauft worden – wäre Konstantin ein Jahrhundert später gewesen. Daß die Tausendjahrerwartung als christliche Geistesströmung erst viele Jahrhunderte später aufkam, gilt jedenfalls als erwiesen, – sofern uns aus dieser mit Fälschungen so reich bedachten Zeit überhaupt noch Fakten, zumindest große Strömungen, als gesichert gelten können. Orosius jedenfalls und seine “erste Universalgeschichte des Abendlandes” sind fälschungsverdächtig. Abgesehen von Isidor und Gregor von Tours, – beides sehr späte Schöpfungen katholischer Autoren – wird sie erst ab dem 12. Jahrhundert, dann aber als unbezweifelte Grundlage für viele Geschichtswerke, ausgewertet. Sogar Ibn Chaldun (14. Jh.), der erste ernstzunehmende arabische Historiker, kannte eine Übersetzung dieses Werkes, das angeblich Kaiser Romanos II von Byzanz dem Kalifen Abd er-Rahman III von Córdoba geschickt hatte. (Rosenthal 1952, zit. in Olagüe)

Ein Schriftsteller, den Isidor wörtlich übernahm, war der in gotischen Diensten in Italien ein Jahrhundert vor Isidor wirkende Cassiodor Senator, der auch schon eine Gotengeschichte (nach Prokop) verfaßt hatte sowie ein Chronikon mit der Weltgeschichte von Adam bis 519 n. Chr., außerdem eine Osterfesttafel, die aber heute als spätere Unterschiebung gilt. Da keine alten Handschriften vorliegen, ist es unmöglich festzustellen, ob diese Werke in jener Zeit oder Jahrhunderte später geschrieben wurden.

Noch ein Beispiel von Isidor: In De viris illustribus nennt er das Kloster Biclara,

“gegründet von Joh. von Gerona, der dort eine Chronik und vieles andere schrieb, was aber mir (Isidor) nicht bekannt ist, wobei er Victor von Tunis auswertete, dessen Chronik von 566 bis 590 reicht.”

Auf diese Weise werden Querbestätigungen erzielt. Daß die Chronik des Mönchs von Biclara viele Jahrhunderte später gefälscht wurde, weiß man inzwischen.

Ein Zeitgenosse und Landsmann Isidors, der sich in drei Bänden über das Chiliasmus-Problem ausließ, der heilige Julian, war von jüdischer Herkunft, wie im Isidor Pacense behauptet wird, (der aber schon lange als späte Fälschung gilt). Julians Text Zum Nachweis des 6. Zeitalters gegen die Juden, in dem die Messiaserwartung der Juden nach haggadischer Lehre mit der Tausendjahrreichvorstellung der Christen verknüpft wird, könnte jedoch frühestens im “goldenen Zeitalter jüdischer Wissenschaft” (Millás), 940 – 1040, verfaßt sein.

So schrumpfen die ohnehin nicht sehr reichlichen Geschichtswerke des lateinischen Mittelalters immer mehr dahin. Schauen wir uns noch eine weitere Stütze gotischer Geschichte und julianischer Zeitrechnung an: Hydatius (auch Idacius geschrieben), bis zu seinem Tod 470 Bischof in Chaves im heutigen Nordportugal, dessen Chronikon die neunzig Jahre von 379 bis 469 umfaßt und als Augenzeugenbericht seiner Lebensspanne gilt, in Fortsetzung der Chronik des Hieronymus.

In den Handschriften seiner Werke gibt es nur zwei Stellen, wo die Era-Daten mitten im Satz stehen, also nicht als spätere Anfügung erklärt werden können. Dennoch muten sie seltsam an. An einer Stelle erwähnt er ein Ereignis in seiner Heimat Galicien:

“An den 6. Nonen des März Era 500 war der Vollmond in Blut verwandelt, und das war an einem Freitag.”

Das wäre also der 2. März 462, der tatsächlich auf einen Freitag fiel. Nun stehen im Hydatius zu dieser Angabe noch zwei Randbemerkungen:

” = 6. Jahr des Kaisers Leo und 311. Olympiade. Es wurden mehrere Wunder gesehen in der Provinz Galicien.”

Derartige Anfügungen sind als der wohlgemeinte Versuch zu werten, das Chaos der Datierungen zu sichten; nach heutiger Auffassung fällt das 6. Regierungsjahr von Kaiser Leo dem Großen von Byzanz tatsächlich auf 462, die 311. Olympiade jedoch nicht. Olympiaden feierte man damals nicht mehr, und eine künstliche Weiterrechnung hätte für dieen Zeitpunkt vier Jahre später ergeben müssen. Nach Ginzel (Bd. III) hatte man schon gegen Ende des vorherigen Jahrhunderts, nämlich mit der 293. Olympiade (nach anderen schon viel eher, mit der 269.) aufgehört, nach Olympiaden zu zählen.

Die glatte Era-Zahl des Hydatius, 500, läßt an chiliastische Träumereien denken, sie wurde ja später als ein Fixpunkt der Messiaserwartung bezeichnet; das “Blutereignis”, noch dazu an einem Freitag, dem Leidenstag Jesu, gehört in diese Denkkategorie, ebenso wie die nicht näher bezeichneten “Wunder”. Das dürfte alles spätere Rückprojektion sein, aus der chiliastischen Erwartung des 13. Jahrhunderts gesehen.

Die andere Erwähnung eines Era-Datums durch Hydatius bezieht sich auf die Einwanderung der Alanen, Wandalen und Sueben (in dieser Reihenfolge!) in Hispania im Jahre 447 ( das ist 409 n.Chr.), “als Alarich, König der Goten, in Rom eindrang” (was aber 410 nach heutiger Rechnung stattfand). Dieses Datum ist “notorisch” zu nennen und garantiert rückerrechnet, vor allem wenn wir (mit Krusch) ernstnehmen, daß die Era-Zählung frühestens ein halbes Jahrhundert später (455) durch Geiserich in Gebrauch kam.

Während wir im Hydatius arianisches Denken erwarten können, da er ja vor Recared lebte, der (angeblich) mit seinen Goten zum Katholizismus übertrat, wirkt dies bei Isidor, dem strengen Katholiken, befremdend; er berichtet (im Chronikon, 97) von der arianischen Taufe Kaiser Konstantins auf dem Sterbebett, die aber anderen Autoren unbekannt ist. (Konstantin starb vermutlich ungetauft). Aufschlußreich sind Isidors haßerfüllte Sätze über König Geiserich (Kap. 74):

“Er wurde aus einem katholischen Christen ein Abtrünniger und soll sich als erster zu der arianischen Irrlehre bekannt haben.”

Das paßt nicht zu anderen Behauptungen jener Zeit, denn diese osteuropäischen Völkerschaften waren nach allgemeiner Ansicht von Beginn ihrer Bekehrung an Arianer. Wenn Geiserich vom Christentum abtrünnig wurde und eine Irrlehre annahm, kann es nicht der Arianismus, sondern nur eine naheligende Ketzerei wie der Islam gewesen sein. Nach Isidor sei das im Jahr 428 n. Chr. geschehen.

Entsprechend Illigs neuer Rechnung ist das Jahr 106 Hedschra jetzt 428 n. Chr. (325 n. Chr. = 1 H, plus 103 Sonnenjahre = 106 Hedschrajahre ergibt 428). Zu diesem Zeitpunkt (106 H) wäre der Islam in Andalusien gerade erst bekanntgeworden. Im nächsten Jahr setzte Geiserich mit einigen Wandalen-Stämmen nach Afrika über (und zwar direkt nach Karthago), bewegte sich also in religionsbrüderlichem Umfeld. So erklärt sich der Grund für den Religionswechsel und auch die Möglichkeit für die Besetzung Nordafrikas.

Wo Isidor auf den arianischen Glauben der Goten oder Wandalen zu sprechen kommt, wird seine Ausdrucksweise geradezu unflätig, auf jeden Fall unsachlich. König Leovigild (Kap.49), dem “der größte Teil von Spanien gehorchte” – erstmals einem Goten – gilt Isidor als großer Held.

“Nur der Irrtum der Ketzerei verdunkelte den Ruhm solcher Tapferkeit”,

denn (Kap. 50)

“er trieb durch Schreckmittel viele zum Übertritt in die arianische Pestilenz … und wagte sogar außer anderen ketzerischen Schändlichkeiten die Katholiken umzutaufen, und zwar nicht nur Laien, sondern auch Mitglieder des Priesterstandes, so den Vincentius von Saragossa, der aus einem Bischof ein Abtrünniger wurde und sozusagen aus dem Himmel in die Hölle geschleudert wurde.”

Tatsächlich war Saragossa ein früher Stützpunkt des Islam in Nordspanien.

Von König Hunerich, dem Sohn Geiserichs, weiß Isidor zu berichten, daß er

“von arianischer Glaubenswut entflammt die Katholiken in ganz Afrika verfolgte … und ins Exil schickte. Er machte viele zu Blutzeugen, ließ den Bekennern die Zungen abschneiden, die danach, trotz abgeschnittener Zunge, ganz gut bis an ihr Lebensende reden konnten” (Kap. 78).

Der Bischof Laetus von Nepte (Leptis oder Ledda?) wurde

“mit ruhmesvollem Martyrium gekrönt. Da er nämlich trotz mannigfacher Strafen nicht dazu gebracht werden konnte, sich mit der Seuche arianischer Ketzerei zu beflecken, ging er plötzlich siegreich in den Himmel ein. Hunerich aber hatte nach unzähligen Freveln, die er gegen die Katholiken ausübte, im achten Jahr seiner Herrschaft dasselbe Ende wie sein Vater Arius: sein ganzes Inneres löste sich auf, und so kam er elendiglich um” (Kap. 79).

Ob die Herrschaft Hunerichs bis Ledda bei Tripolis reichte, ist fraglich; beglaubigt sei, daß er nicht Sohn von Arius, sondern von Geiserich war, und daß Arius nicht durch innerliche Auflösung sondern vermutlich durch Gift eines katholischen Würdenträgers umkam. Man erkennt hier nicht nur die propagandistische Absicht der Kirche, sondern geradezu ihre Vorwärtsverteidigung gegen Anschuldigungen, die wahrscheinlich zur Zeit der Abfassung des Isidorbuches erhoben wurden. Wann könnte das gewesen sein? Einiges deutet darauf hin, daß diese Rechtfertigung erst nötig wurde, als der “Arianismus” auf der Iberischen Halbinsel und in Nordafrika durch die sunnitischen Almoraviden besiegt wurde, also im 4. Jahrhundert der Hedschra, was ins 10. Jahrhundert unserer Zählung fällt.

Die Schiefertafeln von Salamanca

Um in diesem Wirrwarr der gotischen Königslisten eine Ordnung zu erlangen, boten die in der Provinz Salamanca gefundenen Schiefertafeln einige Hoffnung auf weitere Anhaltspunkte (siehe Gomez 1966). Eine 1989 durch Isabel Velazquez durchgeführte Untersuchung von 104 Schiefertafeln aus der Umgebung von Salamanca soll zeigen, daß damit die gotischen Könige des 7. Jahrhunderts und ihre Regierungsjahre auch aus unabhängiger Quelle bestätigt werden. Die recht rustikalen Texte in Latein bringen einige Era-Daten kombiniert mit den Regierungsjahren von Receswint, Recared u.a., die mit den in den Pergamenten überlieferten Daten ungefähr übereinstimmen. Natürlich ist die Lesung der gekritzelten Zahlen nicht immer leicht, und vorgefaßte Datenkenntnis führt dann schnell zu Übereinstimmungen, die ohne derartige Beeinflussung nicht möglich wären. Aber mit dem guten Willen, den wir hier voraussetzen, fand man in den Texten dieser Tafeln Verträge und Datierungen, die das Modell der Gotenkönige stützen. Da ich selbst 1972 einige dieser Schiefertafeln am Ufer des Tormes gefunden habe, kann ich zunächst bestätigen, daß ein Vorwurf der Fälschung absurd ist. Diese kleinen Steinplatten liegen am Flußufer in großer Zahl herum und ihre Inschriften dürften echt sein. Allerdings sah ich in den Ritzungen nur unbedeutende Schreibübungen von Schülern, hauptsächlich mathematische Übungen. Es gibt auch Sätze, aber Dokumente von Verträgen können es m.E. nicht sein (s.Abb.). Vielleicht hat sie eine Flut aus einem eingestürzten Schulgebäude herausgespült. (Abbildung: Zwei Schiefertafeln vom Tormes, Salamanca)

2 Schiefertafeln vom Tormes (Salamanca)

Am Ende fügt sich wie bei einem guten Puzzlespiel der größte Teil der Fragmente zusammen: Die viertwichtigste Ethnie im islamischen Andalusien, die Saqaliba-Slawen (Topper ZS 4-95, 466) am Hofe der Emire von Córdoba, sind die nicht abgewanderten Wandalen, die einen bedeutenden Teil des Heerbanns bildeten, und der Säulenwald in ihrer Moschee in Córdoba, der Olagüe so erstaunte, bildet den Wald nach, in dem die Wandalen am liebsten beteten. Der erste große Sufi von Córdoba, Ibn Masarra, war wohl Sohn eines Wandalen (Topper 1984, 19), wie vielleicht auch der erste Emir, Abd er-Rahman (Olagüe, s.o.). In Nordafrika werden die Wandalen von den Arabern übrigens Magos (Perser) genannt, das bezieht sich eigentlich auf den Iran, was nicht völlig falsch ist, wenn man sich daran erinnert, woher diese Wandalen eigentlich kamen. Daß diese Magos-Wandalen bei der fatimidischen Eroberung Tunesiens noch als geschlossene Volksmasse vorhanden waren, geht aus den arabischen Texten klar hervor.

Es gäbe hier also den seltsamen Fall, daß eine Volksgruppe auf der Wanderung sich auf zwei verschiedenen Wegen begegnet wäre: Als Wandalen strebten sie vom sassanidischen Kulturbereich fort durch die Ukraine und Schlesien über den Rhein und die Pyrenäen nach Andalusien und von dort über die Meerenge nach Nordafrika bis Karthago; dort kamen ihnen von Persien die Magos entgegen, ihr eigenes Volk, das inzwischen Jerusalem erobert hatte und über Ägypten und Lybien nach Karthago vordrang. Seitdem sind sie dort als Magos verzeichnet.

Der Name Andalusien wird volkstümlich wie auch akademischerseits vom Volk der Wandalen abgeleitet. Der Verlust des W-Anlauts gilt als belanglos beziehungsweise phonetisch erklärlich. Nach meiner vorgeschlagenen Gleichsetzung der Anten der Byzantiner Jordanes, Prokop (6.Jh.) und Theophylakt (7. Jh.) mit den Veneti (Zwischenform Heneti) = Wenden, Wandaler (ZS 4-96, 465) wäre das fehlende W sinnvoll. Ganz und gar nicht sinnvoll ist jedoch, daß ein für wenige Jahre durchziehendes fremdes Volk (maximal von 409 bis 429), das noch dazu nur als Räuber und Zerstörer in Erinnerung blieb (“Wandalismus”), dem einstigen Hochkulturgebiet Iberien für alle Zeit seinen Namen aufgezwungen haben soll. Al-Andalus umfaßte in islamischer Zeit den größten Teil Hispaniens, bis zur Grenze von Galicien, Navarra und Katalonien. Da die Saqaliba (= Slawen, Wenden) politisch die viertwichtigste Ethnie im islamischen Kalifat Andalusien waren (Topper, 466), könnten sie – im Gegensatz zu der geringen Anzahl der adligen Perser-Araber und der Negersklaven – mit den Berbern etwa gleichstark verteten gewesen sein. Als vorherige Herrschaftsschicht und – nach Olagües neuem Bild – als weiterhin tonangebende Ethnie könnten sie durchaus dem islamischen Al-Andalus den Namen gegeben haben.

Die von Olagüe angedeutete Religion der Wandalen, die meist mit dem Begriff Arianismus umschrieben wird, dürfte eher eine synkretistische vorchristliche Gestalt gehabt haben, dem berberischen Synkretismus vor der sunnitischen Eroberung vergleichbar (Topper VFG 3-94, 54 ff), wie aus den zahlreichen – wenn auch bisher kaum eingeordneten – archäologischen Funden hervorgeht.

Die spanische Bezeichnung “mozarabe” ist ebenso nichtssagend. Sie soll implizieren, daß es sich bei diesen Volksgruppen, die einfach eingemeindet wurden, um eine frühe, eventuell byzantinische Form des Katholizismus gehandelt habe, was als propagandistische Verdrehung seitens der Wiedereroberer von Vorteil war. Es wurden mönchsartige Siedlungen mit Wohnzellen, kleinen Basiliken und großen Taufbecken ausgegraben. Beachtenswert sind die aus dem gewachsenen Fels gehauenen Gräber in Körperform (selten in Deutschland und Frankreich, aber ab Soria in Spanien und Katalonien bis Galicien und vor allem Andalusien in großer Zahl erhalten, ebensfalls in Nordafrika), die von den Ausgräbern ins 9.-10. Jahrhundert eingeordnet werden. Die frühesten Gebäude, meist Königssäle mit Reliefs und Wandmalereien, stammen etwa aus dieser Zeit und zeigen noch keine christlichen Symbole, sondern die verschlungenen “germanischen” Muster sowie heidnische Zeichen (Sonnen, Hakenkreuze, Sterne …), womit sie den Felsmalereien von Peña-Tu, Las Batuecas und Cádiz entsprechen. An den letzteren kann man deutlich die Entwicklung zum Kreuz-Kult ablesen. Die uneinheitliche religiöse Form, die dem ausgeprägten Stammespartikularismus der Berber und Wandalen zuzuschreiben ist, wird erst durch den Almoravidensturm im 11. Jahrhundert gewaltsam abgebrochen. Gleichzeitig setzt im Norden Hispaniens die Katholisierung ein.

Dieser skizzenhafte Entwurf resultiert aus Olagüe und führt ihn fort, kann aber hier nicht weiter ausgeführt werden. Ich möchte nur noch auf einen bedenkenswerten Hinweis eingehen, den Olagüe zuerst anschnitt:

Die zweisprachigen Münzen Andalusiens

Der Übergang von der römisch-byzantinisch bestimmten Verwaltung des Landes zur arabisch-persischen war offensichtlich friedlich und schrittweise vor sich gegangen: die zweisprachigen Münzen legen dafür Zeugnis ab. Olagüe unterscheidet zwischen “unitarischen” (also dem späteren Islam zuneigenden) und „trinitarischen“ (katholischen) Münzen.

Ilya U. Topper beschäftigte sich eingehend mit dem Problem (siehe VFG 4-94, 66f). Er hatte bei der Lektüre von Codera (1879) herausgefunden, daß die frühesten islamischen Münzen in Nordafrika und Spanien noch rein lateinische Aufschriften tragen, die islamische Formeln wiedergeben, ohne den Namen des Propheten zu erwähnen (!); sie bringen auch Jahresangaben in römischen Ziffern, manchmal auch das Indiktionsjahr, das im Römischen Reich (etwa) ab 315 n.Chr. gezählt wurde. Diese Aufschriften in lateinischen Lettern lauten etwa so:

INNDMNIMSRCSLDFRTINAFRC

auf der Vorderseite, und rückseitig

NNESDSNISVNSCVNULALI

um das Wort SIMILIS

herum.

Das sind keine der üblichen römischen Abkürzungsformeln! Wenn man das semitische Sprachmuster zugrundelegt, bei dem fast nur die Konsonanten geschrieben werden, lesen sich die beiden Buchstabenschlangen so:

IN Nomine DoMiNI MiSeRiCordii SoLiDus FeRiTur IN AFRiCa

das heißt: “Im Namen Gottes, des Barmherzigen, ein Sold, in Afrika geprägt”, also fast die genaue lateinische Übersetzung entsprechender späterer Münzaufschriften in arabischer Sprache, (nämlich “Bismillahi Rrahman, Duriba hada adDinar fi …”).

Und die Buchstaben auf der Rückseite lauten ausgeschrieben:

NoN ESt DeuS NISi VNuS CVi NULlus ALIus – SIMILIS

das heißt: “Es gibt keinen Gott außer einem und kein anderer ist ihm gleich”, das ist das islamische Glaubensbekenntnis in seiner ältesten Form ( arabisch würde es lauten: “La ilaha ill Allah wahdahu la scharika lahu”). Ab 864 taucht auf den Münzen auch folgender Satz (wie in Jesajas 45, 21) auf: “In nomine domini, non Deus nisi Deus solus sapiens, non Deo similis alius” = Im Namen des Herrn, es gibt keinen Gortt außer Gott, der einzige und weise, und niemand ist Gott gleich. Diese Formel wurde angeblich von den Arianern gegen die Trinitarier verwendet (Olagüe S. 195).

Diese nordafrikanischen Münzen tragen in der Mitte auf der Vorderseite eine Säule auf einem Podest, die sehr ähnlichen spanischen Münzen jener Zeit tragen einen achtstrahligen Stern. Die Aufschriften sind praktisch gleich, statt AFRC steht SPANI oder SPN als Prägungsstätte. Die allerersten Münzen dieser Art haben noch keine Jahreszahl, diese beginnen erst mit AN oder ANNO XCVII (97), vielleicht auch XCI (91) oder XCIII (93), was bei der schlechten Prägung nicht leicht zu erkennen ist, da ein Strich I verlorengehen kann oder zwei Striche II als V lesbar sind. Die auf einigen Münzen zusätzlich angegebenen Indiktionsjahre, also INDC XI = Indiktion 11, entsprechen leider nicht genau den vorigen Jahresangaben, wenn man sie auf Hedschra bezieht, was in diesem Falle das Jahr 714 bis 715 ergeben würde. Wenn das Jahrhundert falsch ist, kann die Indiktionszahl nicht stimmen (das fand schon Olagüe heraus, S.194). Aber die Abweichungen werden durch Fehllesung infolge des schlechten Erhaltungszustandes der Münzen erklärt.

Vom Jahr 97 an gibt es beiderseits des Mittelmeeres auch schon zweisprachige Münzen, die im Mittelpunkt statt Säule oder Stern die arabischen Worte des heute üblichen Glaubensbekenntnisses tragen, vorne in der Mitte “Es ist kein Gott außer Gott” (La ilaha ill Allah) und rückseitig am Rand herum “Mohammed ist sein Prophet” (Muhammad Rasul ullah). Damit ist eindeutig die arabisch-islamische Eroberung oder Einwanderung oder Mission belegt. Als nächsten Schritt haben die Münzen jeweils eine Seite mit rein lateinischer, die andere mit rein arabischer Schrift. Da im Arabischen die Jahreszahl immer voll in Worten ausgeschrieben ist, kann man sich bei der Lesung etwas sicherer sein (zwischen sieben und neun ist aber wegen der fehlenden diakritischen Punkte in der kufischen Schreibweise immer noch nicht zu unterscheiden). Da steht z.B. “Geprägt wurde dieser Dinar in Al-Andalus im Jahre acht und neunzig.” Die dazugehörige lateinische Jahreszahl bringt nur XCV, also 95, aber entweder sind die drei Striche III aus Raumgründen weggelassen (unwahrscheinlich) oder man benützte zwei Jahreszählungen nebeneinander her (für Ägypten nachgewiesen), nämlich das julianische Sonnenjahr und das arabische Mondjahr, das dann schon etwa 3 Jahre vorausgeeilt war. Dies hat möglicherweise bei der endgültigen Umstellung auf islamische Jahre (zwischen 99 und 102 Hedschra) durch Überspringen der fraglichen Jahre die dreijährige Lücke verursacht (vermutet U.I. Topper 1998).

Es gibt sogar ein Einzelstück, das außer dem Glaubensbekenntnis in lateinischen Lettern noch folgende Buchstaben trägt:

MVSEFNVSIRAMIRA

das heißt MUSE Filius NUSIR AMIR Africae, also Musa ibn Nusir, Fürst von Afrika. Der Perser oder vielleicht Jemenite Musa war der erste General der Omayaden im Westen, er hatte die Eroberung Andalusiens angeordnet und teilweise persönlich durchgeführt, wenn man den Chroniken glaubt.

Aus den Jahren 99 bis 101 Hedschra kennen wir, wie gesagt, keine Exemplare. Mit der Angabe 102 beginnen die rein arabisch beschrifteten Münzen. Das wäre demnach das auf 99 Hedschra (Sonnenkalender) folgende erste Mondkalenderjahr. Da die Jahre stets in Worten und fast ganz ausgeschrieben sind, außer bei den Hundertern, die aber ebenfalls eindeutige Lesungen ermöglichen, kann man sagen, daß die nächsten beiden Jahrhunderte der Hedschra-Zählung vollständig belegt sind.

Auf den wertvolleren Dirham-Stücken, die auch erheblich größer sind, kann man sogar die gesamte Sure der Einheit (112) lesen, in 15 Wörtern (die ersten beiden fehlen, sie sind überflüssig), womit eindeutig der frühe Islam charakterisiert ist, denn diese ist eine der ersten Suren des Koran gewesen.

Im Jahr 254 (H) taucht erstmals ein (noch unbekannter) Personenname auf einer Münze auf, aber erst ab 316 gibt es endlich Münzen mit dem Namen eines Kalifen, nämlich des ersten Kalifen im Westen, “Abd er-Rahman, Fürst der Gläubigen”, und 20 islamische Jahre später, 336, tritt erstmals als Prägungsstätte nicht mehr Al-Andalus sondern die Stadt Medinat Zahara auf, jedoch nur bis 380, denn von diesem Jahr an kehrt man wieder nach Al-Andalus zurück. Das kurze Intermezzo im “andalusischen Versailles”, der Prunkstadt Medinat Zahara bei Córdoba, die der erste Kalif des Westens sich bauen ließ, ist geschichtlich genügend belegt, um einen festen Anhaltspunkt für unsere Zeitrechnungsforschung zu geben. 336 Hedschra entspricht 947, wir befinden uns in der von Illig vertretenen “gesicherten” Chronologie.

Damit ist nun die Gleichzeitigkeit von “arianischer” Wandalenherrschaft und vor-sunnitischer Islamisierung Hispaniens und Nordafrikas recht gut anvisiert. Wenn sie sich als richtig erweist, müßten Geiserich, der sein Wandalenvolk (429) nach Nordafrika führte, und der persische General Musa ibn Nusir, der noch Münzen mit lateinischer Aufschrift prägen ließ, als er (711) von Nordafrika nach Andalusien übersetzte, einander begegnet oder – nach Olagües neuem Bild – sogar Verbündete gewesen sein. Das würde Geiserichs neue Gesetzgebung erklären, die zwar “arianisch” genannt wird, aber doch fremdartig, puritanisch und streng war und eher zum frühen Islam gerechnet werden müßte. Der jüdisch-iranisch-gnostische Synkretismus (S. 141) des westgotischen Spanien entspricht dem Islam des 1. Jh.H.

Olagüe gelangt mit seiner Schlußfolgerung zu einer teilweisen Lösung, kann aber – im Gegensatz zu seinem Vorbild Spengler, der sein Unverständnis offen zugibt – die Islamisierung Spaniens nur um 150 Jahre näher an unsere Zeit verschieben, weil er die nach ERA datierten theologischen Schriften des 9./10.Jh.s noch ernstnimmt. Die wirkliche Schlußfolgerung, die Olagüe eben noch nicht ziehen konnte, ist die von Heribert Illig vorgeschlagene Verkürzung des Zeitstrahls, bei dem zwischen unserer und der Hedschra-Zählung 297 Jahre übersprungen werden.

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