Beginn der christlichen Jahreszählung

Uwe Topper, Berlin · 1999

Beginn der christlichen Jahreszählung: Regino von Prüm
Seit wann rechnen wir eigentlich mit „Jahren nach Christi Geburt“?

Offensichtlich wurde unsere heutige Zeitrechnung „nach Christus“ nicht seit der Zeit Jesu üblich, auch nicht seit 325, dem offiziellen Datum, zu dem das Christentum die Staatsreligion des Römischen Reiches von Tanger bis Jerusalem geworden war. Die Leitung der römisch-katholischen Kirche im Vatikan führte die Zeitrechnung „nach Christi Geburt“ oder „im Jahr des Herrn, Anno Domini (= AD)“ erst vor etwa fünfeinhalb Jahrhunderten ein. Damit entfällt für fast drei Viertel der gesamten Zählung die Garantie.
Es gab aber schon vor dem 15. Jahrhundert einige Chronisten und Komputisten (Kalender-Mathematiker), die eine Jahreszählung seit Christi Tod oder Geburt schrittweise vorführten. Die Benützung durch Regierende und Volk bürgerte sich sehr langsam ein. Man nimmt heute allgemein an, dass eine solche Zählung vor dem 12. Jahrhundert nicht in Gebrauch war, da kaum ältere verlässliche Dokumente mit dieser Datierungsweise existieren (Gertrud Bodmann, 1992, S. 38).
Populärerweise wird dem Dionysius Exiguus (= der Hinker, gest. 556), oft auch einem nicht näher bekannten Vorgänger namens Victorin von Aquitanien (465), die Einführung unserer heutigen Anno-Domini-Zeitrechnung angelastet, aber das erste Schriftwerk, in dem sie konsequent durchgeführt wird, ist die Chronik des Mönchs Regino aus dem Kloster Prüm in der Eifel, angeblich im 10. Jahrhundert. Vermutlich ist diese Chronik ein oder zwei Jahrhunderte zurückdatiert, stammt also aus dem 11. oder 12. Jahrhundert. Über die Einzelheiten gibt es interessante Diskussionen unter den Wissenschaftlern, der Gesamteindruck ist jedoch deutlich: Seit höchstens tausend Jahren zählen wir unsere Jahre „n. Chr.“, es fehlen also Nachweise über die ersten tausend Jahre.
Wie hat nun diese Einführung der christlichen Jahreszählung begonnen? Schauen wir uns diese erste abendländische Chronik näher an!
In Band VII der „Ausgewerteten Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters“ (R. Buchner, 1964, S. 7) liest man zu Regino von Prüm, dass seine Darstellung der Geschichte von Christi Geburt bis zur Gegenwart ein erster Versuch war, der noch nicht gelang. Erst um 1040 wurde ein entsprechender Versuch „unabhängig von Regino“ wieder ausgeführt, und zwar von einem Reichenauer Mönch in der „Schwäbischen Weltchronik“, die allerdings verloren ist. Der tatsächliche Beginn der Verwendung unserer heutigen Zeitrechnung dürfte noch ein Jahrhundert später liegen.
Buchner schreibt weiter (S. 8): „Trotz solcher Unzulänglichkeiten stellt Reginos Chronik eine bedeutende historiografische Leistung dar … weil er sich von der mit dem Aufstieg der Karolinger einsetzenden Beschreibung als Erfüllung der Weltgeschichte freimacht“. Die Franken sind demnach bei Regino nicht mehr die Erfüller der Weltgeschichte und haben nicht mehr diese heilsgeschichtliche Bedeutung als Christianisierer des Abendlandes, denn Regino legt eher eine heidnische Einstellung an den Tag und schätzt mehr die Mannestugend und das persönliche Handeln, das über Glück und Unglück entscheidet.
Gegen Buchners Auffassung wäre leichter anzunehmen, dass der Mönch aus Prüm noch nicht so weit christianisiert war und den Anschluss an das deutsche Heidentum noch nicht verloren hatte. Die Verbrämung der Karolinger als Christianisierer Mitteleuropas dürfte erst im Hochmittelalter aufgekommen sein.
Da die Originalhandschrift der Prümer Chronik nicht mehr erhalten ist und auch keine unmittelbare Abschrift mehr davon existiert (F. Kurze, 1890), wissen wir natürlich nicht, an welchen Stellen nachträglich gefälscht oder „interpoliert“ (eingeschoben) wurde. Das Augenmerk richtet sich besonders auf Anfang und Schluss des Schriftstücks, weil hier bekanntlich Veränderungen am leichtesten vorzunehmen sind. Der Titel lautet „Libellus de temporibus dominicae incarnationis“ (Buch über die Zeitläufe der Fleischwerdung des Herrn), was wie ein Programm klingt, die AD-Zählung einzuführen. Am Schluss des Textes steht eine Absichtserklärung, die anzeigt, dass es sich um einen bewussten Schritt zur Vereinheitlichung der Reichsannalen handelt. Außerdem ist diese Chronik dem Bischof Adalbero von Augsburg gewidmet, in dessen Händen die Erziehung des Königs Ludwig („das Kind“, 900-911) lag, weshalb Regine Sonntag (1987, S. 117) die Abfassung der Chronik als erzieherische Maßnahme bezeichnet.
Das mit enormer Sachkenntnis und unter Verwendung auch englischer und französischer Literatur gefällte Urteil von Regine Sonntag müssen wir als neuesten Stand der Forschung akzeptieren. Nach Untersuchung sämtlicher greifbarer Texte kommt sie zu dem Schluss, „dass es Regino von Prüm ist, der die durchgehende Zählung nach Inkarnationsjahren erstmals in der Weltgeschichtsschreibung anwendet.“ (S. 109). Regino beweist dabei „ein außergewöhnlich hohes Maß an gedanklicher Unabhängigkeit und Eigenständigkeit“ (S. 145) im Hinblick auf seine Zeitgenossen. „Natürlich ist die von Regino mit viel kritischem Bemühen ausgearbeitete chronologische Ordnung nach heutigen Erkenntnissen unhaltbar, gültig aber bleibt die in ihrer Art außergewöhnliche und über lange Zeit singuläre Leistung“. Da haben wir also ein Werk, das seiner Zeit weit voraus war und doch keine bleibende Ordnung in die Geschichte brachte. Als echte Reichsannalen kann man es nicht werten, denn zwischen den Jahren 818 und 870 sind alle Nachrichten unzuverlässig, und wir können „davon ausgehen, dass Regino Nachrichten, für die er ein sicheres Datum nicht in Erfahrung bringen konnte, mehr oder weniger willkürlich auf verschiedene Jahre verteilte.“ (S. 123; ebenso schon Karl Werner, 1959). Ab 870 wird die Chronologie „weniger fehlerhaft“.
Das hört sich skandalös an, wenn man bedenkt, dass das Jahr 870 angeblich in der Lebenszeit des Chronisten Regino lag. Dagegen sind die frühen römischen Kaiser in dieser Chronik für heutige Begriffe exakt datiert.
Nicht nur aus Titel, Widmung und Schlusssatz der Chronik, sondern aus dem ganzen Text geht hervor, dass die Einführung der Datierung in Jahren „nach der Fleischwerdung des Herrn bewusst als neuer Schritt erfolgte, wobei auch die Umrechnung von bisher gebräuchlichen Ären („seit Erschaffung der Welt“, Märtyrer-Ära Diokletians, Regierungsjahre der Kaiser usw.) vorgeführt wird. Das wäre dann also für uns ein fester Anhaltspunkt zur Prüfung, wie unsere Zeitrechnung zustande kam.
Leider erwähnt Regino „Bedas ,Chronica maiora‘ (um 725) mit keinem Wort, obwohl nahezu sämtliche Angaben über die Dauer der Regierungen der römischen und byzantinischen Kaiser vom 42. Jahr des Augustus bis zum 9. Jahr Leos III. daraus entnommen sind.“ (S. 87). Insgesamt kann Sonntag 115 Zahlenangaben auf Beda zurückführen. Ob die Abhängigkeit auch in umgekehrter Reihenfolge sein könnte, untersucht sie leider nicht, da sie die vorgegebenen Lebensdaten dieser (eher fiktiven) Chronisten ernst nimmt.
Als nächstwichtiges Vorbild Reginos erkennt Sonntag (S. 88) die „Langobardengeschichte“ des Paulus Diakonus, mit der 57 Zahlangaben übereinstimmen. Es scheint, dass Regino direkt von Paulus abschrieb, der wiederum auf Beda fußen soll, dessen Angaben schließlich bei Gregor von Tours vorgegeben sind (S. 89). Diese Abhängigkeitsreihe wird erst fragwürdig, wenn man merkt, dass Gregors Gedankengänge eigentlich einer viel späteren Zeit angehören. Aber dieser wichtige Theologe und Chronist (angeblich 6. Jahrhundert) wird heute in sehr zwiespältiger Form beurteilt. Zwischen „fortwährend reißt ihn die Konkretheit des Geschehens … fort, und er erzählt einfach, was passiert ist – brühwarm …“ (Erich Auerbach, 1971) und „Gregor ist der Urheber von Legenden, die über 1000 Jahre die Welt getäuscht haben“ (Krusch, 1884, beide zitiert in Sonntag), ist alles möglich, – nur nicht die einfache Feststellung, dass diese Schriften von viel später lebenden Mönchen erdacht wurden. Denn, wie Buchner (1933) sagt: „Aller Wahrscheinlichkeit nach (ist) der Archetyp unserer Überlieferung nicht mit dem Original Gregors identisch“. Das heißt: Nicht einmal die aus den Abschriften rückwärts erschlossene (verlorene) Vorlage ist der Originalschrift Gregors, die wir ja nicht kennen, gleichzustellen.
Werner hat „Zur Arbeitsweise des Regino von Prüm“ (1959) einige erstaunlich genaue Vorlagen gefunden, zum Beispiel einen Text aus der Kathedrale von Angers in Frankreich aus dem 12. Jahrhundert, der praktisch wörtlich in Reginos Chronik vorkommt. Um dies zu erklären, muss er ein umständliches Szenario aufbauen: Regino hat seine ersten Aufzeichnungen nach Berichten aus Westfrankreich verfasst, und diese Texte von Prüm sind danach wiederum in Angers für das Domkartular verwendet worden. Das Hin- und Herfluten der klerikalen Texte in diesen Jahrhunderten ist ganz beachtlich!
Immerhin hat Sonntag für 160 Zahlenangaben in Reginos Inkarnationszählung keine bekannten Vorbilder ausmachen können. „Dass Regino als erster Weltchronist seine Darstellung nicht mit der Schöpfung, sondern mit Christi Geburt beginnt, ist lange bekannt.“ (S. 94). Grundlage für die Zahlenfolge ist der Satz: „Im Jahre 42 des Kaisers Octavian ist Jesus Christus Gottes Sohn geboren“. Dadurch wird das Jahr 753 ab urbe condita (seit Gründung Roms) zum Jahr 1 christlicher Zählung ernannt, aber worauf sich diese Festlegung gründete, wird verschwiegen.
Dieselbe Berechnung finden wir bei Beda, nämlich zwei Angaben in AD: in der Einleitung das Jahr 248 der Diokletian-Ära als AD 532, und am Ende der Chronik das Jahr 4670 seit Erschaffung der Welt als AD 716. Da aber Einleitung und Chronikschluss stets fälschungsverdächtig sind, darf man aus diesen beiden vereinzelten Daten keine weitreichenden Schlüsse ziehen, zumal 532 eine durch den Osterfestzyklus festgelegte rein symbolische Zahl ist. In seiner Schrift „Von den sechs Zeitaltern der Welt“ bringt Beda die AD-Zählung in Zusammenhang mit Schwärmereien vom Weltuntergang, was erst recht unpassend anmutet, da diese Gedanken erst ein halbes Jahrtausend später aufkamen.
Eine Betrachtung des Stils der Chronik des „verehrungswürdigen“ Beda, die aus verschiedenen englischen Chroniken zusammengestellt ist, wie auch gewisser inhaltlicher Einzelheiten seiner christlichen Missionsschriften, müsste eigentlich zu der Erkenntnis führen, dass sie viel später verfasst wurde. Illig hat überdies herausgefunden (auf R. Newton fußend, „Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart“ 3-4/1993, S. 59 f.), dass Beda die Null schon in einer Weise verwendet, die eine geläufige Kenntnis derselben bei seinen Lesern voraussetzt, was aber erst im 12. Jahrhundert in dieser Form sein kann. Das Buch des „Verehrenswerten“ müsste demnach zwischen 1120 und 1203 geschrieben sein. Auch seine Verwendung von Jahreszahlen „vor Christi Geburt“ könnte frühestens mit Marianus Scotus (1070) zugleich angesetzt werden, der acht solche Jahresangaben bringt. Damit scheidet Beda als Einführer der AD-Zählung aus.
In der „Langobardengeschichte“ des Paulus Diakonus, die bis 744 reicht, gibt es nur eine einzige Jahresangabe in AD. Sie bezieht sich auf die Einwanderung der Langobarden in Italien, die auf 568 festgelegt wird. Es handelt sich um einen der typischen später errechneten Aufhänger für ein chronologisches Gerüst.
Bleibt nur noch der anfangs erwähnte skythisch-römische Mönch Dionysius der Hinker als Quelle aller dieser Berechnungen, denn in seiner „Ostertafel“, die auf das Jahr 247 der Diokletian-Ära gelegt wird, schließt direkt das Jahr 532 nach Christi Geburt an, leider ohne rechnerische Begründung. Geschichtswissenschaftler berechnen heute, dass 247 der Diokletian-Ära unserem Jahr 525 entspricht, woraus folgt, dass Dionysius das korrekte Geburtsjahr Christi, nämlich 7 v. Chr., verwendete. Da ihm – außer einigen mittelalterlichen Zeitberechnern (Komputisten) – darin niemand gefolgt ist, kann er ebenso wenig wie sein „Vorgänger“ Victorin oder sein „Nachfolger“ Beda als Schöpfer unserer Jahreszählung gelten. Die Festlegung auf 532 dürfte ein später Trick sein. Sie soll angeblich die Wiederkehr des Ostertages mit gleicher Mondphase (28 mal 19 ergibt 532) betonen. 19 Jahre dauert ein metonischer Mondzyklus, das heißt, da kehrt dieselbe Mondphase am selben Tag des Jahres wieder; und spätestens alle 28 Jahre ist die Wiederkehr derselben Wochentage gewährleistet; das gilt natürlich nur für den Julianischen Kalender (diese Fehlberechnung wird im Schlusskapitel meines Buches kritisiert).
Reginos Chronik ist also die erste, die nachweislich Inkarnationszahlen verwendet, während die anderen Chroniken, die angeblich älter sind, nur nachträgliche Hinweise darauf bringen. Dass diese Chronik, die bis 906 geht, damals schon geschrieben wurde, wie behauptet wird, ist wohl unhaltbar. Nicht nur die aus seiner eigenen Lebenszeit stammenden Daten sind fehlerhaft und die der davor liegenden beiden Generationen ein heilloses Chaos, sondern auch die früheren Jahrhunderte weisen bemerkenswerte Fehler auf. Ab dem Jahr 82 sind die Regierungsdaten der Kaiser verkürzt, sodass am Ende der Kette Kaiser Leo III. mit 655 AD um 60 Jahre zu früh liegt. Regino greift nun einfach auf Bedas Notiz über den irischen Missionar Ecberectus zurück und beginnt seine Chronik mit Karl Martell im Jahr 716 erneut und endet im letzten Regierungsjahr, dem 26., von Karl dem Großen, 818, was nach heutiger Ansicht alles falsche Daten sind. Dann setzt sein zweiter Band mit den fantasiereichen Zahlen ein. Damit wird auch Reginos Chronik kaum vor dem Jahr 1200 anzusetzen sein.
Der Anfang der AD-Jahreszählung war also noch äußerst fehlerhaft und begann nicht vor 1200.
So werden die bedauerlichen Fehler Reginos zu aufschlussreichen Hinweisen auf die Technik der Geschichtsschreibung bei der Einführung einer neuen Chronologie im Hochmittelalter. Von der AD-Zählung können wir jedenfalls nicht erwarten, dass sie uns über die vor dem Jahr 1000 liegenden Jahre Aufschluss gibt.

Veröffentlicht in EFODON-SYNESIS Nr. 32/1999

sowie in Kap. 1 von Erfundene Geschichte (Herbig, München 1999)-TitelbilddesBuches

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