Cuzary, das Buch der Chasaren
(Veröffentlicht in EFODON-SYNESIS Nr. 33/1999)
Das berühmte Buch Cuzary des großen jüdischen Dichters Jehuda Ha-Levy zählt zu den Glanzstücken mittelalterlicher Theologie. Als Streitgespräch aufgebaut bringt es eine Abgrenzung der jüdischen Dogmatik gegen mindestens vier Religionen seiner Zeit: gegen das Christentum, den Islam, die Karäer und die heidnische Philosophie.
Über den Schöpfer dieses Buches sind recht unterschiedliche Informationen im Umlauf. In der Jewish Encyclopedia gilt er als größter hebräischer Dichter seit der Bibel, der zwischen 1080 und 1085 in Toledo in Kastilien geboren sei, auch in Córdoba gelebt habe und etwa 1138 in den Orient gereist sei, vielleicht auch erst nach 1140. Sein arabischer Name lautete Abu al-Hassan al-Lawi. Er müsste also einen Sohn namens Hassan gehabt haben, während er nach anderen Quellen kinderlos war. Einige (siehe Imirizaldu, Einleitung zum “Cuzary”, 1979) geben als Geburtsjahr 1075 an, als Geburtsort Tudela de Navarra in Aragon, Toledo sei ein Schreibfehler.
Auch sein Todesjahr und -ort liegen im Dunkel. Nach der geläufigen Legende (siehe vor allem Jüdisches Lexikon 1927) war er gegen 1135 in den Orient gereist, hatte in Damietta in Ägypten ein Amt bekleidet (worüber es keine Dokumente gibt) und war schließlich 1141 zur Reise nach Jerusalem aufgebrochen. In der Nacht vor seinem lang ersehnten Einzug in die heiß geliebte Stadt Jerusalem soll er von einem Moslem enthauptet worden sein. An diesen Tod knüpfen sich viele romantische Gedichte und mystische Abhandlungen, aber historisch wird er dadurch nicht. Ha-Levy soll auch in Spanien gestorben sein, vermutlich in Toledo. Über sein Grab weiß man nichts Genaues.
Ha-Levy war also ein höchst berühmter und für die Theologen ebenfalls sehr wichtiger Dichter, von dem man weniger weiß als von vielen seiner Zeitgenossen. Das wäre nicht weiter verwunderlich, öffnet aber Möglichkeiten, ihm Texte unterzuschieben, die er vielleicht nie geschrieben hat. Von seinen weit über 800 Gedichten sind gar manche heute wieder aussortiert.
Wenden wir uns dem Buch Cuzary zu.
Der Zweck des theologischen Streitgespräches im Cuzary ist es, den König der Chasaren (im 8. Jh., also rund vierhundert Jahre vor Ha-Levy) zum wahren jüdischen Glauben zu bekehren. Da wir über die Chasaren fast gar keine zeitgenössischen schriftlichen Aufzeichnungen besitzen, ist dieses Buch von allerhöchstem Wert, ja (außer zwei Briefen) das einzige schriftliche Dokument, das uns einen Einblick in die damalige Geistesströmung der Aschkenasen (Ostjuden) erlaubt.
Darauf zu bauen ist nun, da wir wissen, wie viele Dokumente in der Renaissance oder später geschaffen wurden, eine riskante Sache. Man ist sich auch weitgehend einig darüber, dass Ha-Levy die Rahmengeschichte nur benützt, um die zu seiner eigenen Lebenszeit entflammten Streitigkeiten um den wahren Glauben mit klaren Argumenten zu entscheiden. Man erkennt die inhaltliche Abhängigkeit der Argumentation von den Schriften des großen islamischen Theologen Al-Ghasali (geboren 1059 in Chorasan und ebendort gestorben 1111). Es geht hauptsächlich um eine Ausgrenzung der aristotelischen Philosophie.
Über die Chasaren erfahren wir demnach fast nichts.
Ha-Levy schrieb alle seine Gedichte in Hebräisch, aber den Cuzary soll er in Arabisch geschrieben haben: Kitab al-Chazari. Erst der Mystiker Jehuda aben Tibbon habe es dreißig Jahre später ins Hebräische übertragen. An solchen unerklärlichen Besonderheiten setzt bereits leiser Verdacht ein.
Wie gesagt: Es soll ein Streitgespräch zwischen Juden, Christen und Moslems vor dem Thron des Chasarenherrschers sein, aber außer in dieser Rahmengeschichte kommt eigentlich nur der jüdische Rabbiner zu Wort und kann seinen Glauben gegen die anderen abgrenzen, vor allem gegen die Carraym (= Karäer). Natürlich wird der Chasarenfürst zum Judentum bekehrt, d. h. von der Lehre der Karäer, der er vermutlich angehört hatte, abtrünnig gemacht.
Warum spielt dieses spanische Lehrstück in der fernen Ukraine und um vierhundert Jahre zurückversetzt?
Das hat wohl zwei Gründe: Einerseits will der Autor damit festlegen, dass die Chasaren rechtgläubige Juden (geworden) sind. Das ist aber zu jenem Zeitpunkt, da es längst kein Chasarenreich mehr gab, eine müßige Geschichte. Und zum anderen hätte dieses Gespräch im derzeitigen Spanien nicht gut spielen können, denn dort sah das theologische Umfeld zu seiner Zeit schon anders aus.
Auch sonst kommen bei Ha-Levy oft Schlüsselwörter vor, die uns zeigen, dass Geografie nicht unbedingt wörtlich genommen werden muss. Seir und Edom, das Gebirge im Süden Palästinas, ist das Kennwort für das Gebiet des Christentums, Ismael steht für das islamische Gebiet und Mizrah für beide.
Die Chasaren waren ein türkisch sprechender Stamm mit einem wohlorganisierten Staat nördlich des Schwarzen Meeres. In Russland heißen sie auch Akatziren, also weiße Atziren, weiße Ugrier. Der Name Chasar stamme von Chosroes, einem häufigen persischen Königsnamen, wie schon Buxtorf 1660 in seiner lateinischen Übersetzung des Cuzary meint. Jedenfalls hatte diese Stammesgruppe geografisch und kulturell Beziehungen zum Iran.
Angeblich hatte sich schon der Kagan (= Chan, König) Bulan um 680 zum mosaischen Glauben bekehrt, der Kagan Chuzar aber war wohl wieder von der reinen Lehre abgefallen und musste nun – um 740 – durch dieses Streitgespräch erneut auf den rechten Weg gebracht werden. Diese rund 400 Jahre zurückliegende Geschichte sei in dem berühmten Cuzary von Ha-Levy verewigt worden. Wir sehen schon, dass hier einige Sprünge gemacht werden, die weit hergeholt sind. In Kap. 1, Abschnitt 47 nennt der Verteidiger des wahren Judentums, Haber, das genaue Jahr als Zeitabstand seit der Erschaffung der Welt: 4500 Jahre. Aber die dort ausgesprochene Behauptung, dass alle Juden von Indien bis Äthiopien eine einheitliche Jahreszählung verwenden, ist absurd, denn diese Weltschöpfungsära war zwar weitverbreitet, aber doch mit sehr unterschiedlichen Angaben. Die genannte Jahreszahl 4500 kann darum nicht in unsere Zeitrechnung umgerechnet werden.
Zunächst ein Wort über die Karäer (Qaraiten), die infolge emsiger dogmatischer Arbeit seitens jüdischer wie christlicher Theologen heute fast vergessen sind: Sie waren es, die die Thora in ihrer heutigen Gestalt schufen, indem sie den Text festlegten. Die mündlichen Überlieferungen und örtlich verschiedenen Riten achteten sie gering, nur die Schrift war ihre Richtschnur. Ihr Name besagt schon (qara = lesen), dass sie großen Wert auf die schriftliche Fixierung der heiligen Texte legten. Darum ließen sie auch andere heilige Texte gelten, wie z. B. die der Essener, der Sadduzäer und selbst den arabischen Koran.
Als Musterstück der vokalisierten (masoretischen) Thora der Karäer muss wohl der Codex Halepensis angesehen werden, der Mitte des 11. Jahrhunderts aus Basra nach Jerusalem gelangte, durch Kreuzfahrer nach Kairo verschleppt wurde und schließlich über Haleb wieder nach Jerusalem zurückkehrte.
In ihrer Schriftkundigkeit waren die Karäer allen anderen überlegen und verachteten die weniger fundamentalistischen religiösen Bewegungen der Juden, Christen und Moslems, von denen sie in der Folgezeit hart bekämpft wurden. Einer der großen karäischen Missionare in Westeuropa, Ibn Altaras, hatte in Spanien viel Erfolg; nach seinem Tode führte seine Witwe die Mission fort. Jehuda ben Ezra wie auch José Ferussol gingen mit Streitschriften dagegen an, aber erst Doña Urraca, Königin von Kastilien, konnte die Karäer eindämmen, indem sie sie in ein Getto sperrte. Als Abspaltung karäischer Ideen entstand 1161 das Buch der Kabbala von Abraham ibn Daud in Toledo (s. u.).
Heute gibt es nur noch Reste dieser einst großen Religionsgemeinschaft, vor allem auf der Krim und im Baltikum sowie in Jerusalem (Maier S. 193).
Wie sieht es nun mit der Textüberlieferung aus? Weder der arabische Originaltext noch Ibn Tibbons hebräische Übersetzung von 1170 (Sefer Ha-Kuzari) sind erhalten geblieben. Wir haben eigentlich nur die kastilische (spanische) Übersetzung eines holländischen Juden als Grundlage.
Dieser gelehrte Mann hieß Jacob aben Dana, stammte von portugiesischen Juden ab und war wohl in Rotterdam gegen 1630 geboren; er studierte dort und wurde Hakam in Amsterdam. Der schon erwähnte Kalvinist Johann Buxtorf aus Basel sowie Jakob Golio aus Leiden schätzten die Schriften Abendanas sehr. In Leiden lernte er auch Anton Hüls kennen, den er bei seinen orientalistischen Studien unterstützte. Da dieser versuchte, Abendana zum Christentum zu bekehren, habe jener darum als Gegenschrift das Buch Cuzary ins Kastilische übersetzt. 1680 wurde Abendana als Hakam nach London berufen, wo er seine Übersetzung der Mischna ins Kastilische vollendete und 1695 starb. Ein gewisser Hascham Abendana schrieb einen Kommentar zum Cuzary. Soviel zur Überlieferung des “Cuzary”.
Liest man den Cuzary aufmerksam und mit den schon erwähnten Verdachtsmomenten, dann fällt so manches auf, das anachronistisch wirkt:
Da gibt es eine ermüdend lange und für Nichthebräer unverständliche Abhandlung über die hebräische Rechtschreibung und Grammatik (am Schluss des 2. Diskurses), in die hebräische Buchstaben unorganisch eingebettet sind, und zwar manchmal in Umschrift, dann wieder im Original, recht befremdend und wohl nur für Sefardim (Westjuden) in der Diaspora (also nach 1492) sinnvoll.
Es kommen Begriffe vor, wie “Sphäre des Mondes” oder “Unsterblichkeit der Seele”, die ich mir erst in der Renaissance passend vorstellen kann. Auch die zitierten klassischen Autoren Hermes, Äskulap, Sokrates, Platon und Aristoteles gehören frühestens zur Diskussion des 12. Jahrhunderts (nach Maimonides, der die Karäer ebenfalls bekämpfte).
Oder das Gleichnis vom schmächtigen Geldwechsler, der einem kräftigen Bettler das Almosen verweigert und doch nicht von diesem beraubt wird. Der Dichter will damit vermutlich an die pax mongolica (13. Jh.) erinnern und fordert eine Art absolutes Königtum als Friedensgarantie, ganz passend für das 17. Jh., aber für die Sefardim des 12. Jh. undenkbar.
In der Vorrede zu seiner Übersetzung, die einem Juden am englischen Königshof, Wilhelm Davidson, gewidmet ist, gibt sich Abendana in allergrößter Bescheidenheit, echt barock; aber meines Erachtens verrät er sich dadurch als der Autor des Cuzary, den er nur aus eben dieser Bescheidenheit und entsprechend einer ganz normalen Zeitströmung einem berühmten Dichter des goldenen Jahrhunderts jüdischer Gelehrsamkeit unterschiebt.
Wiederum möchte ich betonen, dass das Buch Cuzary durch diese Annahme, es könnte fünfhundert Jahre später als behauptet geschrieben sein, nichts von seinem theologischen Wert verliert, nur: Als Dokument für die Judaisierung der Chasaren im 8. Jahrhundert kann es dann nicht mehr gelten, und als Dichtung des spanischen 12. Jahrhunderts wohl auch nicht mehr.
Es ist ja auch zu erwarten, wenn Christen in der Renaissance um die Wette antike und mittelalterliche Texte herstellten, dass die Kollegen mosaischen Glaubens nicht zurückstanden, sondern mit ähnlichem Fleiß an die Erstellung ihrer Geschichte gingen.
Dabei ist die Technik der Querverweise ein wichtiges Mittel zur Beglaubigung gewesen, nur zuweilen ist sie gar zu durchsichtig gehandhabt worden, und das scheint mir auch in diesem Fall offen zu liegen.
Wie man sich denken kann, wird Ha-Levy die Rahmengeschichte nicht frei erfunden, sondern an gewisse bekannte Nachrichten angeknüpft haben. Diese sind auch leicht zu finden, da es – wie gesagt – außer dem Cuzary nur noch zwei Briefe gibt, die uns etwas über die jüdischen Gemeinden der Ukraine vor ihrer Unterwerfung durch die slawisch orthodoxe Mission berichten. Ein gewisser (Rabbi) Hasdai ben Schaprut (arabisch Hasdai ibn Ishaq), um 960 jüdischer Staatsmann am Hofe des islamischen Emirs von Córdoba, habe dem Chasaren-Kagan Josef einen Brief geschrieben und von diesem auch eine Antwort erhalten; eventuell sei er sogar selbst dorthin gereist. Das Vorkommnis liegt allerdings völlig im Dunkel, außer den beiden Briefen haben wir keine Anhaltspunkte. Die spärlichen Fakten, die in den Briefen enthalten sind, könnten aus arabischer Quelle stammen, vor allem aus Al-Masudi (bzw. den Texten, die unter diesem berühmten Namen später zusammengefasst wurden).
Der Streit um die Echtheit der Briefe war besonders im vorigen Jahrhundert ausgefochten worden, nachdem man sie zunächst ganz einfach als Fälschungen des 16. Jahrhunderts abgelegt hatte. Heute gelten sie wieder als echt, wie Koestler darstellt, der dankenswerterweise diese Hebräisten-Kontroverse in knappen Worten zusammenfasst (1976, Anhang III).
Dabei ist zumindest soviel herausgekommen: Der zunächst als echt angesehene Brief des Hasdai und der schon sehr früh (angeblich schon um 1100) als ge- oder verfälscht angesehene Brief des Kagan Josef stammen von zwei verschiedenen Leuten. Das ist natürlich kein Echtheitsbeweis, auch wenn dies eins der Hauptargumente für die Echtheit wurde.
Eine Notiz auf einer arabischen Landkarte muss ebenfalls als Nachweis der Echtheit herhalten. Demzufolge wäre Hasdai selbst bei den Chasaren und im Kaukasus gewesen, was aber Kennern der Materie unwahrscheinlich vorkommt.
Ernst zu nehmen ist dagegen die Erwähnung im Buch der Kabbala von Abraham ben Daud (geschrieben 1161), in dem direkt auf Hasdai und den Brief des Kagan Josef Bezug genommen wird, und wo auch von Nachfahren der Chasaren in Toledo die Rede ist. Vielleicht ist diese Nachricht die einzig verlässliche, aus der dann alle anderen Ausschmückungen abgeleitet sind.
Und woher kennen wir die beiden Briefe?
Sie wurden 1577 in Istanbul von einem Juden namens Isaak Akrisch auf Flugblättern gedruckt mit der Vorbemerkung, dass er sie auf einer Reise vor fünfzehn Jahren in Ägypten erhalten habe, wobei der Eindruck entsteht, als glaube er, dass die Chasaren heute noch ein selbstständiges jüdisches Königreich in der Ukraine hätten. Etwa sechzig Jahre später gelangte eines dieser Flugblätter zu Johannes Buxtorf, dem gelehrten Orientalisten in Leiden, der dann über zwanzig Jahre später die beiden Briefe in Hebräisch, zusammen mit seiner eigenen lateinischen Übersetzung, veröffentlichte, und zwar als Ergänzung zum Cuzary von Ha-Levy.
Wer jetzt das Gefühl hat, dass der Kreis sich schließt, steht nicht allein da. Kaum ein Wissenschaftler nahm die Briefe für echt an. Vor allem damals war allen bewusst, wie allseits freiweg Geschichte erfunden wurde. Man hatte wohl auch – auf Grund besserer Kenntnis der wenigen echten Schriften – ein feines Gespür für den rechten Ton und merkte sehr schnell, wenn ein Zeitgenosse wieder einmal etwas zum großen Geschichtsbuch hinzufügte, was zwar nicht wahr, aber doch recht hübsch erfunden war.
Es gibt sogar handgeschriebene Vorlagen zu dieser Veröffentlichung, aber bei dem Oxforder Manuskript ist unklar, ob es nicht nach dem gedruckten Text geschrieben wurde, und das Leningrader Exemplar weicht erheblich von der gedruckten Version ab, es ist sehr viel länger als das Original. Diese lange Version hat ein Forscher im 19. Jh. angeblich aus Kairo mitgebracht, Abraham Firkowitsch, von dem wir recht gut wissen (Koestler, S. 257), dass er vielfach Dokumente erzeugt hat, die seine Hoffnung auf ein Wiedererstehen des Karäertums unterstützten.
Literatur
“Encyclopedia Judaica” (Jerusalem, ab 1971)
Jehuda Ha-Levy, “Cuzary”, hrg. und eingel. von Jesús Imirizaldu (Madrid 1979)
“Jewish Encyclopedia in 10 vol.” (New York 1948)
“Jüdisches Lexikon in 4 Bänden”. Hrg. v. Georg Herlitz und Bruno Kirschner (Frankfurt/M 1927, Nachdruck 1987)
Koestler, Arthur “Der dreizehnte Stamm. Das Reich der Khasaren und sein Erbe” (Wien 1976)
Maier, Johann “Geschichte der jüdischen Religion” (Berlin 1972; 2° Freiburg i. B. 1992)
Szysman, Simon “Le Karaisme” (Lausanne 1980)
Topper, Uwe “Die Große Aktion” (Tübingen 1998) – “Erfundene Geschichte” (München 1999)