Persephone – die falsche Göttin aus Tarent

(Veröffentlicht in “Fälschungen der Geschichte”, Herbig Verlag 2001)

Eine der wichtigsten Statuen der frühklassischen Griechen steht nach kürzlich erfolgter Restaurierung wieder im Pergamon-Museum in Berlin. Sie stammt laut Katalog aus Tarent in Süd-Italien, ist zwischen 480 und 460 v.Ztr. geschaffen worden, 1,51 m hoch und besteht aus einem einzigen parischen Marmorblock. Ob es sich bei der in Lebensgröße dargestellten Person um die Unterweltsgöttin Persephone handele, oder nur um eine “heroisierte Tote”, war zunächst unklar gewesen, weil man bisher keine derartige Rundplastik einer thronenden Göttin aus dem frühen Griechenland kannte.Wir wissen ja, daß die Griechen jener Zeit ihre Kultstatuen als stehende Personen schufen, aus einem Baumstamm grob behauen und geschnitzt, mit Goldblech, Elfenbein und Stoffen bedeckt, auch mit echtem Schmuck behängt.

Durch eine sehr ähnliche kleine Terrakottafigur, ebenfalls aus Tarent, die eine Omphalos-Schale und ein Alabastron-Salbgefäß in den Händen hält, wurde die Bezeichnung Persephone bestätigt.

Der Katalogtext spricht weiter vom “milden Gesichtsausdruck der Göttin” und sagt dann über diese Übergangszeit zur Frühklassik: “Das archaische Lächeln verschwindet, und ein neuer Ernst spricht aus den Gesichtern”. Daß da stilistische Probleme vorliegen, wird aus diesen Sätzen noch kaum deutlich.
Die Unterarme sind leider abgebrochen, sie liegen auch nicht auf den Armlehnen auf, sondern sind vorgereckt. Man nimmt an, daß sie ebenfalls Omphalos und Granatapfel, die Zeichen der Totengöttin, hielten.

Verdacht

Das erste, was einem naiven Betrachter beim ehrfurchtsvollen Herantreten auffällt, ist das zart an Mona Lisa erinnernde geheimnisvolle Lächeln, das um die Lippen der Totengöttin spielt. Sollten die alten Griechen tatsächlich schon dieses Kunstgefühl der Renaissance gekannt haben? Ist Leonardo da Vinci gar nicht so genial-originell gewesen und die Renaissance nur eine Wiedergeburt der Antike, wie der Name schon sagt?
Dann fällt dem Betrachter die Körperhaftigkeit der göttlichen Kore auf. Vor allem der Busen übt eine ungemein erotische Wirkung aus, bei längerem Hinsehen kommen einem die Brüste übertrieben spitz vor, unorganisch, zu weit auseinanderstehend. Der Künstler hat des Guten zuviel getan. Aber die Brust ist keusch bedeckt von einem Hemd, das auf dem rechten Oberarm mit sieben Knöpfen verschlossen ist. Die Falten, die dabei entstehen, sind nicht erhaben sondern vertieft, was eine flach-ornamentale Wirkung hat, die im Widerspruch zu der sonst plastischen Gestaltung steht.

Persephone

Über dem Hemd (Chiton) trägt sie ein weites Gewand, doch scheint mir, daß da etwas durcheinander gekommen ist. Am linken Arm wird dasselbe Kleidungsstück, das rechts als oberes liegt, vom unteren Hemd überdeckt. Ob der Schöpfer der Statue die Frauenkleidung nicht recht kannte? Oder geht nur mir das so?

Mein Blick als unvorbereiteter Besucher wird allmählich kritischer.

Dieser Faltenwurf ist gar zu unnatürlich, die spitzen Zipfel sind undenkbar, und die Zöpfe wirken seltsam gekünstelt; eigentlich müßten die Haare über der Stirn unter dem Diadem von der Mitte des Kopfes ausgehen, wenn sie echt wirken sollen. Die Haube, in der das Haupthaar gehalten wird, hat einen steifen Rand, der aber viel zu tief hinters Ohr gedrückt ist. Das dürfte wehtun.

Die Göttin sitzt auf einem Thron, der geschickt eine Holzstruktur nachahmt. Damit sie es dennoch bequem hat, sind Rückenlehne und Sitzfläche mit Kissen geplostert. Dasjenige am Rücken ist jedoch nicht eingedrückt, die Frau sitzt stolz aufgerichtet. Mir fallen keine Parallelen zu einem Rückenkissen dieser griechischen Periode ein. Aber man kann ja nicht alles wissen.

Das Sitzkissen ist allerdings seltsam, denn es ist überdeckt mit einem Brett, auf dem die Kore sitzt. Auf dem Kissen zu sitzen wäre sinnvoller, auf dem Brett sitzt es sich nicht bequem, denn sie schwebt ja nicht. Die Füße ruhen auf einem Schemel, ganz stilecht, nur das Ornament an den Schemelseiten wirkt unpassend und ist zu flach. Und die Sandalen sind nur durch einen Querriemen gehalten, die würde sie beim Gehen glatt verlieren.

Aber das ist eine Kleinigkeit im Vergleich zu der Entdeckung, die die Armlehnen bereithalten. Die rechte Armlehne ruht nämlich auf einer schön gedrechselten Stütze, die jedoch leider nicht im vorderen Drittel sondern im hinteren steht, was einem Tischler sicher keine Ehre antun würde. Und die linke Lehne, die heute abgebrochen ist, hatte gar keine Stütze. Die Armlehne wäre also freischwebend von der Rückenlehne her nach vorne ragend zu denken. Da das gar zu unpassend wirken würde, hat man die Lehne vielleicht abgeschlagen, nun fällt der Fehler beim flüchtigen Hinsehen nicht mehr auf.

Ich reibe mir die Augen, trete ganz nahe an die Figur und messe mit meinem Bleistift nach. An der Stelle, wo die gedrechselte Stütze der Armlehne gestanden haben müßte, fehlt nicht nur eine Bruchstelle auf der Marmoroberfläche, sondern – da liegt ein Zipfel vom Gewand der Dame. Weder hier noch an anderer Stelle konnte die Lehne abgestützt sein.

Die Thronbeine hat der Künstler leider übermäßig eingekerbt, so daß sie fast weggebrochen sind. Haben die Tischler damals Sollbruchstellen eingeschleust, um später mit Reparaturarbeiten beauftragt zu werden?
Allmählich schwindet meine romantische Begeisterung und ich werde hellwach.

An sich sieht dieser “parische” Marmor recht gedunkelt aus. Man müßte eine Verwitterungstabelle zur Hand haben, um am Farbton der Marmoroberfläche bestimmen zu können, wie lange die Figur in Sonne und Regen gestanden hat. Aber das werden Fachleute wohl getan haben. Ich bücke mich und schaue unter den Thron. Da ragt ein vierkantiger Stützpfeiler auf, der den Thron hält. War der überhaupt nötig? Jedenfalls ist er blitzfrisch, mit scharfen Kanten, wie vor kurzem erst behauen. Oder sagen wir: vor achtzig Jahren.

Persephone Sockel

Die Sockelplatte (Plinthe), auf der die gesamte Figur steht, ist sehr sparsam mit Rundungen versehen und ausnehmend dünn gehalten. Hatte man damals schon am Gewicht sparen wollen, um das Transportproblem zu verringern?

Nun kommt aber ein gewichtiger Hinweis darauf, daß diese Statue aus Tarent wirklich antik ist. In einer kleinen Glasvitrine neben ihr kann man ein kleines Terrakottafigürchen und die dazugehörige Gußform betrachten. Hier haben wir im Miniaturmaßstab fast genau die Vorderansicht der Marmorgestalt vor uns.

Persephone Terrakotta

Die Gußform stammt ebenfalls aus Tarent und ist 1925 durch den Kunsthandel nach Berlin gelangt, wo man dann den Abguß machte und über die frappierende Ähnlichkeit mit der Marmorkore hocherfreut war. Nun war auch die Deutung als Persephone abgesichert, denn die Miniaturgestalt trägt in den Händen eine Omphale und angeblich einen Granatapfel, den ich aber nicht finden konnte.

Die Gußform läßt sogar deutlich erkennen, daß sie schon in dieser fragmentarischen Art hergestellt worden war. Die Ränder sind nicht gebrochen sondern geglättet! Außerdem sind die Gewandfalten sehr flüchtig eingeritzt, in viel zu vielen Strichen. Das Figürchen wirkt eher wie ein Entwurf, vielleicht diente es dem Marmorbildhauer als skizzenhafter Versuch für die große Arbeit?

Stilvergleiche

Zum Glück gibt es einige Literatur zum Thema. Als erstes lese ich ein Buch über tarentinische Terrakotten des 6. bis 4. Jahrhundert v.Chr. aus dem Museum Basel (Herdejürgen 1971), in dem sogar einige sitzende Koren abgebildet sind. Der Thron soll stets aus Holz gewesen sein und fehlt heute natürlich. Da die Figürchen der Haartracht wegen auf nach 325 v.Chr. datiert werden, liegt hier gegenüber der marmornen Persephone ein chronologisches Problem vor; aber die Terrakotta des Berliner Museums wird ja – vermutlich aus diesem Grund – von einigen Fachleuten eher auf 4. Jahrhundert datiert. Man spricht dann von Persistenz archaischen Stilbewußtseins in der Kleinplastik. Sie wäre also nicht Entwurf sondern Nachahmung der Marmorstatue gewesen.

Zur Marmorgöttin gibt es doch eine Parallele in der Literatur (Blümel 1966): Es ist eine halblebensgroße, kopflose Sitzende, die bei Tusculum (Frascati bei Rom) gefunden wurde und durch Petersen 1893 nach Berlin kam. Sie sitzt auf einem Stuhl ohne Lehnen, dessen Beine abgebrochen sind, der aber – obgleich er keinen Stützpfeiler hat – dennoch nicht umstürzt, weil Beine und Gewand der Frau alles zu halten vermögen. Der Chiton mit “Scheinärmeln” ist auf dem Oberarm mit acht Knöpfen geschlossen. Hier sieht die Tracht recht natürlich aus, der Faltenwurf ist echt dargestellt.

Ich muß feststellen, daß unsere Persephone selbst in den besten Werken einen allerersten Rang einnimmt, so etwa im amerikanischen zweibändigen Weltkatalog der Kunstmuseen, wo sie die wichtigste Statue des spätarchaischen griechischen Stils in Berlin ist. Vergleichbares ist nicht zu finden, nur Reliefs mit sehr ähnlichen Darstellungen der Persephone. Das berühmteste ist wohl das Harpiyenrelief von der großen Felswand von Xanthos in Lykien, das schon seit einem Jahrhundert in Saal 7 des Britischen Museums in London steht. Da thronen rechts und links der Grottentür, einander zugewandt, zwei Koren, von denen die rechte durch Blüte und Granatapfel in ihren Händen eindeutig als Persephone bestimmt worden ist.

Hier ist alles vorgebildet, was wir an der freistehenden Berliner Figur finden: Das Brett über dem vermeintlichen Sitzkissen auf dem Thron entpuppt sich als die Leiste, die das Kissen an seinem Platz hält; nur beim Betrachten einer Fotografie kann der Gedanke an ein über dem Kissen liegendes Brett aufkommen. Die Thronbeine sind allerdings noch nicht eingekerbt, die Fußbank schmückt noch kein verdächtiges Ornament, die Armlehne ist nur am vorderen Ende unterstützt, wie es sein muß, der Faltenwurf wirkt völlig normal. Von Rückenkissen, soweit ich auf dem Foto erkennen kann, keine Spur. Als Datierung wird “um 500 v.Chr.” angenommen, von einigen Kollegen auch etwas jünger.

In der Sammlung Albani in Rom befindet sich eine ganz ähnliche Reliefdarstellung der Kore. Hier hält sie einen Knaben, den ihr eine Mutter darreicht. Die göttliche Kore gleicht unserer Persephone, wirkt aber wiederum ganz natürlich. Armlehne und Sitzfläche des Throns sind fehlerlos, die Fußbank ist schlicht ohne Ornament, die Thronbeine sind nur leicht eingekerbt (was in der Rundplastik in Berlin stark übertrieben wurde), und es gibt sogar eine Art Stützsäule unter dem Thron, nur daß die in Rom rund ist. Die Voluten an den Thronseiten entsprechen exakt denen von Xanthos. Auch der Faltenwurf, die Zöpfe und die Kopfhaltung sind makellos.
Nur: es handelt sich hier um Reliefs, und die sind fraglos antik.

Rundplastik-Vorbilder sind selten. Im Akropolis-Museum von Athen befindet sich ein Kopf mit Oberkörper einer (stehenden) Kore “von Euthydikos”, deren Haartracht und Kleidung unserer Kore entsprechen.
Schließlich stoße ich in dem vielbändigen französischen Werk des überragenden Kenners griechischer Skulptur, Charles Picard (Bd. II, 1939), auf eine kurze Beschreibung unserer Kore: “Noch kann man von ihr mit Gewißheit weder sagen, daß sie ein echtes Original noch daß sie ein Dokument aus Tarent sei: Man hat gesagt, daß es sich um eine fähige Vergrößerung einer Terrakotta aus dem überseeischen Griechenland handele.”
Dann wäre das Terrakotta-Figürchen nur der Entwurf gewesen, aber der Entwurf für eine moderne Schöpfung! Und was Picard in der Anmerkung auf jener Seite 111 schreibt, sträubt einem die Haare: Die Verbindung zwischen der Terrakotta aus Tarent und der Marmorstatue geschah zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn: “1925 war die Aufmerksamkeit etwas unangenehm beeindruckt durch den Erwerb von acht ‘neuen’ Bruchstücken in Berlin (elf Jahre nach der Durchreise der schon zerstückelten Statue durch Paris!), Bruchstücken, die entsprechend der veröffentlichten Restauration den Thron (linke Ecke der Rückenlehne, Armlehne mit Stützstempelchen, Vorderteil des Sitzes) vervollständigen.”
Und weiter: “Die ‘Odyssee’ des Transportes (der Statue) in Italien, die Frau P. Zancani-Montuoro (1931) beschreibt, ist äußerst seltsam, um nicht zu sagen unwahrscheinlich.”

Mutmaßungen über den Künstler

Was wissen wir eigentlich über die Herkunft der Statue? In der Zeitung stand, daß sie ein Kunsthändler namens Hirsch 1916 in Neapel erworben habe, nachdem sie von Tarent dorthin gebracht worden sei. Das klingt unwahrscheinlich, weil 1916 Deutschland schon zwei Jahre im Krieg stand, und Italien gerade zum Gegner geworden war. Die Statue sei aber schon einige Jahre vorher entdeckt worden und habe dann zwei Jahre unter miserablen Bedingungen in Mist und Schutt gelegen. Eigentlich stamme sie aus Eboli und sei 1911 gefunden worden. Man habe den Kopf mit einer Säge vom Körper getrennt und erst in Berlin wieder angefügt.

Im Katalog liest sich der Weg etwas anders: Sie sei 1915 auf dem Pariser Kunstmarkt angekauft worden. Während also die beiden Völker sich gerade an der Marne mit dem größten Aufwand seit Menschengedenken zerfleischten, reiste ein Berliner Kunsthändler nach Paris, um den dortigen Sammlern und Museen eine Statue wegzuschnappen, die zu den eigenartigsten und kostbarsten der Antike zählt. Hat der Direktor des Louvre gerade geschlafen oder ein Auge zugedrückt?

Nun sagt Picard aber, daß die verdächtigen acht Bruchstücke dem Hauptstück elf Jahre später nachgereist seien. Demnach wäre die Kore schon 1914 (vermutlich vor Kriegsausbruch) in Paris gekauft worden, was eher möglich scheint, wenn auch immer noch kurios. Und just 1925, als man die Terrakotta-Gußform erwarb, tauchten auch die acht Bruchstücke als Ergänzungen auf. Die Statue war ja jetzt durch die Tonfigur “bestätigt” worden, da konnte man die unmöglichen Reststücke auch noch nachreichen.

Nachdem ich mich von meiner Konsternation erholt hatte, ging ich noch einmal ins Pergamon-Museum und trat – nun weniger ehrfurchtsvoll und mit zwei Zeuginnen, von denen eine Künstlerin ist – vor Persephone. Die Schnittstelle am Hals ist deutlich zu erkennen, gut verspachtelt, aber klar eine grobe rundumlaufende Schnittspur. Außer dieser gut erkennbaren Schnittstelle am Hals gibt es noch einen viel auffälligeren Sägeschnitt; er reicht vom Nacken etwa 10 cm tief den Rücken hinab und ist offensichtlich mit einer Stahlsäge in jüngerer Zeit ausgeführt worden.

Wer begeht dergleichen Vandalismus in unserem aufgeklärten Jahrhundert? Sicher wollte man den Körper der Göttin vom Thron trennen. Aber warum?

Wenn man ein so überaus kostbares Original bei Straßenarbeiten findet, verständigt man sofort den archäologischen Dienst – den gibt es in Rom seit Jahrhunderten – und überläßt den Kuratoren alles weitere. Ansonsten, übrigens, hagelt es Strafen.

Das Gegenteil hat man getan, nämlich die Statue zwei Jahre in Mist und Schutt versteckt (ich nehme an: damit der allzu frische Marmor nachdunkelt), dann nach Neapel geschafft (woher sie wirklich kam, ist einerlei, Tarent klingt gut), und einem Kunsthändler vorgeführt. Der findet nur den Kopf kaufenswert und sagt dies unverblümt dem Bildhauer.
Der Künstler greift zur Säge und trennt ritsch-ratsch am Hals mit glattem Schnitt das gelungene Haupt vom Rumpf. Wegen des umständlichen Transports läßt er den verhunzten Marmorblock beim Händler stehen. Mit dem kargen Lohn in der Tasche begibt er sich auf die Akademie und studiert weiter klassische Skulptur, bis er nach einigen Jahren verstanden hat, worum es wirklich geht. Jugendstil ist nicht gefragt, sondern “echtes” Antikegefühl.

Fehler unterlaufen ihm jetzt nicht mehr. Er wird zum berühmtesten Antikenfälscher des 20. Jahrhunderts: Alceo Dossena, geboren 1878 (oder 1881) in Cremona, nach dem Weltkrieg reich und berühmt mit Atelier in Rom, verarmt gestorben 1937.

Der Skandal

Persephone Dossena

Meine Vermutung, daß Dossena der Fälscher war, wäre einer Prüfung zu unterwerfen. Dieser Sohn armer Leute, der im Steinbruch als junger Mann gearbeitet hatte – ein Marmor-Steinbruch in der Lombardei auf 1000 m Höhe heißt sogar Dossena – wollte hoch hinaus und wandte sich vom schweren Handwerk der leichten Kunst zu. Zunächst schuf er Madonnen, wie sie bei der katholischen Bevölkerung beliebt waren und sich gut verkauften. Aber dann wurde er anspruchsvoller, arbeitete nach barocken Kunstwerken und versuchte sich schließlich an klassischer Kunst.
Dossena erkannte eine Marktlücke, die man füllen konnte: Zwischen archaischem und klassischem Stil der griechischen Kunst war ein Sprung vor sich gegangen. Das ist eigentlich normal, gerade künstlerische Entwicklungen gehen immer sprunghaft voran. Aber wenn man Werke schaffen könnte, die in dieser undefinierbaren “Lücke” entstanden sein sollten, konnte man munter drauflos fälschen, ohne überführt zu werden, denn es gab ja keine Vergleichsstücke. Man mußte nur geschickt die vorausgegangene und die nachfolgende Stilperiode verbinden. Die Meister der Fälscherzunft – und die hat in Italien Tradition – arbeiteten schon immer nach diesem Prinzip: nicht kopieren sondern neu schaffen.
Mit dieser Methode gelang es Dossena, die größten Koryphäen – wie etwa Wilhelm von Bode – hinters Licht zu führen. Aber die eigentlichen Roßtäuscher waren die Händler, die mit Dossenas Werken reich wurden.

Alceo Dossena fing genial an und wurde mit der Zeit schlechter, sein Ehrgeiz ließ nach; er hatte auch das Gefühl, von seinen Auftraggebern ausgebeutet zu werden, wie sein Sohn Walter Lusetti schrieb (Alceo Dossena Scultore, Rom 1955). Darum war er – so ab 1927 – geradezu daran interessiert, der Welt zu verstehen zu geben, daß er gefälscht hat. Je mehr er seine Enthüllungen der Presse vorstellte, die ihn überschwenglich feierte, desto kritischer wurden die Fachleute, bis man ihm nicht mehr glaubte. Es hätte sein können, – der Gedanke ist durchaus berechtigt – daß dieser geniale Bildhauer zu seinem Ruhm (oder aus Rache an den Händlern) auch echte Werke der Antike als eigene Schöpfungen ausgab. Darüber hat der Leipziger Professor Studniczka, der 1928 eigens dafür nach Rom fuhr, einen langen Artikel geschrieben. Fotos und Abgüsse, die ihm Dossena von einem weiteren seiner Werke, dem “Daphneraub” von Velia, im Arbeitszustand zeigte, konnten Studniczka nicht von deren Unechtheit überzeugen, denn ebensogut konnte man diese “Beweisstücke” fälschen. Darin steckt Logik. Aber wie diese großen “antiken” Marmorstücke in die Bildhauerwerkstatt Dossenas gekommen sein könnten, fragte er doch nicht. Und daß diese Gruppe, die im Juli 1926 aufgetaucht war, vom selben Händler angeboten wurde wie die “Athena” im April 1927, die Studniczka sofort als Fälschung erkannte, schien ihn auch später nicht zu stören.

1928 nahm sich der Wiener Kunsthistoriker Leo Planiscig des Falles Dossena an. Er deckte mit umfassender Geste die ganze Größe der Fälschungen auf. Der Ärger war vor allem in Amerika groß, wo viele solcher Werke in berühmten Museen standen (Metropolitan Museum of Art, New York; Boston Museum of Fine Arts, etc.). Sie waren sehr teuer gekauft worden, meist für sechsstellige Dollarsummen.

“Athena in Kampfstellung heißt das erste große ‘archaische’ Werk Dossenas, das seinen Weg bis nach Amerika in das Museum of Art zu Cleveland gefunden hat,” schreibt Eberhard Paul (S. 19). Denn “Archaisches war im 20. Jahrhundert Mode geworden. Dossenas ‘archaische’ Skulpturen sind nur die bedeutendsten und bekanntesten einer endlosen Reihe von Fälschungen dieser Manier.” Paul untersucht in seinem humorvollen Buch mit großer Sachkenntnis eine Vielzahl von griechischen Skulpturen, die alle gefälscht sind.
Sieht man sich die Fotos von Dossenas Fälschungen an, und besonders den Film “Schaffende Hände” (Hans Cürlis), der 1930 gedreht wurde, um Dossenas geniale Fähigkeiten dokumentarisch festzuhalten, dann wird einem klar, daß im Nachhinein niemand getäuscht werden kann: Die eigenwillige Handschrift Dossenas ist in allen seinen Skulpturen erkennbar.

Wie gesagt: die frühen Werke Dossenas sind Meisterschöpfungen, die späteren lassen zu wünschen übrig. Und eine der frühesten muß die thronende Göttin “von Tarent” gewesen sein. Sie trägt schon viele Merkmale, die man ihm an späteren Figuren übelnahm: den unkorrekten Faltenwurf, die falsch liegenden Haare, den modernen Gesichtsausdruck und die mutwilligen Zerstörungen. Aber gerade diese Verletzungen, die ja unabdingbar waren, wenn die Echtheit auf dem Spiele stand, verraten den Künstler: Sie sind immer so ausgeführt, daß die Schönheit der Gestalt, vor allem des Gesichtes, nicht zu sehr darunter leidet. So sind auch bei der Persephone nur rechte Wange und Stirn leicht angeschlagen, während die viel weiter herausragenden Teile wie Nase, Haare und Kinn erhalten blieben. Wer so liebevoll den Marmor bearbeitet wie dieser geniale Sohn armer Leute, der zerstört nicht den besten Teil seiner Arbeit
.
Typisch für diese Zerstörungen ist auch, daß sie immer dort auftreten, wo sich der Künstler nicht sicher war, wie es richtig aussehen müßte, also etwa an den Vorderenden der Stuhllehnen, oder an der Frage, was die Göttin in den Händen halten müßte: die Omphale in der einen Hand, – aber in der andern? Granatapfel oder Mohnblüte oder Alabastron?
Die unproportional kleinen Brüste möchte ich auch noch erwähnen: Diese sind geradezu ein Stilmerkmal von Alceo Dossena, wie man an den “anerkannten‹ Fälschungen” ablesen kann.

Eine Frage, die mich immer wieder bewegt: Warum hat man eigentlich hier im Museum den Kopf so sorgfältig wieder aufgeklebt, den Sägeschnitt am Rücken aber nicht verspachtelt?Auch Restauratoren haben Schwächen und lassen Lücken.

Der italienische Kunsthändler hat also versucht, den Kopf, dessen Monalisa-Lächeln ihn zu lange irritierte, weiterzuverkaufen, und schließlich einen Interessenten gefunden, der auch am Rumpf interessiert war. Diskreterweise nahm man für den Handel den Umweg über Paris wo die Figur im Januar 1914 öffentlich gezeigt wurde. Wilhelm von Bode, Direktor der Museen in Berlin, griff tief in die Privatschatulle und fühlte sich einmal mehr als Wohltäter Preußens.

Später kamen einigen Mitarbeitern wohl doch Zweifel. Der französische Fachmann Picard hatte so gegen 1925 in feinironischer Weise zu verstehen gegeben, daß das Ganze ein Riesenreinfall war. Die Berliner fragten sich also, ob man vielleicht etwas zur Unterstützung der Statue aus Tarent besorgen könne?
Nun, da wäre noch eine Terrakotta-Gußform, ganz apart, denn sonst kennt man nur die Abgüsse dieser Figürchen. Sie wurde 1925 erworben, zur gleichen Zeit wie die inzwischen wieder aufgetauchten acht Marmor-Bruchstücke. Und damit war die Göttin gerettet.

Rechtfertigungen

Da steht sie nun wieder, restauriert und rehabilitiert, seit Februar 1997, vor dem staunenden Publikum. Ich fragte mich jedoch noch einmal: Wie sieht die Rechtfertigung dieses Schwindels in der wissenschaftlichen Literatur aus?
In der Zentralbibliothek des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin-Dahlem, zu der nicht jeder Sterbliche Zugang hat, stieß ich auf die wichtigsten Werke.
Es war der damalige Direktor Theodor Wiegand, der die Ehre und Pflicht wahrnahm, die Erstveröffentlichung dieser Kostbarkeit zu verfassen. Nachdem er im amtlichen Bericht der Königl. Preuß. Kunstsammlungen Nr. 37 (Mai 1916, S. 152) schon eine erste Mitteilung gemacht hatte, gab er in der monumentalen Sammlung “Antike Denkmäler”, Band 3 (1916/17), auf S. 47-52 mit 7 Abbildungen und 11 Fototafeln die vorläufige Beschreibung für den wissenschaftlichen Gebrauch heraus, dem Andenken Winckelmanns (zum 200. Geburtstag 1917) gewidmet. Darin stehen klassische Sätze:
“Der Fundort der Statue, angeblich eine altgriechische Kolonie Unteritaliens, steht noch nicht fest. Andere Mitteilungen weisen sogar auf Herkunft aus dem griechischen Osten. Im Jahre 1914 gelangte das Werk nach Paris und von dort auf Umwegen am 10. Dezember 1915 nach Berlin.”
Der Bildhauer Max Klinger bestätigte Wiegand höchstpersönlich, daß es sich um parischen Marmor handelt. Zumindest in diesem Punkt war man sicher. Wegen gewisser Ähnlichkeiten mit Werken von Aegina ist die Datierung auf 480 v.Chr. vorgeschlagen.

Die Erhaltung des Marmors ist “ungewöhnlich gut”. Zwar sind einige Stücke abgebrochen, aber wieder angesetzt worden, teils in der Antike (!), teils erst kürzlich. Die Verletzungen am Hals sind modern und geringfügig. Der Bruch der Unterarme ist antik. Das kleine Stück der rechten Armlehne ist noch nicht angefügt worden, da man Hoffnung hat, weitere Stücke der Armlehne zu bekommen. (Das klingt mysteriös, hat sich aber zehn Jahre später bewahrheitet).
Farbreste sind nicht erhalten, nur vertiefte Stellen dort, wo man Bemalung annehmen muß. Als Beweis für die ehemalige Bemalung sieht Wiegand die fehlenden Bänder an den Sandalen. Während der Querriemen deutlich modelliert ist, weil er ja gemalterweise unschön wirken würde, sind die Bänder auf dem Fußrücken fortgelassen. Sie müßten also durch Farbe ersetzt gewesen sein. (Das ist plausibel, aber doch sehr an den Haaren herbeigezerrt).

Sämtliche Brüche, Verletzungen und auch die Spuren im Marmor, die vom Transport herrühren, – Schleifspuren an der Rückseite des Thrones, wohl vom Wagen verursacht – sind minutiös beschrieben. “Auf der linken Seite ist die Verletzung der entsprechenden (drei) Locken auf einen modernen Eingriff zurückzuführen, und dasselbe gilt von einer fast unmerklichen Beschädigung des Halses. Alt sind dagegen die Bestoßungen am Diadem …” usw. Hier vermisse ich einen konkreten Hinweis auf den abgetrennten Kopf und den Sägeschnitt am Rückenkissen, die ja nicht zu übersehen sind. Soll das die “unmerkliche Beschädigung des Halses” sein? Auf den mit großer Perfektion ausgeführten Fotografien kann man den Halsschnitt nur mit Mühe erkennen, wenn man ihn schon kennt (etwa auf Tafel 44 vom Nacken her). Der Sägeschnitt am Rücken ist fast perfekt kaschiert. Aber Wiegand hatte ja keine Fotografien vor sich sondern das Original! Konnte er seine Kollegen dermaßen geschickt täuschen?

Übrigens ist auch die herabfallende linke Haarsträhne nicht gebrochen sondern sauber gesägt!
Wiegand ist einer der größten Fachleute seiner Zeit. Schriftlich wundert er sich über manche Einzelheit der Gestalt, hat aber letzten Endes nur Lobesworte bereit:”Es gibt keine archaische Statue, bei der man so unmittelbar vor einer gütigen Gottheit zu stehen glaubt.”

Statt starrer Symmetrie und gewollter Unnahbarkeit im Ausdruck, wie sie archaischen Figuren eigen ist, haben wir hier schon bewegte Formen. Der linke Fuß ist leicht vorangestellt, “dem Moment abgelauscht”. (Wir dürfen nicht vergessen, daß zu diesem Zeitpunkt, 1915, der Impressionismus endlich salonfähig geworden ist). So ist auch der Schattenwurf der Gewandfalten äußerst geschickt eingeplant, meint Wiegand. In seiner Begeisterung für die Schönheit der Göttin gerät er ins Schwärmen. Über die Augen sagt er: “Zwar ist die Schrägstellung vermieden, auch sind die Tränendrüsen leicht angedeutet, und es ist bemerkenswert, mit wie weicher und sicherer Wölbung das untere Lid zur Wange übergeht; aber …” und jetzt kommen wieder archaische Züge, die “noch vorhanden” sind, “ganz in der alten Überlieferung gehalten.” Da es sich um eine Übergangszeit handelt, ist dergleichen Stilmischmasch wohl erlaubt.
Die kleinen Brüste wirken auf Wiegand “ganz jugendlich”, während “die vollen runden Arme und Schenkel mehr den Formen einer reiferen Frau entsprechen.”
Und zum Mund: “Aber hier dürfen wir feststellen, daß die Freundlichkeit des Ausdrucks eine ganz unbefangene geworden ist und nichts mehr zu tun hat mit archaischem Unvermögen.” Ja, es ist wahr, daß dieser “Ausdruck, der so geheimnisvoll anziehend wirkt”, sowie auch Kinn und Wangen “fast individuell modelliert” sind. Die wie Flachornament wirkende Gewandgestaltung “empfindet man … fast wie eine Kühnheit.” Alles, was besonders anmutet, gehört eben zur persönlichen Stilform des Künstlers. Daß dergleichen in der Antike erst in der späten Klassik möglich wurde, weiß Wiegand natürlich. Deswegen sucht und findet er ständig Vergleichsbeispiele für die Eigenheiten, hat aber selten Glück. Wenn es wirklich Parallelen gibt, dann sind es genau die Vorbilder, die Dossena verwendete (aber meist nur von Fotografien kannte, wie zuweilen deutlich wird, etwa beim Thron, der nach Fotos vom anatolischen Harpyen-Fries aus London geschaffen ist, was Wiegand für Kleinasien als Herkunftsort optieren ließ).

Zu diesem Thron wäre noch einiges zu sagen. Auf dem Harpyenfries (und anderswo ebenfalls) hat der Thron die Doppelvoluten an der Seite, an Persephones Thron sind sie vorne. Eigentlich müßten sie da stören, denn sie tragen ja das schmale Seitenbrett, das das Kissen am Verrutschen hindert. Vorne wäre so eine Leiste wirklich störend, und ein Brett zum Sitzen über dem Kissen ist undenkbar. Wenn man aber Fotos vom Harpyen-Thron sieht und nicht weiß, wie so einer wirklich aussah, gewinnt man tatsächlich den Eindruck, daß diese Randleiste die Kante eines Sitzbrettes sein könnte. Kurzum: Dossena hat nicht nachgedacht und sich nicht hineingefühlt, sondern nur nach fotografischen Vorlagen gearbeitet.

Die Rückenlehne ist der Bequemlichkeit halber leicht zurückgeneigt, und das Kissen daran löst den Körper “vorteilhaft” (Wiegand) von der Lehne, was Wiegand als “eine geschickte Neuerung” vorstellt.
Was mir am Gewand aufgefallen war, hatte auch Wiegand schon bemerkt. Es ist dreifach, und zwar zuunterst ein langer Rock, nämlich der jonische Chiton mit weiten genähten Halbärmeln (wieder so ein Zwitter), von denen nur der linke sichtbar ist. Darüber ein reich gefaltetes Gewand, “dessen Erklärung noch nicht in allen Einzelheiten gelungen ist” (auch nie gelingen kann, denn solch ein Gewand trugen die Griechinnen nicht, und wenn es überhaupt tragbar wäre, dann müßte es anders ausgesehen haben). Im Oberteil zeigt es sich als “Mäntelchen”. Die Falten fallen aber in unnatürlicher Weise, nicht der Schwerkraft folgend; sie sind rein dekorativ. Wie ein “Mäntelchen” richtig fallen müßte, zeigt ein sehr ähnliches Bruchstück von der Akropolis in Athen, das Wiegand auch anführt. “Auch der weitere Verlauf des Gewandes nach der Seite hin ist noch nicht klar verständlich.” und “… rechts scheint eine größere Stoffmasse zum Unterarm hinübergeführt zu sein und sich hier mit dem unteren Ende des weiten Chitonärmels zu verbinden;” eben, eben, das war mir ja aufgefallen: was drunter und was drüber liegt, ist verwechselt.
Und dieses Gewand endet in drei spitzen Zipfeln, dergleichen hat man in Hellas nie gesehen. Um den Leib wurde es mit einer Schnur gehalten, denn hier ist eine “geradlinig verlaufende Überschlagslinie schlicht angedeutet.”

“Als drittes Stück der Bekleidung kommt hinzu ein Umschlagtuch”, das läuft “in einem langen Ende aus, das schräg zurückweicht und sich an die Nebenseiten des Thrones anpreßt, als sei es vom Windhauch zurückgetrieben.” Diese Umschlagtücher waren eigentlich aus Leinen oder Wolle, nicht aus Tüll oder Gaze, und Wind einzubeziehen ist hier wirklich weit hergeholt. Aber wenn es windete, dann ist es mit dem platten Faltenwurf eh aus.

Herkunftsgeheimnisse

Im Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Institutes Nr. 32 (1917, S. 204 mit Abb.) schrieb ein gewisser B. Pick über die thronende Göttin, “deren Erwerb und Überführung nach Deutschland kurz vor dem Toresschluß, den der Krieg für uns bedeutete, so großes Aufsehen erregt hat, wird mit Recht als eines der wertvollsten Denkmäler der archaischen Kunst, ja der antiken Kunst überhaupt, angesehen…”
Demnach müßte sie vor August 1914 bereits angekauft worden sein. Sie wurde aber erst am 10. Dezember 1915 aus der Schweiz nach Berlin gebracht. Was machte sie so lange in der Schweiz?
Und weiter: Die Widersprüche in der Erscheinung der Figur, die Mischung der Stile usw. seien kein Anlaß, die Echtheit der Figur in Frage zu stellen. Bei diesem Kultbild ist wohl alles möglich, da ja kein Vergleichsstück vorhanden ist. Die Datierung möchte er lieber ein oder zwei Jahrzehnte später ansetzen (vorsichtig), auf 470 oder 460 v.Chr, damit sie mit der Blütezeit von Tarent zusammenfällt. Die recht ähnlichen Terrakotten von Tarent stammen aber aus dem späten 4. und dem 3. Jahrhundert. (Leider tragen sie das Umschlagtuch direkt über dem Chiton, dazwischen gibt es kein Gewand.)

Da man schon annahm, die Göttin stamme aus einer altgriechischen Kolonie Unteritaliens, und Wiegands durchaus schlüssiger Hinweis auf Kleinasien keine Beachtung fand, stellt Pick noch passende lokrische Münzen dazu, so daß Tarent als Herkunftsort plausibel wird. Man sieht, wie die Käufer selbst vorschlagen, was sie später (1933 durch Frau Montuoro) als “Tatsache” serviert bekommen. Und die Klugheit der Händler ist auch nicht übel: Man wartet ab, bis die Fachleute sich einigermaßen auf den vermutlichen Fundort festgelegt haben, bevor man die Geschichte der Auffindung fabriziert.
Franz Studniczka schreibt in seinem Artikel “Neue archaische Marmorskulpturen. Falsches und Echtes” im Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Institutes, Nr. 43 (1928, S. 140 ff) über die thronende Göttin, die er für zweifelsfrei echt hält (S.206): “Für deren Herkunft aus Unteritalien spricht jetzt schon mehr als das bei ihrem Auftauchen im Kunsthandel lautgewordene, unverbürgte Gerücht, sie sei in Tarent gefunden.”

Wie sehr sich Studniczka bei einer anderen Fälschung, der schon erwähnten “Entführungsgruppe” von Velia, die der berühmte Adolf Furtwängler angegriffen hatte, täuschen konnte, ist bekannt; man kann daraus höchstens schließen, daß vorgefaßte Meinungen durch rationale Argumente selten geändert werden können.
Andreas Rumpf erwähnt in seinem Katalog der Etruskischen Skulpturen (Berlin 1928, S. 9) “die weltberühmte thronende Göttin” ohne jeglichen Zweifel an ihrer Echtheit. Er hat ja auch Studniczka unterstützt.

Otto Brendel schreibt im (Berliner) Archäologischen Anzeiger Nr. 48, (1933, S. 647) über archäologische Funde in Italien: “Die sitzende Göttin ist (- Frau Paola Zancani-Montuoro zufolge -) ein Zufallsfund aus Tarent, sie ist im Jahre 1914 von vier Arbeitern bei Ausschachtungen am Ostrand der neuen Stadt entdeckt worden (es folgt genaue Angabe der Straßenkreuzung). In ihrer nächsten Umgebung waren antike Reste nicht zu bemerken, so daß die Berichterstatterin annimmt, es läge bereits Verschleppung im Altertum vor.” Man erwägt dann einen Zusammenhang mit Pizzone, wo Terrakotten gefunden wurden, die auf einen Persephone-Altar hindeuten könnten.
Es ist vermutlich günstig zu behaupten, daß keine weiteren Funde zu erwarten sind, sonst müßte man einem Forschungsteam die Fundstelle zeigen. “Verschleppung im Altertum” ist eine listige Lösung. Denkt man dabei an antiken Diebstahl? Etwa um die Göttin im Garten hinter der Villa aufzustellen und dort heimlich anzubeten? Oder später an einen Tempel weiterzuverkaufen?
Übrigens müßten diese vier Arbeiter nicht nur sehr umsichtig bei der Bergung ihres Fundes (vermutlich tief in der Nacht), sondern auch sehr kräftig gewesen sein: Das gute Stück wog rund 1000 kg, das macht pro Arbeiter 250 kg, die man auf den Wagen heben mußte. Aber daß Frau Montuoros Erzählung – immerhin fast zwei Jahrzehnte nach den Ereignissen – höchst unglaubwürdig ist, hatte Picard ja schon geschrieben.

Kritik

Es ist nur menschlich, daß einige Leute für ihr fantastisches Monatsgehalt und die ihnen gebotene Sicherheit jeden Blödsinn erzählen würden, der diesen Lebensstandard und Ehrenstatus aufrecht erhält. Daß diese Gehälter und Ankäufe – oft in Millionenhöhe – von unseren Steuern bezahlt werden, ist selbstverständlich. Vielleicht sind auch einige Verantwortliche wirklich dermaßen dumm, daß sie die Fälschungen nicht erkennen. Aber der Gedanke, daß man in so einem Museum oder einer Bibliothek auch einmal Fragen stellt, ist den Angestellten völlig ungewohnt. Der Bürger schluckt, was ihm vorgesetzt wird. Wenn einer einen Verdacht äußert, wird er wie ein Störenfried abgewiesen.
Ist Wissenschaft wirklich ein so abgehobenes Gebiet, daß der Laie nicht anfragen darf?

Ich begebe mich also in die Hochburg der Museumsverwaltung und erlange nach einigem Bitten und wiederholten Anrufen endlich (am Freitag, 23.1.1998 im Alten Museum, 13 h 30) ein Interview mit Frau Dr. Huberta Heres, Vizedirektorin des Alten Museums, die mir bereitwillig auf meine ungewöhnlichen Fragen antwortet. So erfahre ich folgendes:
Die Göttin wurde – der Pressenotiz des Museums von Februar 1997 zufolge – 1911 oder 1912 in Tarent durch Raubgrabung ans Tageslicht gebracht und nach Eboli (bei Salerno) verschleppt, wo sie zwei Jahre in Mist gebettet unter der Erde lag. Dann sägte man ihr den Kopf ab, angeblich “um sie leichter transportieren zu können”. Warum der Schnitt am Rücken erfolgte, ist ungeklärt. Sodann schaffte man sie nach Neapel, wobei der Kunsthändler T. Virzi aus Palermo (Sizilien) behilflich war.

Eventuell stand sie auch zuerst in Locri, weil nämlich ein Wissenschaftler spezialisiert auf diesen Ort ist.
Jedenfalls tauchte sie urplötzlich 1914 in Paris auf und wurde von dem bekannten Kunsthändler Jacob Hirsch, (vermutlich der berühmte Hirsch, der später im Exil in New York lebte), akzeptiert und in seinem Auftrag umgemodelt. Man entfernte die störenden Teile, z.B. die rechte Armlehne, und setzte den Kopf wieder an, diesmal jedoch starr gerade, dem archaischen Stil entsprechend (sonst hätte man sie nie verkaufen können), was aber später Schwierigkeiten ergab, weil man ja schließlich der Sägenaht folgen mußte bei der Wiederherstellung.

Diese Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes ist erst 1996 erfolgt durch Mitarbeiter eines Institutes in Venedig. Zwei Italienerinnen, Cristine Passeri und Alessandra Morelli, waren zweimal drei Wochen in Berlin und setzten der Göttin den Kopf und die rechte Lehne wieder richtig an, wie sie der Künstler ursprünglich geschaffen hatte, was leider dem archaisch-frühklassischen Stil nicht entspricht: ein leicht seitwärts nach rechts geneigtes Köpfchen, “um die Körperbewegung zu betonen”, ist zu diesem Zeitpunkt (480 v.Chr.) undenkbar.
Wolfgang Maßmann stand bei der Restaurierung Pate. Vielleicht war er es, der herausfand, daß der Kopf damals, 1914, als die Göttin in Paris vorgestellt wurde, nicht korrekt angesetzt worden ist. Die Wiederherstellung des ursprünglichen Modells ist insofern berechtigt. Wir haben also jetzt wieder die Jugendstilform vor uns, und das paßt ja auch ins neu gewonnene Zeitbewußtsein.
Der Kunsthändler Virzi aus Palermo gab dann im August 1914 die Statue frei an den Kunsthändler Jacob Hirsch, weil er plötzlich erkannte, daß durch den Ausbruch des Weltkriegs sein Vorhaben, sie an die Preußen zu verkaufen, nicht mehr durchführbar war. Hirsch schaffte sie über Genf nach Berlin, wo sie “über Hirsch in München” (Eintragung im Register des Berliner Museums) angekauft wurde.

Es sind jetzt also die Hauptpunkte geklärt: Die Schnitte wurden nicht im Altertum sondern erst vor 80 Jahren verursacht, zum gleichen Zeitpunkt wie die Kratzer durch Picken und Wagenräder. Aber während die Kratzer blendend weißen Marmor hervorschauen lassen, hat der Sägeschnitt am Hals dieselbe Verwitterung wie die Staue. Die Patina ist also genauso künstlich erzeugt wie die der übrigen Oberfläche, vermutlich direkt durch Anwendung von Säure, oder – wenn man die kommerzielle Version bevorzugt – durch einen Misthaufen, wo sich ja auch Säuren entwickeln.
Das Dübelloch am vorderen Rand der vorhandenen Armlehne ist eigentlich unerklärlich, meinte auch Frau Dr. Heres, denn selbst wenn dort eine Figur eingelassen war, würde diese störend wirken. Ebenso sind die drei Dübellöcher an der rechten oberen Ecke der Rückenlehne reichlich überflüssig.

Mit meiner Frage nach der Terrakotta-Gußform endete das Interview: Sie wurde dem Museum am 8. August 1925 (Protokoll des Museum-Archivs, Inventar-Nr. 30990) überlassen durch den Maler Hermann Westphal aus Berlin-Steglitz, der sie (vermutlich) von einer Italienreise mitgebracht hatte. Da sie aber als Fälschung sofort auffällt – sie ist, wie gesagt, absichtlich als Fragment hergestellt worden – dürfte sie von Westphal stammen. Die vielen dünnen Falten lassen auf Unkenntnis des frühklassischen Stils schließen.

Folgerung

Zu Anfang hatte ich mir die Frage gestellt, ob Wiegand und seine Kollegen raffiniert getäuscht wurden, oder ob sie uns – vermutlich aus Geldgier – täuschen wollten? Nach langem Durchdenken blieb mir nur der Schluß, daß Wiegand als großer Kenner griechischer Kunst wohl sehr viel schneller als ich gemerkt haben muß, was ihm da vorgesetzt worden war. Auch Studniczkas Verhaltensweise, der aus dem Atelier Dossenas in Rom zurückgekehrt die Persephone mit großem Eifer verteidigte, ist gar zu durchsichtig. Der Fall liegt offen zutage.
Abgesehen von dieser beispielhaften Enttäuschung, die mich hinsichtlich unserer großen Wissenschaftler nun niederdrückt, sind die Folgegedanken nicht erhebender.

Wir haben seit der Aufstellung dieser unmöglichen Statue ein ganz anderes Bild von den archaischen Griechen bekommen, ein Bild, das nie mehr ausgelöscht werden kann. Gewiß, auch das von Winckelmann geschaffene Griechenbild war eine persönliche Schöpfung und der Realität wohl sehr fern, aber es handelt sich dabei zumindest nicht um willentliche Fälschung. Und eine weitere Frage stelle ich: Wenn die Sägestellen zuerst verschwiegen wurden, durch diese Schnitte aber logischerweise der Glaube an die Echtheit der Statue ad absurdum geführt wird, müßten dann nicht die Verantwortlichen den Unfug beendet und die Statue in den Keller oder ins Jugendstilmuseum geschafft haben? War das der Grund für die “Restaurierung” nach der Wende? Wer hat nun wieder betrogen?

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