Die Horra – Neues aus Eurasien

Bücher über Vorgeschichte sind oft von Visionen ihrer Autoren geprägt: Von Vorstellungen über eine perfekte menschliche Gesellschaft, die im Gegensatz zur Gegenwart als Verlust zu verbuchen ist.

Ob chauvinistische Verklärung territorialer Unbewegtheit und Größe (Isolationismus) oder jene Version einer Urgesellschaft cleverer Urmütter (Matriarchat): Prähistorische Gesellschaftsentwürfe projizieren gegenwärtige Wunschbilder zurück.

Ganz anders Uwe Toppers Buch über eine prähistorische Menschengruppe, die er als Impulsgeber moderner, technischer Fertigkeiten der Menschheit mutmaßt: Die Horra erscheinen kaum als friedfertige Blumenkinder. Rauhe, mitleidlose Fürsten, Krieger, Festungsbauer: Das Bild der Horra bietet eher ein befremdendes Szenario, denn die archaische Ursprünglichkeit paart sich mit modernen politischen und technologischen Zügen.

Topper geht davon aus, dass den Horra, die aus mittelasiatischen Gebirgs- und Steppengebieten westwärts bis nach Portugal gewandert seien, eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der Zivilisation zukommt.

Der besondere Angelpunkt in der Zuweisung dieser Schlüsselrolle ist die Bedeutung der Metallverarbeitung. Hier liegt allerdings ein Novum für die wertende Interpretation von Vorgeschichte. Denn bisher wurde die Urgeschichte des eurasischen Raums von gegenwärtigen ideologischen Interessengruppen als Konflikt zwischen friedlichen und sesshaften Bauern einerseits und umherziehenden militanten viehzüchtenden Kriegern andererseits betrachtet.

Festung der Horra von Zambujal (Portugal) | Foto: Uwe Topper

Was dieser Sichtweise absolut fehlte, war eine aufmerksamere Analyse der Details, was Bauwerke, Kultgegenstände, Waffen und Werkzeuge betrifft. Eine derartige Analyse deutet nämlich auf die sehr frühe Wichtigkeit der Metallgewinnung (Verhüttung) und Verarbeitung. Damit erweist sich die spätzeitlich angesiedelte Periodisierung der Metallzeiten als offenbarer Nonsense.

Es wird vielmehr deutlich, dass aufgrund der Komplexität des metallurgischen Produktionsprozesses bereits in frühester Zeit gesellschaftliche Arbeitsteilung, Handwerkszünfte und -Geheimnisse vorhanden gewesen sein müssen.

Eine überragend instruktive Spur in diese vielschichtige Wirklichkeit archaischer Stammeskultur weisen uns die Mythen: Da ist z.B. von Schmiedegöttern die Rede: Bei Griechen, bei Germanen, bei kaukasischen Völkern treten sie aus mythischem Nebel hervor – und es wird überdeutlich, dass die Lebensweise großer indoeuropäischer Kulturvölker nicht allein von Bauerntum und Seßhaftigkeit geprägt gewesen sein kann. Aber auch die Bedeutung der Schmiedegötter und ihrer Kunst im Bereich des nordeurasischen Schamanismus widerlegt die simplifizierende Deutung alter Kulturen (in diesem Falle als “Jäger und Sammler”).

Von mysteriöser Kraft sind aber nicht nur die Schmiedegötter wie Wieland oder Hephaistos. Einen äußerst mysteriösen Stellenwert, changierend zwischen grenzenloser Bewunderung und extremer Tabuisierung haben auch Schmiede als Berufsgruppe in archaischen Kulturen.

Es gibt aber noch einige andere Leitfossilien, an denen Topper typische Kennzeichen der Horra ausmacht: Ziegenzucht, Weinbau, Handel mit Metallprodukten, militärische Überlegenheit, abstrakte globale Verwaltungstechnik zur Herrschaft über große Gebieten und schamanistische Religiosität.

Es ist eine seltsame Mischung aus Hedonismus, wilder Spiritualität, ökonomischer Cleverness und Umtriebigkeit sowie außergewöhnlicher Mobilität im Rahmen größter Territorien, die die Horra auszeichnen. Es ist eine ausgesprochen skurrile Synthese aus archaischen und sehr modern anmutenden Wesenszügen, die den Leser zwischen Faszination und Befremdung schwanken lassen.

Sicher gehört es zur Natur des Themas, dass der Autor in seiner Darstellungsweise Fragmente, Assoziationen und zum Teil Vermutungen in bunter Folge vorbeiziehen lässt. Schließlich handelt es sich um eine historische Hypothese, nicht um die bloße präzise Schilderung vorgefundener Fakten. Und vor allem handelt es sich um eine grundlegende Revision unserer Vorgeschichte und die Einführung eines völlig neuen “Szenarios”.

Demzufolge bietet Uwe Topper statt einer konsistenten, systematischen Darstellung eher eine Art Entdeckungstour – durch eben jene “Spurenelemente”, die die Horra in großen welthistorischen Zusammenhängen hinterlassen haben.

Wenn die Rede von diktatorischen Elementen in der Horra-Politik ist, etwa von der Rolle des “Groß-Khans” für die Herausbildung einer monotheistischen Gottesidee, würde man sich vom Autor auch eine bewertende Einschätzung eines solchen historisch-politischen Phänomens wünschen.

In jedem Fall ist das Buch ein Tabubruch für alle Traditionsinteressierte, enthält es doch eine Menge Querverbindungen z.B. mit dem Komplex der Indoeuropäer, der nach Topper bisher falsch eingeordnet wurde.

Hier ist die Rede von Kulturschöpfern, die umherwandernd, Handel treibend und sich zugleich weinrauschbeseligt schamanischen Mysterien hingaben. Das dürfte bei manchen Anhängern eines indoeuropäischen Heroenideals puritanischer Prägung heftige Magenbeschwerden verursachen.

Aber auch jene Interpreten der Vorgeschichte, die die Menschen archaischer Kulturen als “glückliche Primitive” idyllisieren, bekommen bei ihrer Lektüre genügend Anregungen für eine gründliche Kurskorrektur.

In jedem Fall regt das Buch Denkanstöße über die Entwicklung unserer Geschichte an, mit denen herkömmliche Adjektive und Begriffe vordergründiger Art aufgelöst werden, indem inhaltliche Zusammenhänge erörtert werden. Wer hätte z.B. daran gedacht, einen sprachlichen Zusammenhang zwischen einem “semitischen” Gottesnamen wie Allah und dem “altgermanischen” Uller herzustellen ? Oftmals sind es Ordnungssysteme von nicht zu vereinbarenden Gegensätzen, die unser Denken hemmen, während die Verknüpfung scheinbar gegensätzlicher Fakten neue Erkenntnisse zu Tage fördern. Und aus einem derartigen Stoff ist das vorliegende Buch.

Uwe Topper, horra : Die ersten Europäer, Tübingen 2003, ISBN 3-87847-202-1

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© Matthias Wenger (August 2003)

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