Preußen von gestern und der Islam von morgen
Der Essay von Günter Lüling ist in 10 Kapitel gegliedert; hier werden als Auszug die Kapitel 5-6 veröffentlicht. Der vollständige Text kann als PDF-Format hier gelesen oder heruntergeladen werden:
Preußen von gestern und der Islam von morgen (PDF).
1. Preußens Geist der Aufklärung
2. Der Verfall der vom frühen Preußentum getragenen Aufklärung
3. Die BRD-Universitäten als Hort der Unterdrückung essentieller Kritik
4. Palaver-pluralistische Unterdrückung von Forschung…
5. Die Unterdrückung der historischen Wahrheit hinsichtlich der Trinitätslehre
6. Die deutsche liberal-protestantische Theologie und die Islamwissenschaft…
7. Der allerletzte liberal-protestantische Theologe…
8. Die Reaktion der Fachwissenschaft auf koranwissenschaftliche Forschung…
9. Gegenwärtiges Geplänkel
10. Die Moral von der Geschicht
Auszug:
5. Die Unterdrückung der historischen Wahrheit hinsichtlich der Trinitätslehre
Die christliche Trinitätslehre, – Gott Vater, Gott Sohn und der Heilige Geist bilden den einen monotheistischen Gott: „tres personae, una substantia” („drei Personen, eine Substanz”), wie der älteste Kirchentheologe Tertullian (ca. 160-225) es formulierte –, ist der große Streitpunkt, wegen dessen der Islam in heftigster Bestreitung dieser christlichen Lehre ganz eigentlich nur entstanden ist (um 600 n.Chr.). Die liberale protestantische Theologie hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts text- und historisch-kritisch den Beweis geführt, daß die christliche Trinitätslehre eine (erstaunlich frühe) Erfindung früher hellenistischer Theologen ist, die nichts mit dem Christus-Verständnis der semitisch-christlichen Urgemeinde und dem Selbstverständnis Jesu zu tun hat.
Es ist insbesondere das zuletzt entstandene Evangelium, das Johannesevangelium (um 120 n.Chr.), das diese neue und in scharfem Gegensatz zum ursprünglichen Verständnis der Person Jesu stehende Lehre einführt. Es waren insbesondere die Schweizer liberal-protestantischen Theologen Albert Schweitzer (1875-1965) und Martin Werner (1887-1964), die aus den biblischen und frühen theologischen Texten der Kirche dokumentiert haben, daß Jesus und die Urgemeinde den Messias gemäß der in spätjüdischer Zeit herrschenden Kosmologie als prä- und postexistenten „Herrschaftsengel” verstanden haben. Auch die griechische Anrede Jesu „Kyrios”, „Herr”, weist ihn den im NT „kyriotäs” genannten „Herrschaftsengeln” zu. Auch im Koran herrscht noch das alte Verständnis der verschiedenen Engelklassen, und im Koran heißen die Herrschaftsengel „rabbânîyûn”, was der Anrede Jesu als rabbûnî „mein Herr” entspricht, wenn er im NT in aramäischsemitischer Sprache angeredet wird (z.B. Mark. 10,51; Joh. 20,16). Engel aber gelten damals als Geschöpfe Gottes.
Ohne hier auf die eigentlichen Hintergründe für die Abschaffung der urchristlichen Engel- und Christus-Lehre im römischgriechischen Christentum eingehen zu können, – diese hintergründigen Motive sind für dieses trinitarische Christentum ein sehr negatives, ein entlarvendes Kapitel –, müssen wir hier wenigstens das unschwer erkennbare Faktum hervorheben, daß in diesem zentralen Streitpunkt der christlichen Lehre von der Trinität nur der Islam im Prinzip bei der Wahrheit stehen geblieben ist, während das trinitarische Christentum die urchristliche Wahrheit (bald nach 100 n.Chr.) mutwillig fälschend verlassen hat. Dieser heute klar erkennbare Umstand wäre nun eigentlich ein ebenso triftiger wie erfreulicher Anlaß dafür, daß beide, Christentum und Islam, sich in der Weise einigen oder gar vereinigen, daß das Christentum zur urchristlichen Wahrheit zurückkehrt und auf diese Weise dem Islam Recht gäbe. (Es gibt genug andere Punkte der Dogmatik, wo im Gegenzug der Islam aufgrund moderner Erkenntnisse abendländische historische Wahrheit anzuerkennen hätte!) Aber die erfundene Trinitätslehre hatte die Christenheit so früh und so umfassend erobert, daß ihre Abschaffung heute die Abschaffung von rund 19 Jahrhunderten verfälschten Christentums bedeutet.
Warum eigentlich nicht, wenn man die betrügerische und blutige Geschichte dieser 19 Jahrhunderte bedenkt, und daß somit ein Neuanfang des weltbürgerlichen Denkens möglich würde? Aber das will die heutige, real existierende christliche Kirche nicht. Sie möchte bei ihrer Unwahrheit bleiben, selbst unter dem Aspekt, daß sie so die 1400 Jahre der Feindschaft zum Islam für alle Zukunft aufrecht erhält – zum Leidwesen der ganzen Welt! Und so sind die eindeutigen Arbeiten Albert Schweitzers und Martin Werners von der palaver-pluralistischfundamentalistischen Theologie des 20. Jahrhundert mit größtem Fleiß und noch größerer Unauffälligkeit totgeschwiegen worden. Jedem angehenden Theologen, der sich als Parteigänger dieser liberalen Theologen Schweitzer und Werner zu erkennen gab, wurde der Weg in eine akademische Laufbahn versperrt – natürlich mit anderslautender, nichtssagender Begründung. Und so kennt man heute Martin Werner und seine Argumente gar nicht mehr – obwohl in Büchern (noch) griffbereit vorhanden. Von Albert Schweitzer weiß man noch, daß er ein berühmter Urwalddoktor war und ein hervorragender Orgelspieler, womit er sich Spenden für sein Urwaldhospital erspielte. Daß er ein großer liberaler Theologe war und aus tiefster Resignation über die Reformunwilligeit der Kirchen in den Urwald zu tätiger Nächstenliebe abwanderte, ist aus dem Gesichtskreis verdrängt. Jedenfalls hat er die Reformunwilligkeit und die unbeirrte fundamentalistische Verdrängungstheologie der christlichen Kirche im 20. Jh. richtig vorausgesehen.
6. Die liberal-protestantische Theologie und die liberale Islamwissenschaft
Im 19. Jahrhundert, als die europäische Islamwissenschaft noch im Entstehen begriffen war, war es üblich gewesen, daß liberale protestantische Theologen, die wegen ihrer Dogmenkritik Probleme mit der herrschenden restaurativ-kirchlich orientierten Theologie bekamen, in das Fach Islamwissenschaft überwechselten. Das war ein horizonterweiternder Gewinn für die Islamwissenschaft. Nach 1918 wird die palaver-pluralistische Islamwissenschaft keine liberalen dogmenkritischen Theologen mehr in ihren Reihen dulden. Man ist nun stolz, daß man nur noch „reine Philologie” betreibt und niemanden ernsthaft kritisiert. Diese vielen liberalen Theologen in der Islamwissenschaft des 19. Jahrhunderts haben ihre am Alten und Neuen Testament erarbeiteten und bewährten Techniken der Textkritik nun auch intensiv auf den Korantext angewandt.
So kam es, daß in den letzten Jahrzehnten vor der Verdrängung der liberalen Theologie durch den pluralistischen Fundamentalismus (also ca. 1885-1915) zwei Thesen intensiv diskutiert wurden, die den traditionellen islamischen Korantext in bisher nie dagewesener Weise in Frage stellten: Zuerst vertrat der Wiener Professor für Islamwissenschaft David Heinrich Müller (1846-1912), – in seiner wissenschaftlichen Karriere zuvor Rabbiner an einem jüdisch-theologischen Seminar in Breslau –, die These, daß der Koran in umfangreichen wesentlichen Teilen ursprünglich aus Strophenliedern bestand, deren klare strophische Gliederung durch spätere Eingriffe in den Text mutwillig zerstört worden ist, so daß der schließlich sanktionierte islamische Korantext nur noch eine monotone Prosa bot. Sein Schüler und Nachfolger auf seinem Wiener Lehrstuhl Rudolf Geyer (1861-1929) hat dann in einer späteren Abhandlung (1908) in einer großen Zahl von koranischen Suren diesen ursprünglichen Strophenbau des Koran überzeugend nachgewiesen. Eine Reihe weiterer hervorragender Professoren nahm an dieser Diskussion teil und befürwortete einhellig die Fortführung dieser Erfolg versprechenden Forschungen zum ursprünglichen Strophenbau im Koran.
Auf dem Internationalen Orientalistenkongress in Algier 1905 trat dann der liberale protestantische Theologe und Islamwissenschaftler Karl Vollers (1857-1909; 1886-1896 leitender Bibliothekar an der Khedivialbibliothek in Kairo) mit der These hervor (sein Buch erschien 1906), daß der gesamte Koran ursprünglich nicht in klassischem Hocharabisch (der Sprache der heidnischen Heldendichtung der Araber) sondern in dem altarabischen Dialekt (Umgangssprache) Zentralarabiens geschrieben gewesen war. Dieser Dialekt besaß wie alle arabischen Dialekte keine Kasusendungen. Dieser ursprüngliche umgangssprachliche Korantext wurde also insbesondere dadurch von den frühen Muslimen in die klassische Hochsprache erhoben, daß allen Wörtern grammatische Kasus- und Modalendungen angehängt wurden.
Interessanterweise stützten sich beide Thesen (1. ursprüngliche Strophendichtung, 2. ursprüngliche Umgangssprachlichkeit) gegenseitig, denn alle arabische Strophendichtung war und ist im Prinzip immer umgangssprachliche Dichtung. Aus diesem Umstand ergibt sich, daß, wenn der Koran ursprünglich Strophendichtung enthielt, er auch ursprünglich umgangssprachlich geschrieben gewesen sein muß. Außerdem ergibt sich aus diesem Umstand, daß die Verwandlung des Textes vom Umgangssprachlichen zum Hochsprachlichen zugleich ein Mittel der Vernichtung der Endreime aller Strophenzeilen darstellte: Da die Verwandlung ins Hocharabische notwendigerweise in der Hinzufügung von Kasus- und Modalendungen an alle Wörter bestand, ergibt sich, daß diese hinzugefügten grammatischen Endungen die ursprünglich endreimenden Silben in die zweitletzte Position verdrängten und somit den ursprünglichen Reim vernichteten, so daß die ursprünglich mit jeder Zeile reimende Strophendichtung insgesamt im Prinzip schon beseitigt war. Andererseits leuchtet ein, daß die Rückverwandlung des Textes in einen umgangssprachlichen Text durch die Weglassung der grammatischen Kasusendungen die ursprünglichen Reime der Strophenzeilen im Prinzip wiederherstellt.
Der zweifellos berühmteste Gelehrte der islamischen Welt des 20. Jhdts, der (als Knabe erblindete) Professor für arabische Literaturwissenschaft Taha Husain (1891- 1973; für einige Jahre auch Kultusminister Ägyptens) vertrat 1926 ebenfalls die These, daß der Koran „vorislamische metrische Dichtung” enthalte. Er wurde aber sofort gezwungen, diese Aussage zu widerrufen.
Sobald (1918) in der deutschsprachigen Islamwissenschaft jene seit längerem aufkommende pluralistisch und/oder faschistisch orientierte Richtung die letztlich alleinige Führung des Faches übernommen hatte, führte deren geistiger Charakter natürlich nicht zur Widerlegung dieser umwerfend wichtigen, liberal-theologisch und philologisch bestens fundierten Erkenntnisse der Jahre 1885-1915 über eine einstige Strophendichtung im Koran, sondern in völlig unwissenschaftlicher Weise zu ihrer stillschweigend-taktischen Ausgrenzung aus dem Gesichtskreis der nunmehr „rein philologischen” Islamwissenschaft.
Der letzte große liberal-protestantische Theologe und Islamwissenschaftler Paul Kahle (1875-1964) hat noch in verschiedenen Publikationen (zuletzt 1948 und 1949) energisch für die ursprüngliche Umgangssprachlichkeit des Koran gestritten, und es ist bezeichnend, daß seine Bemühungen dadurch behindert waren, daß er aufgrund von antisemitischen Pressionen auf ihn 1939 zur Emigration (nach England) gezwungen war. Heute noch vertritt die palaver-pluralistische deutsche Islamwissenschaft die traditionell-islamische Auffassung, der Koran sei hocharabisch geschrieben, und das schon immer, und enthalte auch keine Strophenlieder. Damit war die grundlegende wissenschaftlich- dogmenkritische Revolution aller Vorstellungen über den Koran sowie über die Entstehung des Islam von dieser neudeutschen, im Geist des Palaver-Pluralismus wie des Nationalsozialismus großgewordenen Arabistik und Islamwissenschaft für das gesamte 20. Jahrhundert mittels westlicher „politischer Korrektheit” oder besser „Inkorrektheit” verhindert. Denn diese nun etablierten neudeutschen, „rein philologischen” Professoren der Islamwissenschaft seit 1933, die die dogmenkritische Richtung der weltweit angesehenen liberal-protestantischen Theologie und Islamwissenschaft des 19. Jahrhunderts aus dem Fach Islamwissenschaft verdrängten, – sie verstanden nichts von Theologie und waren auch völlig desinteressiert an ihr! –, sollten bis in die Mitte der 80er Jahre absolutistisch regieren – und durch die von ihnen zu Professoren gemachten Schüler bis ins 21. Jahrhundert hinein.
© (Erben) Günter Lüling · Erlangen · 2006
Zuerst veröffentlicht in: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 13/2007
Aufklärung und Kritik ist eine Veröffentlichung der Gesellschaft für kritische Philosophie (GKP) Nürnberg.