Kanaren – 1000 Jahre in Vergessenheit?
Konnten die Kanarischen Inseln, in der Römerzeit gut bekannt, bis zum 14. Jh nicht mehr erreicht werden?
Im Jahrbuch des Institutum Canarium, „Almogaren“ (Bd. XXXVII/2006, p.85-117) erschien gerade ein Artikel von Pablo Atoche Peña (Universidad de Las Palmas de Gran Canaria) mit dem Titel: „Canarias en la Fase Romana (circa s. I a.n.e. al s. III d.n.e.): los hallazgos arqueológicos“, den der Autor auch auf dem Treffen der Institutsmitglieder im Mai 2005 in Las Palmas de Gran Canaria vorgetragen hat. Mehrere Informationen in diesem Artikel regen zum Weiterdenken an.
Einfachheitshalber ist dem Text eine Tabelle beigegeben, in der die wichtigsten Punkte schematisch erkennbar sind: Die frühen Berührungspunkte der Kanarischen oder „Glücklichen“ Inseln mit den Europäern oder Afrikanern waren zahlreich, schon von phönizischer Zeit an, fortgesetzt unter den Puniern und schließlich den Römern bis zum 3. Jh. n. Chr. Dabei wird auch geklärt, daß es selbst für primitive Seefahrer nicht allzu schwierig gewesen sein kann, von der afrikanischen Küste (Mogador oder Kap Juba) aus die Inseln zu erreichen, und daß ein alternativer Seeweg von Cádiz direkt zu den Inseln, besonders zur nordwestlichsten Insel La Palma, häufig benützt worden sein muß, wie Felsbilder und andere Funde dort bezeugen.
Nach dieser ersten Etappe, die mit etwas mehr als tausend Jahren veranschlagt wird, folgt eine zweite ebenso lange Phase (2. und 3. Etappe), in der keine Kontakte des Festlandes mit den Inseln verzeichnet werden. Danach beginnt die bekannte Eroberung und Christianisierung der Inseln durch die Spanier und befreundete Nationen, hier als Zerstörung und Akkulturation der Kanarischen Kultur bezeichnet.
Nun fragt sich der mitdenkende Leser, ob die Kanarier während dieser tausend Jahre so völlig unbekannt gewesen sein können, wo ihre mit Purpurfarbstoff und anderen Kostbarkeiten gesegneten Inseln doch so nahe lagen und die Überlieferung davon sich sogar bis heute erhalten hat. Wenn es vorher den Seefahrern leicht fiel, dorthin zu segeln, dann ist ein tausend Jahre langes Versteckspiel nicht denkbar. Man könnte eine Katastrophe annehmen, in der alles Wissen verlorenging. Danach sollte doch in kurzer Zeit der Kontakt zu den Inseln wieder hergestellt worden sein, zumal man von höheren Bergen Afrikas (westlicher Hoher Atlas) aus bei gutem Wetter die häufige Zusammenballung von Wolken über dem höchsten Gipfel von Teneriffa (Teide) sehen kann. Erfahrene Seeleute schließen aus solchen stetigen Wolkenbildungen auf größere Inseln oder Festland im Meer. Und zumindest zu den beiden Ostinseln Fuerteventura und Lanzarote verschlägt es auch heute noch manchmal kleine Fischerboote, die dann – wenn sich das Wetter beruhigt hat – auch den Weg wieder zurück finden. Wären die Inseln unbekannt gewesen, häte sich eine solche zufällige Entdeckung wie ein Lauffeuer herumgesprochen.
Ein weiterer Hinweis vervollständigt meine Vermutung, daß der Hiatus nicht echt sondern chronologiebedingt sein dürfte. Als man die ersten Amphoren auf den Kanarischen Inseln fand, stufte man sie automatisch als römisch ein, und meist als spätkaiserzeitlich. Miguel Beltrán Lloris selbst hatte die Typologie der Amphoren 1970 aufgestellt und erst später (1990) erkannt, daß es sich keineswegs um römerzeitliche Krüge handelt, sondern daß sie aus dem 16. und späteren christlichen Jahrhunderten stammen (S. 91, Anm. 14). Das ist gewiß von einem Kenner der Materie gesprochen, denn so leicht korrigiert man seine Meinung nicht. Derselbe Fehler war ja auch schon anderen Archäologen unterlaufen, welche Amphoren, die man an der Ostküste Südamerikas fand, als römisch eingestuft hatten und dann erkannten, daß sie denen aus Granada und Málaga des 16. Jh.s gleichen. Irrtümer haben ihre Hintergünde und sind aufschlußreich.
Wenn nämlich die Wein- und Ölkrüge mit Handwerksmarken aus dem 4. Jh. Roms und dem 16. Jh. Spaniens völlig gleich sind, so daß sie von Fachleuten verwechselt werden können, dann kann zwischen beiden kaum ein Zeitraum vergangen sein, denn ein Handwerk läßt sich nicht einschläfern und nach einem Jahrtausend neu beleben. Die direkte Weitergabe der Handgriffe vom Vater auf den Sohn ist Grundbedingung.
So haben wir zwei Hinweise darauf, daß an einem äußeren Rand der bewohnten Ökumene, den Kanarischen Inseln, eine Lücke in der Zeitrechnung – ein ganzes Jahrtausend – offenbar wird. Es könnten weitere Fehler vorliegen, aber dies scheint zumindest die leichteste Lösung zu sein: Die spätkaiserliche römische Antike geht bruchlos und unmittelbar in die christliche Seefahrt der Spanier über. Das Jahrtausend dazwischen ist durch kirchliche Jahreszählung verursacht.