Der Vater der “Fantomzeit” – ein Nachruf auf Hans-Ulrich Niemitz
Am 2. November 2010 starb Hans-Ulrich Niemitz (1946 in Berlin geboren). Zuletzt war er Professor für Technikgeschichte an der Universität Leipzig. Seine Dissertation war technikbezogen im besten Sinne: „Dampfturbinenkonstruktion bei der Brown Boveri & Cie nach dem zweiten Weltkrieg“ (Frankfurt/M etc, 1993). Über die akademischen Verdienste von Dr. Niemitz kann man an verschiedenen Stellen nachlesen, auch elektronisch (Wikipedia, Universität Leipzig etc.), ich möchte hier nur einige Blitzlichter auf sein Wirken als Pionier der chronologiekritischen Forschung werfen.
Als einer der frühesten Befürworter der „Neuen Historischen Schule“ richtete er sein Augenmerk auf die archäologischen Methoden und wies als erster auf die »Lücke« im Mittelalter hin. Er führte den Begriff der „Phantomjahre“ in die deutsche Geschichtsforschung ein, wobei er ihn speziell für die Jahrhunderte zwischen ausgehender Völkerwanderung und Gründung des ersten Deutschen Reiches geprägt hat (grob gesagt zwischen 500 und 1000 n.Chr. der konventionellen Zeitrechnung). Zur Untermauerung seiner These hat er die technischen Datierungsmethoden – vor allem Dendrochronologie und Radiokarbonmethode – untersucht und auffällige Zirkelschlüsse sowie mathematische Unredlichkeiten darin entdeckt.
Das Ergebnis dieser gemeinsam mit Dipl. Ing. Christian Blöss durchgeführten Arbeit ist in dem Buch C14-Crash – Das Ende der Illusion, mit Radiokarbonmethode und Dendrochronologie datieren zu können (Gräfelfing 1997) in exakter, wissenschaftlicher Sprache und Analyse, und zugleich in allgemeinverständlicher Weise, dargeboten. Zusammen mit Uwe Topper und Christian Blöss gründete Niemitz 1994 den Berliner Geschichts-Salon (BGS), den er mit immer neuen Referaten über die Probleme der Technikgeschichte und Chronologie bereichert hat.
Seine Ablehnung der angeblich naturwissenschaftlichen Methoden zur Altersbestimmung drückt sich auch in dem mutigen Satz aus (der in der Einladung zum 19. BGS, 2000, stand):
„Katastrophen ändern schlagartig die Randbedingungen und lassen keine Rückschau mehr zu, weshalb sie von den meisten Wissenschaftlern verabscheut werden.“
Niemitz war es auch, der das Augenmerk der Geschichtsrekonstrukteure auf Kammeier lenkte und damit erst die neueren Gedanken über die Entstehung des Christentums auslöste.
In meinem Buch „Zeitfälschung“ (2003) stellte ich im Anhang acht historische Personen der kritischen Geschichtsforschung vor, darunter einen noch lebenden: H-U Niemitz. Meine Hochachtung für diesen Mann hatte darin ihren natürlichen Ausdruck gefunden.
Irgendwann fängt alles einmal an, nicht immer ist der Ursprung klar erkennbar. Große Ideen haben meist mehrere Väter, und wie es eigentlich anfing, ist später schwer festzustellen. Das Wort „Fantomzeit“ dürfte nach allem, was wir herausfinden konnten, von Niemitz stammen. Es ist nun aus der Debatte nicht mehr wegzudenken, es wurde zum Schlüsselbegriff für alle weiteren Schritte.
Ein Phantom ist ein Gespenst, eine nicht real existierende Erscheinung, ein Phantasiegebilde, ein Trugbild. Im medizinischen Bereich spricht man von Phantomschmerzen: wenn ein längst amputiertes Glied noch Schmerzen verursacht. Es kann nicht mehr wehtun, tut es dennoch. Dies gehört eigentlich zum Bereich der Psychologie oder genauer: zur Psychopathologie.
Diese Assoziation war es wohl auch, die Niemitz veranlaßte, für den neuen Gedanken der Mittelalterlücke das Wort Phantomzeit einzuführen: eine Abfolge von Jahrhunderten, die es nicht gegeben hat, die nur in der Einbildung vorhanden sind, die zum Bereich der Phantasie und Erfindung gehören – kurz: ein psychologisches Phänomen. Ein in jene Zeit projizierter Kaiser Karl kann keine Schmerzen (oder Glorien) bewirken, er tut es dennoch. Er ist Ergebnis einer krankhaften Einbildung, einer Erfindung, einer Lüge. Wissenschaftlich gesehen – und das hieß zunächst für Niemitz: archäologisch nachweisbar – war dieser Zeitraum nicht.
Wie es unter ernsthaft forschenden, wissenschaftlich geschulten und weiträumig schauenden Historikern zu diesem Phantom kommen konnte und wie sich das Gespenst so lange halten konnte, das war erstaunlich und längerer Untersuchung wert.
Ein amputiertes Glied, das dennoch Schmerzen verursacht? Die Psychoanalyse hat hier eine plausible Erklärung zur Hand: Verdrängung heißt das Zauberwort. Der russisch-deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Immanuel Velikovsky war Schüler von Freud und hatte dessen Verdrängungsbegriff in die Geschichtsschreibung eingespeist: Weil die Menschheit die vergangenen kosmischen Katastrophen verdrängt, muß sie entsprechende Wahnsinnshandlungen wie Krieg, Völkermord, Tortur usw. stets wiederholen. Die Auflösung des Rätsels, die Freilegung der Katastrophen, müßte ein Ende der Wahnsinnsreaktionen bewirken können. Als Niemitz mit einigen Velikovsky-Anhängern ab 1984 zusammentraf, wurde ihm die Anwendbarkeit dieses Gedankens bewußt.
Zuerst allerdings mußten die Gespenster beim Namen genannt werden. Nach den in jenem Kreis schon erfolgreich benannten Dunkelzeiten in Mesopotamien und Hellas blieb das Dunkle Mittelalter der Europäer ein Stein des Anstoßes. Wann dies zum ersten Mal zur Sprache kam, erfahren wir aus der Laudatio von Andreas Otte zu Illigs 60. Geburtstag (2007). Hier finden sich bemerkenswerte Erinnerungen zur Entstehung der Fantomzeit-Hypothese. Vor dem so häufig zitierten Telefongespräch im August 1990 zwischen Illig und Niemitz gab ein Treffen in Wien drei Monate vorher den ersten Anstoß.
Die eigentlichen Protagonisten waren der Wiener Architekt Peter Mikolasch (Laudatio S. 87), der Urwegtheoretiker Herbert Reichel und der Etymologiezauberer Thomas Riemer (Etymologie ist Glückssache, besonders wenn man sie aufs Chinesische ausdehnt). Im Gespräch beim Veltliner entwarfen sie großzügig die Mittelalterlücke, wobei der Erzähler Mikolasch dem Entwurf zustimmte und der vierte im Bunde, Heribert Illig, die Idee aufgriff, von der er für den Rest seines Lebens – und alle wünschen ihm ein methusalemlanges – nicht mehr loskommen wird. Dazu des Architekten frommer Wunsch: Übersetzen! und dann nochmal übersetzen! Ins Internationale und Chinesische gar, heißt das Gebet der Stunde. Tatsächlich begann Niemitz schon bald, die neuen Gedanken auch in Englisch abzufassen, besonders für die Kollegen in den USA, wobei ich begeistert mithalf.
Zur Initialzündung gehörte noch ein weiterer wichtiger Faktor: die Auswertung der Werke von Wilhelm Kammeier. Diese Arbeit von Niemitz kann gar nicht hoch genug angesetzt werden, sie wurde Geburtsstunde und Grundlage aller weiteren Forschung. Bei Z. A. Müller (Laudatio S. 90f) erfahren wir, daß es Thomas Riemer war, der ihr diesen Anstoß gab. Und Niemitz schrieb selbst (S. 102), daß Z. A. Müller die Muse ist, die ihn zur Untersuchung des ‚dunklen‘ Mittelalters führte.
Niemitz blieb nicht bei dem ersten Gedanken stehen. Aus den rund fünfhundert Jahren, die zwischen Völkerwanderung und 1. Deutschen Reich übersprungen wurden, entwickelte Heribert Illig bald die konkretere Zeitspanne von 297 Jahren, die fortan zum Thema Nr. 1 der Zeitschrift (VFG/ZS) wurde. Niemitz drückt es (in der Laudatio S. 102) selbst so aus: „Als Heribert (Illig), kaum war er informiert, hier mit einstieg, fand er die elegante Lösung, die heute unter dem Schlagwort ‚Phantomzeit‘ gehandelt wird: Heribert war daran schuld!“
So schiebt es einer auf den anderen, am Ende bleibt das Kollektiv, denn so war es in jener Pionierzeit tatsächlich – einer gab dem nächsten das Stichwort, und bald war ein Dutzend Vordenker nicht mehr zu bremsen und schrieb sich die Finger wund, um der Welt zu zeigen, was sie schon längst hätte wissen müssen. Die Begeisterung jener Tage ist kaum vergleichbar mit heutigen abgeklärten Bekenntnissen. Auf der Rückfahrt vom VFG-Treffen im Bremen 1994 entwarfen wir drei: Blöss, Niemitz und ich, freihand ein Colloquium, das vierteljährlich tagen sollte und sich zum Berliner Geschichtssalon auswuchs, der mehrere Nachfolger in Karlsruhe, Potsdam, Berlin und Leipzig hatte.
Faszinierend klingen die lebendig-emotionalen Erinnerungen von Niemitz in der Laudatio (s.o.): „Selbstverständlich stürzte auch ich mich ins Vergnügen. Das Lösen jahrzehntelang ungelöster Forschungsprobleme ging so schnell und immer erfolgreich, daß es uns manchmal fast schwindelig wurde.“ Das war ja auch etwas anderes als die frühere Arbeit an der Zeitachse, die im Schlepptau von Velikovsky jahrzehntelang stagniert hatte. Nicht Schreibtischhistoriker hatten sich geirrt bei der Erstellung einer Chronologie der alten Hethiter, sondern eine kleine Gruppe von nicht mehr erkennbaren Drahtziehern hatte die Geschichtszahlen unseres Mittelalters gebaut, und das Gros der Akademiker war ihnen aufgesessen. In einsamer Gelehrtenstube bastelte Niemitz fortan am Schwierigsten: der richtigen Ethik in Sachen Geschichtsforschung
In einsamer Gelehrtenstube bastelte Niemitz fortan am Schwierigsten, das den Mitarbeitern nur vorschweben kann: der richtigen Ethik in Sachen Geschichtsforschung, die zugleich Forschungsgeschichte sein muß. „Denn die Technikethik und dazu die Technikfolgenabschätzung erschienen mir als ‚absurde Katastrophe‘.“ (S. 103) Das war eine über die Chronologieuntersuchung hinausgehende Forschung. Wichtig dabei waren ihm zwei Vorstellungen: erstens der einer Superkatastrophe, die die wenigen Restmenschen wieder auf ‚Null‘ setzt, und zweitens der Übergang zwischen zwei Formen, der immer ein Sprung ist, ein schlagartiges Ändern der Qualität, der Art. Beide Begriffe gehören unabdingbar zum Katastrophismus und damit zu den Anfängen unserer gemeinsamen Forschung.
Der vermeintliche Stillstand der byzantinischen Themen fesselte ihn eine Weile und gab gar manchem Leser zu denken. Die darauffolgende Revolution der Mönche in ihren Klöstern, die er als römische Armee dechiffrierte, war ihm ein Beispiel für das schlagartige Ereignis, das zugleich Chronologie umstürzte und Ethik erforderte.
Der feingeistige Begriff der Ethik und die dazu ausgeführten Überlegungen überstiegen manchmal das Fassungsvermögen der Freunde. In einer Fußnote (4, S. 106) weist Niemitz sogar Heinsohn und Steiger in ihre Grenzen. Vermutlich ist das Verständnis dieser Gedanken erst einer zukünftigen Generation möglich.
Auch das dürfte ihn schweigsamer gemacht haben. In den letzten Jahren war seine Schaffenskraft mehr dem medizinischen Umbruch und seinem eigenen Überleben gewidmet.
Das ist nun gar zu früh abgebrochen.
Eine Herausgabe der für viele Leser nur schwer zugänglichen Aufsätze in VFG/ZS in einem Gedenkband wäre für alle Freunde sowie die nun immer stärker interessierte Jugend von großem Nutzen.