Der literarische Architekt Vitruv

Wer schrieb das berühmte Buch über Architektur ?

Die berühmten zehn Architekturbücher des Römers Vitruv, angeblich Zeitgenosse von Augustus, werden auch heute wieder gern gelesen, denn sie enthalten recht seltsame Meinungen über die Architektur der alten Griechen und Römer.
Angaben zur Erstausgabe (editio princeps, “Wiegendruck”) des Vitruv konnte ich in meinen Lexika nicht finden. Es gibt eine illustrierte Erstausgabe von 1511 von Fra Giovanni Giocondo (gest. 1515 in Rom), dem Lehrer von Julius Cäsar Scaliger (also dem berühmten Vater des Chronologieschöpfers). Dürers maltheoretisches Werk “Unterweisung” (gedruckt 1525) nimmt bezug auf »Fittrufius«, ein Entwurf dazu soll schon ab 1508 vorhanden sein. Man nimmt ja allgemein an, daß Vitruv schon im 15. Jahrhundert “wiederentdeckt” worden sei.
1521 gibt es erneut eine illustrierte Vitruv-Ausgabe (von Cesariano), die dann spätestens Dürer vorgelegen haben müßte, wenn die Jahreszahlen der Renaissance irgendwie verläßlich wären (was sie bei strenger Prüfung nicht sind). Im X. Band von Vitruv sind anekdotische Kapitel zum Festungsbau enthalten, die eher in die Dürer-Zeit passen, der ja auch eine Schrift über das Verteidigungswesen schrieb (1527). 
Im Tagebuch seiner Hollandreise (1520) erwähnt Dürer den schreibenden Vitruv ebenfalls, als er die Krönungskirche in Aachen sah (S. 72), hergerichtet für die bald erfolgende Kaiserkrönung von Karl V; dieser hatte marmorne Säulen aus Rom über die Alpen bringen und nach den Plänen von Vitruv (». . . nach Vitruvius’ Schreiben«) aufstellen lassen. Heute wird die Aufstellung der Säulen Karl dem Großen zugeschrieben, von dem Dürer vielleicht noch nichts wußte. Wenn aber Vitruvs Pläne für Karl V wichtig waren, dann war Vitruv sein Zeitgenosse. (Topper, Kalendersprung 2006, S. 251 f)

Soweit also war ich vor 15 Jahren gekommen, ohne das Rätsel lösen zu können.

In Lexika wird Vitruv zuweilen als “antiker Architekt und Ingenieur” bezeichnet, obgleich man nicht weiß, ob und wann er irgendein Bauwerk entworfen oder errichtet hätte. Er ist Autor eines zehnbändigen Buches Über die Architektur, mehr ist nicht bekannt. Es gilt als einziges erhaltenes antikes Werk zu diesem Thema. Allerdings ist das Latein schauderhaft und sogar mißverständlich, wie alle Übersetzer bezeugen. Es kommen auch Rückgriffe auf die Umgangssprache vor, ein typisches Kennzeichen der frühen Renaissance. Illustrationen wären vielleicht dienlich zum Verständnis, es gibt aber keine. Die älteste Handschrift soll aus dem 9. Jh. stammen, die erste gedruckte Ausgabe ist die von Sulpicio in Rom 1485 oder 1486. Es gibt allerdings schon wenige Jahre vor dieser Ausgabe Übersetzungen ins italienische.


Zum Leben von Vitruv haben wir keine Anhaltspunkte außer denen, die in seinem Werk selbst andeutungsweise vorkommen und damit bei Fälschungsverdacht wertlos sind. Der Widmung entsprechend müßte der Autor zur Zeit des Augustus gelebt haben. Wann er gestorben ist, bleibt unbekannt.

Fluchtpunktperspektive

Dies fällt besonders auf: Vitruv kennt die zentralperspektivische Ansicht (I, 2), die er Scenographia nennt. An zwei Stellen beschreibt Vitruv die Fluchtpunktperspektive, zuerst in Buch I, Kap. 2, noch etwas knapp und dadurch schwierig zu verstehen:

Zeichnung: Proportionslehre des Vitruv nach Scamozzi (Nürnberg 1678) Rupp 1964, S. 8

“Die perspektivische Ansicht ist eine die Stirnseite und die zurücktretenden Seiten darstellende Zeichnung, bei welcher die Richtungen aller Linien einem Zirkelmittelpunkt entsprechen.” (zit. nach Reber S. 23)

Sodann etwas ausführlicher in Kap. VII, im Vorwort 11:
“Zuerst hat Agatharch, als Aeschylos zu Athen seine Tragödien auf die Bühne brachte, eine scena gemacht und eine Abhandlung darüber hinterlassen. Durch ihn angeregt, haben Demokrit und Anaxagoras über dieselbe Sache geschrieben, nämlich darüber, wie die Linien, wenn der Mittelpunkt an einer bestimmten Stelle angenommen wird …, nach den Naturgesetzen dem Ort der Sehkraft und der geradlinigen Ausdehnung der Sehstrahlen entsprechen müssen, damit deutliche Bilder von undeutlichen (d.h. entfernten) Gegenständen in den Bühnenmalereien die Erscheinung der Gebäude wiedergeben könnten und das auf ebenen und frontalen Flächen Dargestellte teils zurückweichen, teils hervorzuragen scheine (zit. nach: Boehm, 1969, S. 16).”
Schauen wir uns römische Mosaike an, stellen wir immer wieder leicht irritiert fest, daß die Künstler die Perspektive nicht beherrschten. Statt nach hinten sich zu verjüngen streben die Leitlinien nach vorne zum Betrachter hin auf einen Punkt. Von Fluchtpunktperspektive kann hier nicht die Rede sein. Und doch hat Vitruv sie voll verstanden.
Diese Darstellungsweise gilt ja gerade als bahnbrechende Neuerung der italienischen Renaissance. Sie taucht auf den Gemälden im späten 15. Jh. in schrittweiser Vervollkommnung auf. Allgemein wird ihre Erfindung Brunelleschi und Alberti zugeschrieben.
Nun sind wir ja daran gewöhnt, daß Renaissance und klassische Antike große Ähnlichkeit haben und nebeneinander bestehen können. Aber – hat denn niemand je daran gedacht, daß hier 1500 Jahre ohne Zwischenglieder übersprungen werden? Dies ist ja nicht dasselbe wie in der Dichtung, wo man auf alte Themen und Mythen zurückgreifen kann, auch nach tausend Jahren noch. Architekten müssen ihr Handwerk lernen, und es wurde ja viel gebaut in den angeblichen tausend und mehr Jahren zwischen den beiden Glanzpunkten der Zivilisation.

Was nun den Wert der 10 Bände des Vitruv “Über die Architektur” betrifft, so staune ich über die Präsenz dieser Texte noch um 1700. Er wird auch direkt neben Alberti gestellt.
Katharina Krause schreibt zu Zeichnungen französischer Architekten um 1700 (Teil 2):
“Sie begnügten sich daher mit den kurzen Äußerungen zweier Autoritäten: Vitruv und Alberti. Vitruv fordert in der Planung drei Zeichnungen: den Grundriß, den orthogonal projizierten Aufriß und die perspektivische Ansicht, die er Ichnographia, Orthographia und Scenographia nennt. Alberti grenzt die Zeichnung des Architekten durch ihre größere Rationalität von der des Malers ab.”

Proportionsschema der menschlichen Gestalt nach Vitruv – Skizze von Leonardo da Vinci, 1485/90, Venedig, Galleria dell’ Accademia. (Fotografie: Luc Viatour 2007/ https://Lucnix.be)

Individuelle Autorschaft und Plagiat

Vitruvs Sicht auf die Antike ist zuweilen erschreckend weltfremd. Die seltsame Ansicht, daß Plagiat oder ungerechtfertigte Zuschreibung eines Gedichtes oder Theaterstücks bestraft werden müsse, war der Antike noch fremd, kam aber in der Renaissance auf und wurde nach 1500 immer wichtiger. Vitruv beschreibt mit skurril erdachten Episoden, in denen sogar ein Plagiator vom Tyrannen oder vom Pöbel hingerichtet wird, ein brutales Verhalten, das in der Antike undenkbar war (VII, Vorw.).

Astronomie

Vitruv empfand es als göttliches Wunder, daß der Winkel der Erdschiefe genau 24° beträgt und damit geometrisch leicht darzustellen ist. (Jahrkreuz, S. 45). Die Ausdrucksweise ist nicht gerade klassisch zu nennen. Aber es gibt handfestere Anzeichen für eine neuzeitliche Abfassung. Vitruv bemüht sich (im IX. Buch) um Wiedergabe altertümlicher astronomischer Erkenntnisse, wie den bekannten Beginn der Zodiakzeichen bei 8°. Seine Beschreibung des Zodiak läßt den Entstehungsprozeß der Tierkreis-Bilder teilweise erkennen, wie er in meinem jüngsten Buch (Jahrkreuz, S. 97) dargestellt ist. Da werden „Haupt und Brust des Löwen zum Sternbild des Krebses gerechnet“, während „der Faltenbausch des Kleides der Jungfrau die ersten Teile des Sternbildes Waage bildet“ oder „die Schenkel des Schützen schon zum Sternbild des Steinbocks“ gehören. Diese Hinweise verraten den Moment der Ausformung des Tierkreises zu Beginn der Renaissance, wobei die Tierkreis-Konstellationen, die optisch verschieden groß ausfallen, schon auf die einheitliche Größe (Zeichen) von 30° zurechtgestutzt sind (IX,1,5).
Ganz auffällig erscheint Vitruvs Text neuzeitlich, wenn er (IX,4,6) den Polarstern beschreibt, und damit deutlich unseren jetzigen Polaris meint, während zur vermeintlichen Zeit des Augustus an dieser Stelle kein Stern gesehen werden konnte.
Zu den Umläufen der Planeten äußert sich Vitruv ausführlich (IX,1) und macht für Merkur und Venus völlig falsche Angaben, während die Zahlenwerte und die Hinweise zur Rückläufigkeit für die äußeren drei Planeten fast richtig sind, wobei man bedenken muß, daß er bei Kenntnis der griechischen Astronomie, etwa eines Aratos oder Hipparch, auch für Venus und Merkur die exakten Werte hätte abschreiben können.


Die mehrfache Erwähnung des Chaldäers Berosos (IX,2,1) ist problematisch, auch wenn jener von Plinius (VII,37, laut Reber S. 306 Anm.) herausragend genannt wird. (Berosus ist um 1500 AD bei Trithemius und anderen Erzfälschern eine wichtige Bezugsperson gewesen; sein Text wurde von Nanni, Annius von Viterbo, verfaßt.) Auch den Mondumlauf beschreibt Vitruv umständlich und mit falschen Zahlenwerten, obgleich die korrekten Werte wohl jedem Schriftsteller in der Antike wie der Renaissance geläufig waren. Was Vitruv zu dem Unsinn verleitet haben mag? Sollte sein Text archaisierend wirken, naiv, von echtem Wissen unberührt; oder ob der Mönch, der das schrieb, keine besseren Vorlagen auftreiben konnte – bleibt unergründlich. Es heißt zwar immer wieder, daß gerade in diesem Kapitel größere Textstellen völlig unverständlich seien und erst mit Hilfe anderer “antiker” Texte rekonstruiert werden könnten, aber auch das reicht als Erklärung nicht aus.


Sodann wird der Mathematiker Aristarch von Samos zweimal erwähnt (I,1,17 und IX,2,3), aber beide Male ist von seiner in der Renaissance erst durchbrechenden Erkenntnis der Umdrehung der Erde um die Sonne nicht die Rede. Das ihm dummerweise zugeschriebene Werk über die Größe und Entfernung von Erde und Sonne wird nicht erwähnt, auch eine Anspielung auf die Ansichten der Araber und die aufkommende Heliozentrik des Kopernikus unterblieb. (Topper, 2016, S. 53).

Die archaisierende Absicht tritt dagegen wieder deutlich hervor, wenn Vitruv von der (Un)sichtbarkeit des Sternes Kanopus schreibt (IX,5,4), von dem wir nur durch Kaufleute wissen, “die in die fernsten Gebiete Ägyptens, die den äußersten Grenzen der Erde zunächst liegen, gelangten”, was für die Antike (wie auch die anschließende arabische Zeit) unzutreffend ist, denn Kanopus war damals in Nordafrika von Alexandria bis Tingitana gut sichtbar. Er stieg bis zu 7½° über den Horizont. Heute ist er in Kanopus (die Ruinen von Abukir unweit Alexandria) immer noch (nach Sirius) als zweithellster Fixstern sichtbar.
Zur Astrologie äußert sich Vitruv sehr sparsam (IX,6); er erwähnt sie nur als chaldäische Wissenschaft, die Wettervorhersagen treffe. Diese Zurückhaltung kann ich nur damit erklären, daß er in einer Zeit und für eine Zeit schrieb, die personenbezogene astrologische Deutungen nicht schätzte, was auf das 15. Jh. zutreffen dürfte, sofern wir in diese Zeit einen näheren Einblick haben.

Der Ingenieur

Hydraulische Maschinen entwirft Vitruv im letzten Kapitel, von Wassermühlen und Schöpfrädern bis zu Balisten für den Krieg. Seine Arbeit wäre hier mit dem Buch der Mechanik von Philon von Byzanz zu vergleichen, was ich aus Mangel an Literatur nicht vornehmen konnte. Wie gut Vitruvs Versuche in die Wende um 1500 passen, läßt sich an Dürers und Leonardos Arbeiten auf diesem Gebiet ermessen. Sie sind einander recht ähnlich.

Ein übers andere Mal beklagt Albrecht Dürer den Verlust der Kunstlehrbücher der Alten, von denen Plinius und andere gesprochen haben. Die Zerstörung lastet er auch der Kirche an (in seinem Lehrbuch der Malerei) und verurteilt sie; er nennt dazu auch Krieg, Völkerverschiebung oder Änderung von Gesetz und Glauben als Gründe. Das trifft die Renaissance genau, wogegen nirgends eine Katastrophe als Verursacher vorkommt. Vermutlich liegt sie zu lange zurück, während der Glaubenswandel ganz präsent ist.

Zur Überlieferung

Vitruv gibt selbst einen sehr fantasievollen Katalog griechischer Vorarbeiten seines Werkes an (VII Vorw. 11-14), von denen nichts übriggeblieben ist. Dem Vitruvtext können Teile eines griechischen Werkes zugrundeliegen, das aber von seinem Übersetzer mangels Sprachkenntnissen nicht ausgeschöpft wurde. Wenn es byzantinisch ist, wäre das kein Sonderfall für die Wiedergewinnung antiken Wissens in der italienischen Renaissance.

Zu Vitruvs Zeit sieht es dagegen dunkel aus: “Über die Verbreitung des vitruvianischen Textes in der Antike wissen wir nichts.” (Kruft 2). Oft wird behauptet, Isidor von Sevilla (6. Jh.) habe Vitruv zitiert; das ist nicht aufrechtzuerhalten. Es stimmt weder für ein Direktzitat noch für sinngemäße Verwendung.
Erst unter den Karolingern soll Vitruv wieder weitergegeben worden sein. Wie wir zu diesen Texten und Daten zu stehen haben, wurde uns durch Illig klargemacht: Es sind alles spätere Fälschungen.
Bocaccio und Petrarca werden als Kenner des Vitruvtextes bezeichnet, was aber durch die Verschiebung der italienischen Jahreszahlen bedingt sein wird, denn sie sind Zeitgenossen von Dante um 1500 (siehe meine Ausführungen dort), konnten also auch die Erstausgaben schon kennen.

Verdacht

Wenn auf diese Weise auch deutlich geworden ist, daß Vitruv in der italienischen Renaissance geschrieben sein dürfte, so fehlte uns doch noch der Hinweis auf den Autor. Hier hat Hermann Detering einen deutlichen Fingerzeig gegeben. In meiner Besprechung seines Buches “Falsche Zeugen” (2013) schrieb ich:

“Ein Geheimnis hat Detering aufgedeckt, indem er versuchsweise anzeigt, wer vermutlich Cäsars Bellum Gallicum geschrieben hat, dazu wahrscheinlich auch die zehn Bücher zur Architektur von Vitruv (S. 151): ein gewisser Fra Giocondo aus Verona, laut Vasari dort 1435 oder bald danach geboren, als Architekt Jean Joyeux um 1500 in Paris tätig. Fra Giocondo sei Ordensbruder gewesen; welcher Orden ist unbekannt. Er verfaßte auch den 10. Band der Briefe von Plinius dem Jüngeren an Kaiser Trajan, der sich von den schon vorher verfaßten neun Briefbänden stark abhebt als Zugabe. Nun müssen wir, nachdem uns durch Detering der Fingerzeig gegeben wurde, den „lustigen Bruder“ (Fra Giocondo) überprüfen, denn nur er sah das angebliche Original der Briefe (S. 80).”

Seinerzeit konnte ich dem Fingerzeig nicht weiter nachgehen, nun schaue ich in Lexika nach, vor allem im ausführlichen italienischen Treccani:

Giovanni Giocondo

Fra Giovanni Giocondo da Verona; geboren um 1434 in Verona; gest. 1515 in Rom) war ein italienischer Dominikaner, später Franziskaner, ein Humanist und Altertumsforscher sowie Architekt und Architekturtheoretiker. Über die ersten 50 Jahre seines Lebens ist nichts bekannt; er wird erstmals 1489 erwähnt, und zwar als Kenner der Mathematik, Philologie, Architektur und Ingenieurskunst, der Inschriften und der Altertümer im allgemeinen, aber besonders des Vitruv. Er war Kleriker, ob er dem Orden der Dominikaner oder dem der Franziskaner angehörte oder beiden ist nicht sicher geklärt. Von 1489 bis 1493 hielt er sich oft in Neapel auf, wo er im Festungswesen arbeitete; dort traf er mit einem anderen Humanisten zusammen, den er sehr wahrscheinlich schon von früher kannte: Francesco di Giorgio Martini aus Sienna (1439 – 1501). Dieser hatte zwischen 1479 und 1481 selbst ein Buch über Ingenieurswesen verfaßt: den Traktat der zivilen und militärischen Architektur, reich illustriert; einer zweiten Ausgabe, die auf 1492 datiert wird und in Florenz liegt, ist außerdem eine Übersetzung des Vitruv beigelegt. Man hält es für möglich daß Giovanni Giocondo dem Francesco bei der Übersetzung des Vitruv aus dem lateinischen behilflich war, denn Francesco schrieb auf Italienisch. Experten teilen Francescos Manuskripte in zwei Blöcke ein: die früheren sind großenteils noch wörtliche Vitruv-Übersetzungen, obwohl mißverstandene, die späteren, nach Sulpicios Vitruv-Ausgabe 1486, freiere Neufassungen desselben Themas, ohne direkte Vitruv-Zitate.

Die erste Ausgabe von Vitruv soll nämlich schon 1486 oder 1487 in Rom herausgegeben worden sein, und zwar von Giovanni Antonio Sulpicio, genannt Sulpicio da Veroli, geboren um 1440 in Veroli im Latium, nördlich Roms; sie gilt als editio princeps, trug allerdings noch keine Abbildungen, die aber vorgesehen waren. Sulpicio ließ nämlich das Werk mit breitem Rande drucken, damit auf diesem Rand später die fehlenden Abbildungen angefügt werden könnten, wie er selbst im Vorwort sagt («in marginibus spatia servabuntur, ut quom vel nostro vel aliorum studio edentur in lucem, suis locis possint affigi»), in dem er das Buch einem breiten Publikum zum Nutzen vorlegt. Außerdem war eine Schrift des Frontinus über die Wasserleitungen der Stadt Rom angehängt ist. Frontinus (um 100 u. Ztr.) wird auch als Verfasser der Strategmata (Kriegswesen) angesehen, ein Manuskript, das im 15. Jh. ‘wieder’-entdeckt wurde und wahrscheinlich ebenso Humanistenarbeit ist. Nachdrucke von Sulpicios Vitruv-Ausgabe wurden in Venedig 1495 und Florenz 1496 herausgegeben.

Fast gleichzeitig, nämlich 1485, erscheint noch ein anderes Standardwerk über Architektur, ebenfalls in zehn Bänden und auch in Latein: De re aedificatoria (Über das Bauwesen), unter dem Namen des da bereits 13 verstorbenen Humanisten Leon Battista Alberti (1303 – 1472); es soll um 1452 entstanden sein und gilt als eigenständiges Werk, obwohl eng an Vitruv angelehnt. Der Text zitiert Vitruv mehrmals als alten Architekten, in einer Reihe mit Leuten wie Plinius, Diodor, Hippokrat und Aristoteles. Die zweite Auflage kommt 1512 heraus und erfährt weite Verbreitung.

Aber weder Albertis Werk, noch das des Francesco di Giorgio, und auch nicht Sulpicios frühe Vitruv-Ausgabe wird zum grundlegenden Werk über Architektur in der Renaissance. Es ist Fra Giocondo, der 1511 noch einmal Vitruv herausgibt, nun ausführlich illustriert; dies wird das Standardwerk.

Die digitale Kunstpforte – hier Verfasser Zindel 2017 – beschreibt zuerst den vermeintlichen antiken Architekten Vitruv und fügt dann an:

“Am Ende seines Lebens bringt Fra Giovanni Giocondo (um 1435 – 1515) alle seine Kompetenzen auf, um den schwer zugänglichen und mangelhaften Text von Vitruv verständlich darzulegen. Fra Giocondo ist ein bekannter Ingenieur, kennt die technischen und wissenschaftlichen Schriften der Alten, ist kompetenter Philologe und ausgezeichneter Kenner der Ruinen und deren Inschriften. Er versucht, De architectura libri decem von Vitruv verständlich für Wissenschaftler wie auch für Praktiker zu machen, daher fügt er am Schluss auch ein wichtiges Wörterbuch an. Im Vergleich zu den drei vorhergehenden Ausgaben von Vitruv (um 1486, 1496 und 1497) bietet Fra Giocondo einen stark verbesserten Text mit 136 Holzstichen, da ja die originalen Abbildungen verloren sind. Seine Interpretationen des dorischen Stiles, die Vitruv nicht bis ins Detail beschrieben hatte und selten in den antiken Bauwerken vorkommen, wurden von fast allen seinen Nachfolgern wie Diego de Sagredo, Serlio, Philandrier, Vignola oder Palladio übernommen.”

Zusammenfassend können wir hier folgendes Bild erkennen:

Die Veröffentlichung eines Standardwerkes über Architektur, das in der Renaissance viel im praktischen Sinne benutzt wurde, war eine jahrzehntelange Arbeit, in der verschiedene Fassungen hergestellt wurden; manche wurden als Vitruv-Ausgabe vorgestellt, manche als Bearbeitungen, wie die von Francesco di Giorgio, von dem verschiedene handschriftliche Fassungen vorliegen. Wenn man davon absieht, daß Albertis Werk schon lange vor Drucklegung 1485 entstanden worden sein soll, so ist das erste Vitruv-Buch überhaupt die italienische Fassung von Francesco di Giorgio; erst danach tauchen die lateinischen “Originalausgaben” auf. Und diese sind zuerst unvollständig und werden dann immer weiter verbessert, bis hin zur illustrierten “Letztfassung” von Fra Giocondo 1511. Hier drängt sich der Gedanke auf, diese Arbeit sei nicht so sehr als Fälschung anzusehen, sondern eher als eine gemeinschaftliche Anstrengung, ein möglichst gutes und nützliches Buch über Architektur herzustellen, als dessen fingierter Autor —fast könnte man sagen: als gemeinschaftliches Pseudonym— dann ein klassischer Name gewählt wurde.

 

Literatur

Detering, Hermann (2011): Falsche Zeugen (Aschaffenburg)
Illig, Heribert (1996): Das erfundene Mittelalter (Düsseldorf)
Krause, Katharina (1990): Zeichnungen französischer Architekten um 1700 (Teil 2: Zeitschrift für Kunstgeschichte 53, S. 66-72
Kruft, Hanno-Walter (2013): Geschichte der Architekturtheorie, Von der Antike bis zur Gegenwart, 6. Aufl. online https://doi.org/10.17104/9783406703522-69 (Beck, München)
Reber, Franz (1908): Zehn Bücher über Architektur (Berlin; Nachdruck Matrix 2004)
Rupp, Erwin (1964): Bautechnik im Altertum (München)
Topper, Uwe (2916): Das Jahrkreuz (Tübingen)
(2013): Besprechung von Deterings Buch “Falsche Zeugen“.
Zindel (2017) in: Die digitale Kunstpforte (internet) Stichwort Vitruv – Giocondo Fra

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