Niebuhr entlarvt den armenischen Eusebius
Eine Notiz von Uwe Topper :
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebte die Erforschung orientalischer Sprachen wieder auf, beflügelt durch die romantische Beschäftigung mit fremden Völkern und ihrem Kulturgut. Es wuchsen Spezialisten heran, die nicht nur Theologie studiert hatten, sondern Fachleute für fremde Sprachen, speziell für die lebenden und toten Sprachen des Orients, wurden und sich in die literarischen Hinterlassenschaften dieser Völker hineinarbeiteten. Einer von ihnen war Barthold Georg Niebuhr (1776 Kopenhagen – 1831 Bonn). Seine außergewöhnliche Gelehrsamkeit – er verstand zwanzig Sprachen, behauptete sein weitgereister und sprachkundiger Vater Karsten Niebuhr – sowie sein Scharfsinn und seine unbestechliche Wahrheitsliebe werden allgemein gerühmt (z.B. Meyers Lexikon 4. Aufl.).
Für die Kirche und ihre dreist erfundenen Belegstücke brach durch diese Philologenarbeit eine neue Verteidigungslinie auf. In der Renaissance hatte man nicht nur griechisch-lateinische Kirchenväter wie Julius Africanus, Hieronymus und Augustin geschaffen, sondern auch hier und da Texte in frühchristlichen orientalischen Sprachen zur Untermauerung produziert, in Hebräisch, Aramäisch („Syrisch“) und Arabisch. Diese mußten nun in aller Eile durch bessere „Funde“ ergänzt werden.
Mehr als zweihundert Jahre nach Scaligers eigenwilliger Herstellung von Fragmenten des Kirchenvaters Eusebius unter Auswertung von Synkellus und anderen Schnipseln, darunter Stücken von Casaubonus, der als Erfinder sehr eifrig war, ist 1819 plötzlich ein uralter Eusebius-Text aufgetaucht, und zwar in armenischer Sprache, der somit völlig unabhängig den inzwischen stark angezweifelten griechischen Eusebius bestätigte. Er wurde sogleich ins Lateinische übersetzt und bekanntgemacht, womit jegliche Kritik verstummen sollte.
Der berühmte Philologe Niebuhr nimmt sich diese „Entdeckung“ vor und verfaßt im schon etwas abgeklärteren Alter von 43 Jahren während seines Aufenthalts in Rom einen Artikel über die Entdeckung des armenischen Eusebius-Textes. Äußerlich ist hier nicht mehr die Frische des jungen Revolutionärs zu spüren, sondern eher eine bescheidene Geste, die trotz aller Zwänge, denen Niebuhr unterworfen war (wir befinden uns in der Restauration des Absolutismus), seine Meinung vorsichtig durchblicken läßt, zumindest für Kollegen, die dafür Verständnis hatten.
Der Aufsatz heißt: „Historischer Gewinn aus der armenischen Übersetzung der Chronik des Eusebius“; er ist 77 Seiten lang und erschien drei Jahre später in Berlin.
Um es vorwegzunehmen, der ‚historische Gewinn‘ der vermeintlichen Entdeckung ist gleich Null, erklärt Niebuhr. Eine lateinische Übersetzung des armenischen Schriftstücks ist unangebracht, sagt Niebuhr scharf, denn nur eine griechische Rekonstruktion wäre sinnvoll gewesen. Die armenische Fassung gleicht der von Scaliger außerordentlich, sie hat nur geringfügige Lücken (es fehlt der Anfang des 2. Buches), ja es gibt „höchstens eine unglaublich kleine Zahl von ganz kleinen Stellen, die nicht in diesen (armenischen) Chroniken aus dem griechischen Original abgeschrieben wären“ (S. 39). Im armenischen Wortlaut hört man fast noch die griechische Vorlage heraus, so genau folgt er dem griechischen ‚Original‘, erklärt Niebuhr. Wie sollte der große Scaliger nicht den Bauplan des griechischen Originals geahnt haben, als er diesen aus Bruchstücken erstellte, es kann ja nur einen einzigen gegeben haben, sagt Niebuhr (S. 39). Das kommt mir wie blanke Ironie vor.
Es dürfte sich bei der Entdeckung also um eine armenische Übersetzung des Textes von Scaliger handeln, egal wann diese verfertigt wurde. Liest man Niebuhr mit diesem Gedanken im Kopf, dann paßt sein Urteil zu dem früher von Hardouin und später von Kammeier postulierten: Die Kirche stellte nachträglich fremdsprachige Texte her, um ihre Erfindungen zu rechtfertigen.
Allerdings sind die Jahresangaben zur Menschheitsgeschichte im neuen Euseb nicht mehr dieselben (nun, das ist wohl verständlich, da die Chronologie inzwischen stark verändert wurde). Niebuhr rechnet übrigens ausführlich alle genannten Jahreszahlen durch, erkennt sogar, daß ein großer Teil von Africanus stammt (also einer weiteren zeitlich um mehr als ein Jahrtausend versetzten Quelle, wie wir heute wissen), und findet sogar gute Übereinstimmung mit Herodot, was Niebuhrs Zeitgenossen als Echtheitsbeweis galt, den weniger Naiven dagegen als weiteres Verdachtsmoment.
In diesem Artikel beschreibt Niebuhr auch ganz deutlich seine Verbitterung über die Unredlichkeit der südlichen Philologen, die er während seines jahrelangen Romaufenthalts gründlich kennengelernt hatte, spricht auch von Plagiat, dennoch alles etwas verdunkelt, vermutlich aus dem Grund, den ich oben schon nannte: Repression.
Niebuhr, B. G. (1819): „Historischer Gewinn aus der armenischen Übersetzung der Chronik des Eusebius“ in: Abh. königl. preuß. Akademie der Wissenschaften, Berlin 1822, S. 37-114.