Der Fürstenspiegel von Antonio de Guevara
Im Jahr 1994 hat der spanische Franziskanermönch Emilio Blanco den Fürstenspiegel Guevaras mit umfangreichen Anmerkungen und einer kommentierenden Einführung neu herausgegeben, basierend auf der dritten Ausgabe dieses Werkes, der von Sevilla von 1531, unter Berücksichtigung der beiden früheren Auflagen (Valladolid und Lissabon, beide von 1529). An Hand dieser vorbildlichen Arbeit möchte ich einige Details nachtragen, die bei meiner Besprechung von Guevaras Werk und seiner Nachahmer in meinem Buch Die Große Aktion (1998, S. 62-69) zu kurz kamen.
Die erste Gestalt von Guevaras Werk kursierte unter dem Titel Goldenes Buch des Marcus Aurelius am Hofe Karl V. schon ab 1525 und wurde 1528 gedruckt. Antonio de Guevara war von 1521 bis 1538 Karls Hofprediger, Chronist und Vertrauter, er nahm auch an der Tunis-Expedition teil und bekleidete zwei Bischofs-Ämter. Sein Manuskript fand die ausdrückliche Befürwortung des Kaisers.
Während das Manuskript noch am Hofe im Umlauf war, entstand schon ein zweites Buch dieses Themas, das als Fürstenspiegel oder einfach „Marc Aurel” (Marco Aurelio con el Relox de Príncipes) bekannt wurde. Die beiden Fassungen haben nur wenige Kapitel gemeinsam, das zweite Buch ist weit mehr als nur eine erweiterte Neufassung. Es ist in seiner ganzen Anlage ein neues Buch. Es wurde mit großer Begeisterung von allen Gebildeten, von regierenden Fürsten bis zu Klosterschülern, gelesen und zitiert. Nur von diesem zweiten Werk ist im folgenden die Rede.
Der Franziskanermönch Emilio Blanco hat als Kommentator von Guevaras Buch wohl zur Zeit (1994) den besten Einblick in dieses außergewöhnliche Werk. Er fragt sich immer wieder, ob die eine oder andere Mitteilung darin historischen Wert habe oder von Guevara erfunden sei. Ich wähle willkürlich einige Beispiele aus: Die Gesetze des griechischen Tyrannen Periandros, die nirgendwo sonst erwähnt werden, „sind verdächtig, von Guevara für diesen Zweck erfunden zu sein, denn was Laertius schreibt, ist die grundlegende Quelle für diesen Tyrannen, der seine Frau tötete aufgrund einer Verleumdung durch seine Nebenfrauen, wie Marcus Aurelius in seinem Brief an Libia im Goldenen Buch erwähnt.” (S. 313, Anm. c) Das hört sich wissenschaftlich an, ist aber nur ein in sich geschlossener Kreis, denn die Erwähnung des Periandros und seines Gattenmordes im Goldenen Buch Marc Aurels stammt ebenfalls von Guevara, wie Blanco nur zu gut weiß, hier aber nicht in Betracht zieht. Er stützt also eine ausgedachte Aussage mit einer entsprechenden anderen. Und die vermeintliche Grundlage, Laertius, die Blanco als Leitschnur anlegt, ist ja vermutlich ebenso erfunden.
Hinsichtlich des Tyrannen Periandros hat Guevara ohnehin keine Chance, als Chronist durchzukommen, da er diesen angeblich griechischen Herrscher von Korinth irrtümlich nach Syrien verlegt, was Blanco sofort als Fehler ankreidet (S. 315, Anm. a). Da Guevara in diesem Zusammenhang (I, xi) eine Synchronizität verschiedener orientalischer Herrscher vorstellt, die absolut lächerlich ist, stellt Blanco fest: „Das gibt uns eine Vorstellung von dem Wert, den wir den Chronologien des Franziskaners (das ist Guevara) zumessen können, auch wenn sie noch so gut klingen und äußerst schwierig nur verifizierbar sind.”
Der chronologische Wert ist also gleich Null, die „Historizität” ebenfalls. Die häufigsten Wendungen, die der Kommentator Blanco in seinen Anmerkungen in Bezug auf die Echtheit der historischen Mitteilungen Guevaras bringt, ist von folgender Art: „Diesen Satz (oder Inhalt) konnte ich weder bei (folgt die von Guevara angegebene klassische Quelle) noch dessen Kommentatoren finden. Es ist wahrscheinlich, daß Guevara ihn erfunden hat.”
Zu einem erstaunlich großen Teil findet Blanco jedoch „klassische” Vorlagen, und diese dürften auch uns interessieren. Zunächst einmal ist dem gelehrten Franziskaner Blanco klar, daß sein berühmter Vorgänger im Orden vor fast 500 Jahren, Bruder Antonio de Guevara, sich die Techniken der spätmittealterlichen Romanschriftsteller zu eigen gemacht und weiter entwickelt hat, vor allem die Form des Briefes und der Rede, die natürlich – darüber bestand für die damaligen Zuhörer oder Leser kein Zweifel – vom Autor erfunden wurden. Sowohl die als klassisch ausgegebenen Briefe als auch die angeblichen Reden, die vielen Berühmtheiten (Kaisern, Philosophen usw.) in den Mund gelegt wurden, waren für den Augenblick geschrieben und bezogen sich auf zeitgenössische Fragen und Ereignisse der Renaissance. Hinzu kamen Inschriften auf Grabsteinen oder Triumphbögen und Medaillen, die unter Vortäuschung archäologischer Merkmale als echt vorgestellt wurden. Und schließlich wurde der Text selbst in dieser Weise präsentiert: Er wurde zu allermeist als Wiederauffindung eines antiken Manuskriptes ausgegeben, das nur „übersetzt” oder bereinigt worden war. So auch dieses geniale Werk, das Guevara angeblich nach langem Suchen in einer fürstlichen Bibliothek gefunden habe.
Eigentlich war sich kein Zeitgenosse darüber im Unklaren, daß es sich hier um das bei Schriftstellern übliche Vorgehen handelt, das in keiner Weise wörtlich zu nehmen war. Die berühmten Anschuldigungen Pedro de Rhuas gegen Guevara sind deswegen auch eher inhaltlicher Art, vor allem in dogmatischer Hinsicht, da sich das katholische Dogma gerade in jener Zeit mit rasender Geschwindigkeit wandelte, was schon wenige Jahre nach Erscheinen von Guevaras Buch diese Berichtigungen nötig machte. Außerdem begann man gerade zu diesem Zeitpunkt die „Wiederentdeckungen” antiker Abschriften für bare Münze zu nehmen und eine ernsthafte Geschichtsrekonstruktion zu entwickeln. Da mußte ein hartes Wort gegen Guevaras allzu beliebte und sogar als Faktensammlung eingereihte Schrift gesprochen werden, eine undankbare Aufgabe, die dem gelehrten Pedro de Rhua zufiel. Mit drei Briefen (1549 in Burgos gedruckt) entledigte er sich dieser Aufgabe.
Quellen, die Guevara benützt haben will
Die wichtigsten Zitate, sagt Blanco (S. XLVI), stammen aus Platon, Aristoteles und Seneca. Platon kannte er entweder aus der lateinischen Ausgabe des Humanisten Ficino oder aus einem „Flickentext” (spanisch: centón), also einer Sammlung von Zitaten und Auszügen aus Platons Werken. Das letztere scheint mir wahrscheinlicher, da Guevara seine Zitate zuweilen in ganz anderer Weise anbringt, als wir sie heute bei Platon verstehen würden, was darauf hinweist, daß sie aus dem Zusammenhang gerissen sind, wie es durch diese „Flickenteppiche” bedingt ist. Allerdings stammt nur ein Viertel der Texte, die Guevara dem Platon unterschiebt, nach heutigem Verständnis aus Platons Werken. Drei Viertel sind demnach erfunden.
Die zweite Quelle ist Aristoteles; der war zwar im Hochmittelalter recht verbreitet, dennoch gelingt es Guevara, ihm völlig fremde Sätze und Gedanken unterzuschieben, ja unbekannte Werke dieses berühmten Philosophen zu „entdecken”. Da die Humanisten zu Guevaras Zeit ohnehin dem Aristoteles (als Vorbild der Scholastiker) abhold waren, ist dieser Vorgang durchsichtig und seinerzeit gebilligt worden, sagt Blanco (S. XLVII).
Und was Seneca anbetrifft, so sind „praktisch alle Zitate reine Erfindungen”, wie Blanco mit guten Literaturnachweisen belegt (ebenda). Nur vier Zitate stammen ‚tatsächlich‘ aus der Feder des berühmten Cordobensers. Die stoische Schule hat Guevara allerdings gut verarbeitet, was dem Zeitgeist bestens entsprach.
Das einzige klassische Buch, aus dem alle Zitate korrekt übernommen sind, ist die Naturgeschichte des Plinius; auch die Zitate aus Strabons Geographie sind – nach der lateinischen Version – wiedererkennbar (beides entspricht den umwälzenden Erkenntnissen, die der Jesuit und revolutionäre Chronologiekritiker Jean Hardouin fast zwei Jahrhunderte später veröffentlichte).
Daneben sind die berühmten Kaiserbiographen wie Suetonius, Sallust und Titus Livius mit großer Sachkenntnis durch Guevara ausgeschlachtet, oft aber ergänzt durch neue Themen und Anekdoten. Auch die Auswertung der Kirchenschriftsteller, besonders des Augustin, Euseb, Paulus Diakonus, usw. sowie einiger früher Humanisten wie Flavio Biondo und Sabellico gibt diesem Fürstenspiegel den Anstrich von Geschichtlichkeit.
Den Griechen Plutarch kennt Guevara nur aus den politischen Schriften des Francesco Patrizi von 1494 und 1519, und den Laertius benützt er nach der Zusammenfassung eines Franziskanermönchs, Walter Burley, den er jedoch nie mit Namen nennt. Ein beträchtlicher Anteil aller Informationen stammt aus Bocaccios Werken.
Aus dieser kurzen Skizze lässt sich schon das Wesentliche der Quellenverwendung von Guevara herauslesen: Ein bedeutender Anteil der Zitate ist eigene Erfindung und als solche erkennbar; ein weiterer Teil stammt aus zweifelhaften Quellen, Zusammenfassungen, Zitatsammlungen und dergleichen und müsste nach strengen Maßstäben ebenfalls als unzuverlässig ausgeschieden werden. Und ein kleiner Rest bezieht sich auf Kirchenschriftsteller, besonders Augustin und Euseb, die meines Erachtens in eben jener Zeit erst geschrieben wurden und durch Guevara eine weitere Echtheitsweihe erhalten, ohne ihrer würdig zu sein.
Dies zeigt sich unter anderem an der Götterliste (I. Buch, Kap. xi und xii), die teilweise mit der von Augustin (in: De civitate Dei, IV) übereinstimmt und eine Vielzahl von Göttern bringt, die in der Antike unbekannt waren, aber dem Geschmack der Renaissance entsprechen, da sie verbildlichte Begriffe sind wie z. B. ein Deus mentalis („Gott des Verstandes”). Es scheint, dass Flavio Biondo in seiner Schrift Roma triumphante den Grundstock dazu gelegt hatte.
Veränderung und Erfindung der zitierten Quellen, sagt Blanco (S. XLIX), sind grundlegende Stilmittel von Guevaras literarischem Schaffen und wurden zu seiner Zeit auch in dieser Weise aufgenommen. Ein geschichtlicher Anspruch war damit nicht verbunden.
Mit dem Fortschreiten der literarischen Schöpfung einer Antike, wie es sie nie gegeben hatte, entstand allerdings ein von den späteren Humanisten ernsthaft verteidigter Anspruch auf historische Echtheit, der zur Folge hatte, daß Werke, die in ihrer Entstehungszeit noch als elegante Zeitkunst aufgenommen worden waren, nun zum Standard einer Geschichtsvorstellung aufrückten, die bald wie ein festgefügtes Fundament behandelt wurde, das ein vielräumiges Gebäude trug, das nur noch mit Mobiliar anzufüllen war.
Der Vorgang ist bei Guevara sehr gut erkennbar: Sein erstes Werk, das Goldene Buch des Marc Aurel, ist nicht nur viel kürzer als das spätere, der Fürstenspiegel, sondern auch anspruchsloser, was den vorgeblich historischen Wert erhöht. Man zitierte bald Teile daraus, als handele es sich um eine tatsächliche Chronik.
Und ein späteres Werk, das uns heute als Selbstbetrachtungen des Marc Aurel gilt, geschrieben von Michael Schütz (Toxita) und herausgegeben von Wilhelm Holzmann (Xylander) 1559, hat dann jene Stufe erreicht, die viele Werke der Renaissance heute kennzeichnet: Es ist allgemein anerkannt als zweifelsfrei echtes antikes Schriftstück. Dabei ist die Änderung der Taktik typisch: Aus dem Roman wird eine Aphorismensammlung, denn diese hat weit größere Chancen, unerkannt ins Gefüge der Geschichtsschreibung eingereiht zu werden. (Nur einige Sätze werden heute als späte Zufügungen ausgeschieden, da sie gar zu anachronistisch wirken, was Schütz noch nicht ahnen konnte, denn sie paßten sehr gut in seine Zeit: Sätze gegen Knabenliebe, Zauberei oder zur Verteidigung der Christen.)
Man besitzt ja in der zweiten Humanistengeneration allmählich einen breiten Fundus angeblich antiker Texte, die als Basis herangezogen werden können und sozusagen den Beweis für die Echtheit der neuen Funde liefern. Die „klassischen” Autoren haben natürlich selbst Vorschub geleistet für die Erfindungen und ihre Manier wortreich entschuldigt: Der wenig skrupelhafte Schriftsteller, sagt der alte Lateiner Quintillian, kann erfinden, was immer er will und irgendwelchen nie vorhandenen Autoren zuschreiben, ohne Furcht entdeckt zu werden, denn was nie vorhanden war, kann nicht als gefälscht erkannt werden (Lehrbuch der Redekunst, I, viii, 21, zit. in Blanco, Seite L). Das wichtigste, was ein solcher Fälscher haben muss, wenn er nicht überführt werden will, ist ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
Blanco untersucht auch, warum wir im Gegensatz zu den häufigen literarischen Erfindungen der Renaissance gerade Guevaras Buch als offenkundige Fälschung herausgreifen und die anderen eher für glaubwürdig halten. Es liegt daran, daß Guevara die Erfindung der Geschichte zu seinem ganz eigenen System erhoben hat, als Mittel zum Zweck. In diesem Sinne ragt sein Fürstenspiegel aus den anderen Werken heraus, die stets nur in Teilen Neues bringen, mit großer Vorsicht und mit Rücksicht auf frühere Gestaltungen, mit Querverweisen und Zitaten. Guevara übergeht dies mit genialer Freiheit. Ihm kommt es nicht auf die zu schaffende oder zu ergänzende Antike an, sondern auf die Moral seiner Zeitgenossen, die er mit diesem Werk prägen will, allen voran den kaiserlichen Hof und die Intellektuellen Europas. Und das ist ihm offensichtlich gelungen. Sein Buch gilt als der „Bestseller“ der Renaissance.
Abgesehen davon hat er noch ein weiteres Ziel erreicht, das ihm – wie er selbst gesagt hat – nicht vor Augen stand. Er hat Geschichte geschrieben, vor allem antike Geschichte, und damit das Bild unserer Vergangenheit geprägt. Diese ist nun praktisch unlösbar verbunden mit der „anerkannten” Geschichte. Sein Marc Aurel ist hineingewoben in die Zeitutopie der Antike und nicht mehr davon zu trennen. Erst wenn auch die anderen „Chroniken” der Antike, die vielen Kaiserbiographien und Philosophien als entsprechende Erfindungen – wenn auch von soliderer Machart – aufgedeckt werden, kann das Gesamtbild der antiken Geschichte als Roman der Renaissance einen neuen Stellenwert bekommen. In diesem großen Zeitroman nimmt Guevaras Werk als humorvollste und ehrlichste Schöpfung eine herausragende Stellung ein und wurde deswegen von mir als Beispiel gewählt.
(erstmals veröffentlicht in Synesis 2/2000)
Literaturhinweise:
Guevara, Fray Antonio de (1531): Relox de principes (Sevilla; neu herg. durch Emilio Blanco O.F., Madrid 1994)
Topper, Uwe (1998): Die Große Aktion (Tübingen)