Wiederbelebung eines alten Kalenders der Maya
Unser voriger Artikel “Geschichte im Filter des 19. Jh.” legte dar, wie sich bestimmte Völker heute die Geschichte ihrer Vorfahren zurechtbauen, fußend auf europäischen akademischen Ansichten in Unkenntnis ihrer wahren Tradition, die verloren ging oder zerstört wurde. In Mittelamerika ist gerade ein weltweit beachtetes Schauspiel dieser Art abgelaufen: die Bekanntgabe eines geschichtlichen Datums für den hypothetischen Beginn der Maya-Kultur.
Uns scheint, daß die heutigen Tzotzil oder Lacandonen nichts mit dem archäologisch und paläographisch ermittelten Kalenderzyklus zu tun haben. Von dieser rein akademischen Debatte haben die heutigen Nachfahren der Maya bisher wahrscheinlich nicht viel mitbekommen.
Teil 1
Wie es zu dem Medienrummel für einen Weltuntergang an Wintersonnenwende 2012 gekommen ist, war uns zunächst unklar. Zu diesem projizierten Weltuntergang gab es sogar Äußerungen von Politikern, die das Ganze vorsichtig herunterspielen wollten, so als bestünde wirklich eine allgemeine Hysterie. Es wurde klargestellt, daß diese Prophezeiung eine Esoteriker-Masche ist, die der Fernsehzuschauer lustig findet, die aber nichts mit den heutigen Maya und auch nichts mit der wissenschaftlichen Debatte um die klassischen Maya zu tun hat.
Oder besteht doch ein Zusammenhang?
Soweit im Internet ersichtlich hat der nordamerikanische Kunsthistoriker und Maler José Argüelles (Minnesota 1939-2011), der von sich behauptete, von heutigen Maya zum Würdenträger gekürt worden zu sein, dieses Datum in die Welt gesetzt. Argüelles lehrte als Professor in Princeton und anderen Universitäten der USA. Er hat mehrere Kalender erfunden, einer heißt „Dreamspell“ und baut auf Maya-Zahlwörter und das chinesische Orakelbuch I Ching auf. Wahrscheinlich hat er nicht behauptet, daß es sich um einen echten Maya-Kalender handele, sondern um einen universell brauchbaren. Eine nicht geringe Anzahl seiner Anhänger in der ganzen Welt richtet sich im täglichen Leben nach diesem Kalender mit seinen orakelhaften Verknüpfungen.
Seine uns hier berührende Aussage lautete: „Zur Wintersonnenwende im Jahr 2012 wird die Sonne in Konjunktion mit dem Äquator der Milchstrasse stehen und dadurch eine weltweit wirksame Änderung auslösen.“ Die genannte Konjunktion ist zwar kein astronomischer Fixpunkt, aber die Sonnenwende ist es. Vom Solstitium ist in diesem Zusammenhang dauernd die Rede, da vor einigen Jahren auch noch andere Daten verkündet wurden. Außerdem verband Argüelles die Offenbarung des Johannes mit dem Maya-Kalender wegen gleicher oder ähnlicher Zahlenangaben. Mit der „Harmonischen Konvergenz“ am 16./17.August 1987 machte er erstmals auch eine größere Öffentlichkeit auf die „Endzeit“ des Maya-Kalenders und einen damit bevorstehenden „qualitativen Sprung in der Menschheitsgeschichte“ aufmerksam. Dieses Datum verstand er als Ende einer Epoche von 22 Zyklen (zu je 52 Jahren), die somit 1144 Jahre zurückreicht, so daß ihr Anfang etwa im 8. Jahrhundert n.Chr. läge. Das wäre mit einigen archäologischen Funden vertretbar. Aus einer Sarkophag-Inschrift aus dem 7. Jh. n. Chr. erschloß er ferner, daß an Wintersonnenwende 2012, die am 21.12. um 11:12 h GMT gefeiert werden würde, ein neues Weltalter beginnen würde. Einige Maya-Älteste distanzierten sich von einer Verwendung des Maya-Kalenders in diesem Sinne.
Leider ist es völlig unmöglich, die verstreut in mittelamerikanischen vorkolumbischen Inschriften auftauchenden Kalenderdaten irgendwie mit unserem gregorianischen Kalender zu verbinden. Selbst wenn man zur Zeit des spanischen Bischofs und ersten Erforschers der Azteken, Bernardino de Sahagun (1499-1590), darauf geachtet hätte und einem bestimmten Weihnachts- oder Ostertag ein Datum im vorchristlichen mittelamerikanischen Kalender zugeteilt hätte, wäre keineswegs sicher, ob dieses Datum zu einem der alten Inschrift-Daten in Relation stünde. Man hätte es höchstens katholischerseits verordnen können, und das hat man vermieden, um nicht heidnischen Bräuchen Auftrieb zu geben, wie damals ausdrücklich angeordnet wurde.
Die akademisch geschulten Amerikanisten der Alten und Neuen Welt gaben sich in den abgelaufenen hundertfünfzig Jahren alle erdenkliche Mühe, die prähistorischen Inschriften Mittelamerikas zu lesen und irgendwie zu datieren, indem sie einige der dort lesbaren Kalenderdaten unseren eigenen zuwiesen. Die Ergebnisse sind fast so vielfältig wie die ganze Mayaforschung, sie schwanken stellenweise um vierhundert Jahre. Soviel ist allen etwa gemeinsam: Die allermeisten Daten können höchstens 1200 Jahre alt sein, vermutlich aber kaum ein Jahrtausend, und nach der kürzeren Chronologie dürften sie nur etwa 800 Jahre zurückliegen. Das wäre nicht weiter tragisch, wenn nicht – und jetzt kommt erst das bedenklich-humoristische an dieser Problematik – wenn nicht aus einer einfachen mathematischen Rückrechnung ersichtlich wäre, daß die von den Amerikanisten rekonstruierte Zeitrechnung der Maya mindestens fünftausend Jahre zurückgehen müßte, wenn sie in sich selbst geschlossen sein will. Das paßt nicht entfernt zum archäologischen Befund, der auch historisch eine Stütze hat: Alonso de Zorita schrieb 1540, daß die Texte der zahlreichen einheimischen Bücher, die er sah und die ihm übersetzt wurden, geschichtliche Ereignisse berichteten, die bis zu acht Jahrhunderte zurückreichten. Das entspricht etwa dem Zeitraum, der auch heute den ältesten Inschriften an den Bauwerken zugeteilt wird. Inwieweit diese Zuordnung durch die Vorgabe von Zorita mitbestimmt ist, wäre zu erkunden.
Kürzlich wurde eine Inschrift in Guatemala entdeckt, die durch William A. Saturno als ältester astronomischer Kalender der Maya vorgestellt wird, veröffentlicht in „Science“ vom 5. 4. 2012. Er datiert ihn auf das 9. christliche Jahrhundert. Mit den neuesten Erkenntnissen über die Olmeken, ein „Vorgängervolk“ der Maya, geht man dort höchstens zweitausend Jahre für den frühesten Schriftbeginn in Mittelamerika zurück (siehe „Olmeken“ in Antropologo).
Teil 2
Und damit sind wir bei der eigentlichen Frage angelangt: Wozu dient uns ein Kalender, dessen Anfangsdatum um Jahrtausende in der Luft hängt, und der mit seiner inneren Mechanik kein echtes Sonnen- oder Mondjahr ablaufen läßt?
Soviel ist allen Forschern klar: Die von den Maya benützten drei Kalender sind astronomisch nicht begründet. Sie erinnern nur teilweise an altorientalische Zyklen, vor allem der „Haab“ genannte, der einen Zyklus von 18 Monaten à 20 Tagen plus fünf nicht gezählten „schlechten“ Tagen benützt und damit dem ägyptischen Sonnenjahr von 365 Tagen entspricht. Durch das Übergehen des Vierteltages liegt der Frühlingsanfang (um nur ein Beispiel anzuführen) schon nach zwanzig Jahren um fünf Tage falsch, also um genau die Menge der eingefügten „schlechten“ Tage. Dann könnte man die fünf Tage auch gleich weglassen, wenn es sowieso nicht darauf ankommt. Der spanische Bischof und Kenner der Mayakultur, Diego de Landa (1524-1579), hat darum behauptet, daß die Maya den Vierteltag alle vier Jahre als ganzen Tag schalteten, wofür es nur sein Zeugnis gibt. Das allseits bewunderte Ineinandergreifen von Haab und Tzolkin-Kalender kann mit dieser Schaltung allerdings nicht funktionieren.
Der zweite Kalender (akademisch „Tzolkin“ genannt) ist noch viel abstrakter: Da hat ein „Jahr“ 260 Tage, gebildet aus 13 Monaten zu 20 Tagen. Die Summe hat nicht einmal eine annähernde Entsprechung am Himmel, sie wird mit der Schwangerschaft der Frau verglichen, vom Beginn der ersten ausgefallenen Periode an gerechnet. Es heißt auch, daß eine bestimmte Sorte Mais, egal wann man sie pflanze, immer 260 Tage zum Reifen brauche.
Die Philologin Barbara Tedlock von der Buffalo University in New York erforscht seit vielen Jahren mit ihrem Mann Dennis bei einer überlebenden Gruppe der Maya-Kultur in Guatemala den traditionellen Beruf des Kalenderhüters. In einem Interview, das der Dokumentarfilmregisseur David Lebrun im Februar 2005 mit dem Ehepaar gemacht hat, erläutert sie die heutige Verwendungsweise des Kalenders ausführlich. Der Kalender sei vielleicht noch in 85 Dörfern in Gebrauch. Ein Kalenderhüter muß die spezifische Bedeutung jedes der 13 x 20 = 260 Tage auswendig wissen (schlechte Tage, gute Tage, ein Tag zum Nachdenken, oder zum Wütendsein, oder zum Geldangelegenheiten regeln…), die dazugehörigen Namen zwecks Namensgebung eines Kindes usw.; er oder sie muß auch Träume deuten können. Das Wort Tzolkin, das man heute für diesen Kalender benutzt, sei allerdings eine moderne Prägung, in Guatemala hieße er einfach Rahil Bahir, zu deutsch Tageskreis.
Gibt es durchlaufende Überlieferungen, die an die historischen Maya-Reiche anschliessen? Ja, sagt Frau Tedlock, es gibt ein Theaterstück, das Rabinal Achi, das historisch durchgehend belegt ist, da es zwischen 1590 und 1770 einige Dutzend mal verboten wurde. Es wird heute als Gottesdienst aufgeführt. In diesem Stück sei der 260-Tage-Kalender mehrfach erwähnt. Ob die heutige Abfolge der Tage dieses einzigen überlebenden Kalenders der Maya bruchlos den ursprünglichen fortsetzt oder nur sinngemäß, wissen wir nicht. Da er nur zwei Drittel eines Jahres abgleicht und eine Zählung der abgelaufenen Zyklen nicht stattfand, ist eine ursprüngliche Gleichsetzung mit unserem Kalender nicht möglich. Nur die heutige Gleichsetzung steht fest.
Der dritte Kalender ist der einzige, der für historische Belange Verwendung gefunden habe; er wird die „Lange Zählung“ genannt, die man als historisches Maß für größere Zeiträume auf den Wandbildern benützte. Die Grundeinheiten sind wiederum 20 und 13, hier jedoch verstärkt durch zwei weitere Zwanzigerreihen:
Ein Tun wird mit 360 Tagen angesetzt, gleicht also dem Rumpfjahr der Babylonier. 20 Tun ergeben ein Katun von 7200 Tagen (360 mal 20), das entspräche grob 20 Sonnenjahren. Dieses wird noch einmal verzwanzigfacht, das ergibt 144 000 Tage, eine für Christen bedeutsame Summe (die Zahl der Erlösten in der Johannes-Offenbarung). Es wird als Baktun bezeichnet und käme 400 von unseren Jahren nahe. Nimmt man 13 Baktun (die magische Zahl der Maya), ergeben sich 5200 Jahre, das wäre ihr Nulljahr. Soweit ist alles pure Mathematik. Eine Parallelsetzung zu irgendeiner altweltlichen Jahreszählung oder zu einem astronomischen Ereignis ist bisher nicht gelungen, auch wenn verschiedene Versuche unternommen wurden. Die Baktun-Zählung (Baktun ist ein modernes Wort) war nach Ansicht der Amerikanisten schon lange nicht mehr in Gebrauch, als die Spanier Mittelamerika erreichten.
Eine wichtige Rolle spielt Baktun 13 als Ende des großen Zyklus, doch ist dieser Wert nur auf einem einzigen Denkmal gefunden worden, dem sogenannten Tortuguero Nr. 6, teilweise unleserlich geworden, etwa ins 7. christliche Jahrhundert eingeordnet. Mit diesem einzigen Hinweis ist kaum etwas zu klären. Trotzdem wird gerade für die „Lange Zählung“ ein sehr früh liegendes Anfangsdatum behauptet, weil es sich aus der Rechnung ergibt, wenn man ein Enddatum annimmt: Der gesamte Ablauf beträgt etwa 5128 echter Sonnenjahre. Das wären einige Jahrtausende vor allen archäologischen Zeugnissen dortiger Kulturen. Die Archäologin Maud W. Makemson setzte das prägnante Enddatum 13.0.0.0.0. mit unserem Jahr 1752 gleich.
Aus der zahlreichen Literatur zum Thema geht hervor, daß die mathematische Auswertung uneinheitlich ist, und das nicht nur um Tage sondern um Jahre. Das Prinzip der heutigen Gleichsetzung geht auf John Eric Thompson (London 1898-1975) zurück. Er war Arzt und Kenner der Mayakultur, erbitterter Gegner des Entzifferers der Maya-Schrift, des russischen Wissenschaftlers Juri Knorosow (1922-1999), dessen Ansichten sich nach Thompsons Tod durchsetzten und die Lesung der Maya-Glyphen erlaubten.
Thompson forschte seit 1926 in Yucatán und hat die Maya-Wissenschaft monopolisiert, in einem Maße, das seinen Nachfolger Michael D. Coe nach Thompsons Tod veranlaßte zu behaupten, daß erst jetzt (nach 40 Jahren) die Entzifferung der Maya-Schrift beginnen kann. Während Thompson den Madrider Codex noch auf 1250-1450 ansetzte, hat Coe dieses wichtige Beweisstück als Erzeugnis der Zeit nach der Eroberung durch die Spanier eingeordnet, was auch auf die beiden übrigen Codices in Maya-Glyphen zutreffen könnte.
Die moderne Erforschung der mittelamerikanischen Kulturen begann recht plötzlich mit Stephens und Catherwood um 1840. Der ersten Veröffentlichung von 1841 folgte 1843 eine weitere mit einem Anhang von J. Pio Pérez, der unter Verwendung von zusammengefügten Manuskriptstücken den alten Kalender der Maya besprach, wie er bei López de Cogolludo (1688) beschrieben war.
Den meisten Kennern gelten drei Maya-Manuskripte als vorspanisch:
Der älteste ist der Dresdner Codex, er tauchte schon 1739 in Wien auf. Von den 350 verschiedenen Zeichen des Codex sind heute etwa 250 lesbar; die meisten davon entsprechen dem Alphabet, das Bischof Landa 1566 (nach Vernichtung aller Originaltexte) aufzeichnen ließ. Inschriften auf Stelen in Chichen Itza verwenden teilweise ähnliche Glyphen. Der Gesamttext ist leider unvollständig, häufig sind die Tage des Tzolkin-Kalenders ausgelassen. Es werden sechs Schreiber identifiziert.
Der zweite, der Pariser Codex, lag zwar 1832 vor und wurde 3 Jahre später auch abgezeichnet, wovon sich eine einzige Kopie in Chicago befindet, während die Originalzeichnung verlorenging, doch der Codex selbst verschwand wieder, bis 1859 der Ostasienspezialist Léon de Rosny (1837-1914) ihn aus einem Abfallkorb in der Kaminecke der Bibliothèque Impériale in Paris herauszog. Er hieß zuerst Peresianus nach José Pérez, dessen Name sich auf dem Einwickelpapier fand. José Pérez veröffentlichte im selben Jahr zwei kurze Beschreibungen des Codex. Heute wird er Codex Parisianus genannt und in der Bibliothèque Nationale in Paris aufbewahrt. Er gilt als echt.
Der Madrider Codex hatte ein noch seltsameres Schicksal. Er besteht aus zwei Stücken. Das größere von 70 Seiten (Troano genannt) wurde 1866 von dem französischen Gelehrten Charles Brasseur de Bourbourg (1814-74) in Madrid entdeckt; ein zweites Stück von 22 Seiten (Cortesianus genannt) kam 1867 in Paris und London in den Handel, fand aber erst 1872 einen Käufer und wurde (1875 ?) dem Archäologischen Nationalmuseum in Madrid weiterverkauft. Rosny erkannte 1880, daß die beiden Teile zusammengehören. 1888 wurden sie vereinigt. Es handelt sich um Glyphen der von Landa aufgezeichneten Art. Die Schrift stammt von 8 Schreibern, es heißt, der Text sei nach verschiedenen Quellen „hastig“ zusammengefügt.
Ein vierter Codex, ein Bruchstück von elf Seiten, wird Grolier genannt. Er tauchte 1971 auf, ist zwar umstritten, aber sehr wahrscheinlich – siehe J.E. Thompson (1975), Claude Baudez (2002), Susan Milbrath (2002) u.a. – eine moderne Fälschung auf altem Papier, nach L. E. Sotelo vermutlich 1960 geschrieben.
Uns scheint, daß nach der öffentlichen Verbrennung sämtlicher heidnischer Schriften durch Diego de Landa 1562 keine heidnischen Exemplare überlebt haben und alle heute vorliegenden Quellen auf Papier nachträglich angelegt sind, unter Aufsicht und auch Mitwirkung katholischer Priester.
Wichtig sind darum die späteren Maya-Texte wie das Popul Vuh, von Francisco Ximénez im 16. Jh. verfaßt, erst 1857 in deutsch von Scherzer veröffentlicht, 1861 im Originaltext durch Brasseur, der im selben Jahr auch ein Wörterbuch dazu herausgab, sowie das vorhin erwähnte Theaterstück Rabinal Achi (1862) und einen Teil des Berichtes (Relación) von Landa (1864).
Die so häufig genannten astronomischen Fähigkeiten der alten Maya werden von vielen Fachleuten bestritten; Äquinoktien und Solstitien wurden nicht gefeiert, ja nicht einmal vermerkt. Einzig die Beobachtung der Venus fand schriftlich stärkere Beachtung, im Dresdner Codex sind neun Seiten mit Angaben über den heliakischen Aufgang der Venus gefüllt. Der Aufgang dieses Planeten wurde angeblich jedes Mal mit blutigen Menschenopfern und ritueller Anthropophagie begleitet. Wieweit es sich dabei um christliche Verleumdung handeln könnte, ist bisher umstritten. Die Venus war den Maya wichtig, weil sie ihre Kriege mit deren Aufgang begannen. Ob es sich bei der Abfolge im Codex um Voraussagen handelt oder eventuell sogar um historische Beobachtungen der Venus, ist noch ungeklärt. Die Aussagen der Fachleute zu den Daten reichen von „etwa auf einige Tage richtig“ (J. E. Teeple) bis „sehr genau, auf jahrhundertelange Beobachtungen gegründet“ (Rolf Müller). Diese Venus-Daten sollen denen aus Babylonien aus der 1. Hälfte des 2. Jts. v.Chr. fast völlig gleich sein (beinahe 3000 Jahre liegen zwischen den beiden Datenreihen).
Schauen wir uns den Werdegang der Einordnung der Kalenderdaten auf den steinernen Inschriften an.
Nach den ersten chronologischen Versuchen im 19. Jh. veröffentlichte 1905 Joseph T. Goodman (1838-1917) seine Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen Maya-Daten und dem christlichen Zahlenstrahl. Diesen Ansatz verbesserte J. Martínez Hernández 1926, und im nächsten Jahr erschien schließlich die Gleichung von Thompson, die seitdem unter Hinweis auf alle drei Autoren GMT-Gleichung genannt wird. Sie basiert teilweise auf Landas Notiz für die „Kurze Zählung“, wobei unklar bleibt, welches Jahr Landa meinte; Thompson hat 1553 angenommen.
Neben der GMT-Gleichung gibt es eine ganze Anzahl anderer Gleichsetzungen mit unserer Jahreszählung, die bis zum Doppelten der niedrigsten Zahl reichen. Es wurden auch Inschriften angeführt, die über mehr als 13 Baktun laufen, bis zu 19 Baktun (auf einer Stele in Cobá), wobei durch Umrechnung sehr hohe Zahlen herauskommen, die vermutlich nur religiösen Charakter haben, was allerdings auch von niedrigeren Kalenderzahlen der Maya häufig angenommen wird.
Aus der in Wikipedia vertretenen Ansicht geht hervor: Das Todesdatum des Herrschers Pakal von Palenque wird durch Thompson auf den 28. August 683 n.Chr. gesetzt. Auf dieser Grundlage lassen sich andere Kalenderdaten ebenfalls mit unserer historischen Jahreszählung gleichsetzen. Proleptisch rückerrechnet entspricht damit der Anfangstag der „Langen Zählung“ dem gregorianischen 11. August 3114 v.Chr., den Thompson als Weltschöpfungstag der Maya bezeichnet. Wie die Rückrechnung eines julianischen Datums durch Scaliger oder die eines proleptischen gregorianischen Datums rein mathematische Aktionen sind, so auch deren Gleichsetzung mit Maya-Daten. Ein historischer Bezug wird damit nicht erreicht.
Teil 3
Es ist außerordentlich schwer, genau zurück zu verfolgen, wer zuerst die in der Thompson-Gleichung enthaltene Datierung des hypothetischen Anfangs der „Langen Zählung“ auf ein Ende des Zyklus der 13 Baktun angewendet hat. Coe legte 1966 das Ende des Zyklus auf den Heiligabend (24. Dezember) 2011, dann (2º Auflage, 1980) auf den 13. Januar 2013 (die 13 ist sehr wichtig), dann (3º Aufl. 1984) auf den 23. Dez. 2012. Sylvanus G. Morley (Carnegie Institute, 1883-1948) schrieb 1946 das Buch „The Ancient Maya“, dieses wurde 1983 postum neu aufgelegt und überarbeitet von dem Mayaforscher Robert J. Sharer (Pennsylvania University), der eine Tafel einfügte, in der das Enddatum der „Langen Zählung” mit dem 21. Dez. 2012 korreliert.
Es wird auch behauptet, der oben genannte Argüelles habe ein zahlensymbolisch besonders prägnantes Datum als Anfangszahl gewählt: 13. August 3113 v. Chr., also die für die Baktun-Zyklen so wichtige Zahl 13 und (nach dem Monat) „dieselbe“ Zahl umgekehrt als 31, gefolgt von einer weiteren 13. Die Maya-Kultur wird in diesem Zusammenhang den Altwelthochkulturen gleichgestellt. Die Begründung lautet etwa so: „Wenn man in der Geschichte zurückblickt, findet man in den meisten westlichen Geschichtsbüchern, daß ca. 3100 v. Chr. die Zivilisation begann. Das ist 13 Jahre nach der Langen Zählung der Maya. Um nun präzise zu sein, wäre das nach unserem Kalender der 13. August 3113 v. Chr. Auch die Stadt Uruk wurde etwa 3100 v.Chr. gegründet, und das Kali Yuga der Inder begann 3102 v. Chr.“
Der Archäoastronom und Kenner der Maya, Anthony Aveni, lehnt dieses Datum ab.
Unter dem Einfluß des Rauschpilzes Mexikos (Psilocybin) propagierte Terence McKenna 1975 („The Invisible Landscape“) eine Art Zeiten-Ende, auf I Ching aufbauend, für den 16. November 2012. In der 2. Auflage 1993 wird das von Morley vorgeschlagene Datum („The Ancient Maya“ 4°, 1983) mit 21.12.2012 übernommen, und zwar weil er durch ein Treffen mit José Argüelles im Jahre 1985 darauf gekommen sei; übrigens hat auch ab diesem Treffen Argüelles das Jahr 2012 in seine Arbeiten einfließen lassen. So scheint es nun, daß Terence McKenna (1946-2000) es war, der das Datum der Wintersonnenwende (21. Dezember) 2012 als Weltende verbreitet hat.
Dazu gab es auch die sehr beliebte nordamerikanische Fernsehserie „The X-Files“, wo im letzten Kapitel (“The Truth”) FBI-Agenten jemanden verfolgen, der auf Grund des Maya-Zyklus an Invasionen der Außerirdischen am 22. Dezember 2012 glaubt. Sie stellt ein Komplott der amerikanischen Regierung vor, die eine Invasion der Außerirdischen verschleiern will. Diese Serie ist reine Science-Fiktion, nicht dokumentarisch gemeint. Sie hat ganz sicher dazu beigetragen, die vermeintliche Maya-Rechnung einem enorm großen Publikum nahezubringen. Den Film sahen 13 Millionen Zuschauer.
Es dürften also McKenna-Anhänger sein, die an dieses Datum glaubten, oder auch Leser des amerikanischen Schriftstellers und Journalisten Daniel Pinchbeck (*1966), der auch selbst von Quetzalcoatl inspiriert zu sein behauptet und McKenna sowie Argüelles verarbeitet hat.
Übrigens erinnern die Zuordnungen bestimmter Konzepte des sogenannten Tzolkin-Kalenders an altweltliche Magie-Schriften. Deswegen fiel es Argüelles und McKenna wohl auch leicht, das Maya-System mit dem Buch I Ching zu koppeln.
Teil 4
Nun haben die modernen Maya tatsächlich diesen Tag, 21. Dezember 2012, gefeiert, und zwar mit ziemlich viel Zeremoniell. Zwar haben sie dabei kein Weltende erwartet, sondern einfach die Festlichkeiten eines Kalenderzyklus-Endes begangen, aber dieser Zyklus entstammt akademischen Berechnungen, nicht ihrer eigenen Tradition.
Drei Maya-Abgeordnete, unter ihnen Träger eines Preises für Menschenrechte, reisten sogar einige Wochen vorher nach Kuba, und führten dort eine kleine Zeremonie zwecks Ankündigung des Kalenderwechsels durch. Unter ihnen war die bekannte Menschenrechtlerin Rosalinda Tuyuc (*1956, in den Neunziger Jahren Abgeordnete und Vizepräsidentin des Parlamentes von Guatemala; Ordre Legion d’honneur 1994), und auch sie nahm den 21. Dezember 2012 als selbstverständlich hin, wobei sie sich wie alle anderen interviewten Maya ganz und gar gegen ein „Weltende” aussprach.
Es gibt eine Webseite der Regierung von Guatemala, auf der der Kalender der Maya genau erklärt wird, allerdings in der grammatischen Vergangenheit („die Maya hatten…”); die Illustrationen sind laut Quellenangabe nach J. Eric Thompson gezeichnet.
Das Datum wurde tatsächlich groß und offiziell gefeiert. Der Präsident von Guatemala höchstselbst, Otto Pérez, im Beisein seiner Kollegin von Costa Rica, eröffnete die Zeremonie in Tikal im Distrikt Petén, an einem der 13 Mayaheiligtümer, in dem Feiern stattfanden. Es gab traditionelle Tänze in Federgewändern, die wirklich wie auf den prähistorischen Bildern aussahen, und es gab „Wiederbelebungen” (recreaciones) des alten Maya-Ballspiels. Es kamen bekannte Rockmusiker, die traditionelle Maya-Musik spielten, sogar auf traditionellen Musikinstrumenten wie Flöten, Stierhörnern, Muscheln, Trommeln, Schildkrötenpanzern, aber vor allem Chirimías, hölzernen „Schalmeien“, die durch die Spanier im 16. Jh. eingeführt worden waren und heute unbedingt zur Tradition gehören. Es gab sogar das Schauspiel der „Moros y Cristianos“ (Mohren und Christen, aus der Zeit der Christianisierung Spaniens), ein traditioneller Ritus in der Gegend von Petén, der heute zum Volksgut gehört und gepflegt wird, dazu katholische Sakralbilder. Man legte Wert darauf, eine echte Volksfeier durchzuführen, so synkretistisch wie Volksfeiern nun mal sind, nicht eine abgehobene Weihe für ein paar Wiederbeleber.
Leider wurde durch die vielen hochkletternden Touristen einer der Tikal-Tempel beschädigt, wie nachher bekanntgegeben wurde. Nach offiziellen Schätzungen kamen dieses Jahr 200.000 Touristen mehr als sonst, ein Anstieg von 8% gegenüber anderen Jahren, angezogen durch die Feiern. Auch in Honduras eröffnete der Präsident, Porfirio Lobo, eine offizielle Feier, während der er den 21. Dezember als Ende eines Maya-Zyklus und hoffnungsvollen Anfang einer besseren Ära unterstrich.
Als Fazit stellt sich heraus, daß Maya-Menschenrechtler und Intellektuelle eine Rettung der alten, noch vorhandenen Kultur durchführen, was deswegen gelingt, weil es auf wirkliche Volkstradition aufbaut, und weil man sich nicht scheut, auch Elemente zu übernehmen, die erst in den letzten Jahrhunderten eingedrungen sind, womit vor allem die heutige Kultur der echten Maya des 20. Jahrhunderts gerettet werden kann. Zu einem besseren Anschluß an die tatsächlich noch weitergetragene Kultur der historischen Maya werden einige Elemente besonders wiederbelebt, darunter der tradierte Kalender, der nun mit Hilfe akademischer nordamerikanischer Forschungen oder eigentlich Mutmaßungen mit dem gregorianischen korreliert wird und dadurch anwendbar wird. Genau das ist das typische Modell, das wir „Geschichtsfilter” nennen. Die Weltuntergangsprophezeiung, den Halluzinationen einiger Rauschvisionäre in Kalifornien entsprungen, ist als beliebtes Unterhaltungsthema in der Presse der wirksame Auslöser für eine Bewußtmachung dieser Wiederbelebung. Es wird auch von Historikern immer unterstrichen, daß die Maya glaubten, mit dem Ablauf gewisser Zyklen ihres Kalenders seien Katastrophen und Untergänge verbunden. Nur in diesem Sinne gleicht die Maya-Vorstellung der christlichen.
Abschließend noch einmal unsere chronologiekritische Aussage: Die durchaus theologisch aufgebaute Jahreszählung der Maya kann nicht mit der christlich begründeten verbunden werden, weil das Verbindungsglied fehlt. Soviel müßte jedem einleuchten. Thompson hat eine Verbindung hergestellt, die wissenschaftlich nicht vertretbar ist und zu dem archäologischen Befund nicht paßt. Die Weltuntergangshysterie war bei der Verbreitung des Datums hilfreich, sie gehört als Auslöser und Aufhänger für die Popularität dazu, außerdem auch inhaltlich, weil im Popul Vuh das Ende der Zeitalter immer wieder betont wurde, sowie auch weil sie zu den Codices (besonders dem Dresdner) paßt, die wahrscheinlich unter der Aufsicht von katholischen Priestern geschrieben wurden.
Ohne Apokalypse hätten wir von diesen Feiern vielleicht nichts erfahren. Das apokalyptische Grundmuster ist Garantie für die Wiederbelebung gewesen. Wichtig dabei ist auch, daß das Ende des Zyklus auf das Solstitium gelegt wurde! Die ganze Idee, eine Zeitrechnung der Maya müßte von einem bestimmten Datum in der Vergangenheit durchlaufen bis zu einem in der Zukunft, beruht auf einem willkürlichen Hineinlesen europäischer und amerikanischer Gelehrter, die statt der zyklischen Zeitbegriffe der Maya den einbahnförmigen Zeitstrahl des Abendlandes im Sinn haben.
Literaturhinweise:
Brasseur de Bourbourg, Ch. È. (1857): Histoire … de Méxique … (Paris) – (1861): Popul Vuh …
Coe, William R. (1980): Tikal. A Handbook of the Ancient Maya Ruins (Univ. Mus. Pennsylvania, Philadelphia, USA)
Danien, Elin C. und Sharer, Robert J. (1992): New Theories on Ancient Maya (Univ. of Pennsylvania Museum, USA)
Landa, Diego de (1566): Relación de las Cosas de Yucatán (dtsch: Reclam 1990)
Lopez de Cogolludo (1688): Historia de Yucatán (Nachdruck Mérida 1842-45)
Müller Rolf (1966): Die Planeten und ihre Monde (Berlin)
Pérez, José (1859): „Sur un ancien manuscrit américain inédit“, in: Revue orientale et américaine, Paris, vol. I, pp 35-38
Pérez, Juan Pio (1846): Antigua cronologia Yucateca (Mérida)
Rosny, Léon de (1878): Le Codex Troano et l’écriture hiératique de l’Amérique centrale
Sahagun, Bernardino de (verfaßt 1569): Historia General de las cosas de Nueva España (Abschrift gefunden 1783, veröfftl. ab 1829)
Teeple, J. E. (1926): Maya Inscriptions: The Venus Calendar and Another Correlation, in: American Anthropologist, vol. XXVIII, pp. 402-8
Thompson, J. Eric (1935): Maya Chronology: The Correlation Question, in: Contributions to American Archaeology nr. 14, Oct. 1935)
Ilya und Uwe Topper, Dezember 2012
Zusatz: Ein Spötter, der nicht genannt werden möchte, schickte uns zwecks Auflockerung folgenden Scherz, den wir an den Schluß setzen.
Des Rätsels Lösung: „Die Maya unterschieden bei der Angabe von Daten und Zeitspannen zwischen zwei verschiedenen Arten der Null.“
(Abbildungen frei nach André Cauly und Joan Hoppar)
Kommentar: An sich hatten wir angenommen, daß die Behauptung, die Maya hätten mit einer Null gerechnet, auf einem Irrtum beruhen muß. Nun werden wir eines Besseren belehrt: Die Maya hatten sogar zwei verschiedene Ansichten von Null! Die Abbildung auf einer spätklassischen Vase im monochromen „Codex-Stil“ (nicht Comic-Stil) zeigt zwei Maya-Gelehrte beim Würfelspiel. Der linke (mit Brille) hat gerade gewürfelt und zeigt stolz auf das Ergebnis: Null! Der rechte ist fassunglos: Welche der beiden Nullen könnte gemeint sein?
Apropos Brille: die kam erst durch die christlichen Missionare im 17. Jh. dorthin.