Labyrinthe – Ritual zur Überwindung der Trepidation
Besprechung eines Buches von Hermann Kern
1. Trepidation
Unter „Trepidation“ verstanden die alten Astronomen eine seltsame Schwankung der Präzession der Erde, die zu gewissen Zeiten ganz unerwartet vor- und rückläufig sein konnte. Sowohl griechische als auch nach ihnen arabische Astronomen und Mathematiker hatten durch Messungen festgestellt, daß derartige Unregelmäßigkeiten manchmal auftraten. Ihre intensiven Versuche, eine Erklärung zu finden, gelangen nicht, wie ich in meinem Buch „Das Jahrkreuz“ (Teil 3, bes. ab S. 188, sowie Teil 6, ab S. 309) ausführlich beschreibe. Die Zeitpunkte, zu denen Trepidation gemessen wurde, haben einen gemeinsamen Nenner: sie gehören zu den von mir festgestellten Katastrophen in der Folge von Präzessionssprüngen. Trepidation ist das Auspendeln der durch einen Ruck gestörten Erdbewegung, meßbar an der ungleichmäßigen Länge des tropischen Jahres. Die Achse beschreibt nach dem Stoß noch Kreise um den Präzessionspol, die im Laufe von Jahrzehnten kleiner werden, bis die ursprüngliche Stabilität (mit einer neuen Präzessionsrate) wieder erreicht ist.
Das Auftreten von Trepidation war zwar öfters beobachtet worden, – wie es scheint, nach jeder globalen Katastrophe – wird aber heute nicht ernstgenommen, da nicht mehr beobachtbar. Sich auf die Aufzeichnungen der alten Astronomen zu verlassen, ist denkmöglich, wird jedoch von Aktualisten methodisch abgelehnt: Was heute nicht geschieht oder geschehen könnte, das kann früher nicht geschehen sein.
In meinem neuen Buch „Das Jahrkreuz“ habe ich die astronomischen Hinweise auf Trepidation in das Modell einbezogen und außer den relativ deutlichen, wenn auch chronologisch nicht genau lokalisierbaren Aufzeichnungen zusätzlich einen Denkanstoß gegeben, eine im Volk lange Zeit verbreitete kultische Idee, die des Labyrinths mit seinen dazugehörigen Tänzen, als Ritual zur Überwindung der Trepidation zu verstehen.
Dieses Auspendeln, das sicher ebenfalls noch mit Verwüstungen, See- und Erdbeben usw. einherging, vermutlich auch an der Stellung der Himmelskörper am Horizont sichtbar war, muß den Menschen große Furcht eingeflößt haben. Und deswegen war ein Ritual nötig, um die Furcht zu bannen.
2. Interview mit Hermann Kern
Kürzlich erfuhr ich von einem Interview, das Jürgen vom Scheidt (Bayr. Rundfunk) am 27. Mai 1983 mit Hermann Kern vornahm wegen seines damals erschienenen Buches „Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen, 5000 Jahre Gegenwart eines Urbildes“, 492 Seiten mit 666 Schwarzweiß-Abbildungen und farbigem Frontispiz; mit wissenschaftlichem Apparat, ausführlicher Bibliografie, Orts- und Personenregister, Sachregister und Titelregister, erschienen im Prestel-Verlag in München. Es ist sozusagen das ultimative Wort der Forschung zum Thema Labyrinthe.
Auf der Webseite von Scheidt habe ich am 9. 12. 2016 einige Sätze des Interviews herausgeholt:
JvSch: „Wie erklären Sie denn, dass die Bedeutung des Labyrinths so ins Gegenteil umgeschlagen ist?“
Dr. Kern: „Das ist sehr schwierig darzustellen. Ich kann da nur einiges vermuten. Das Labyrinth war ursprünglich eine Tanzbewegung. Auch das kretische Labyrinth hat nicht als Gebäude existiert, sondern war eine Tanzfläche, auf der die Bewegungsbahnen aufgezeichnet waren, damit die Mitglieder der Tänzerkette die Schritte richtig ausführen konnten. Das ist der sogenannte Kranichtanz, der von verschiedenen antiken Schriftstellern zum Teil beschrieben wird und der seinerseits wahrscheinlich kosmologisch hermeneutische Bedeutung hatte, bei der also die Bewegungen von Sternen nachvollzogen werden sollten, um damit dann auch die Ordnung des Geschehens am Himmel auf magische Weise zu gewährleisten. Dieser Tanz war, von Außenstehenden gesehen, sicher sehr irreführend, und es lässt sich an den einzelnen Belegen nachweisen, wie im Laufe der Jahrhunderte das Verständnis für diese Tanzfigur mehr und mehr verloren gegangen ist, so dass also nur der Eindruck totaler Konfusion übrig blieb und damit die Irrgartenvorstellung. Merkwürdig ist dann auch noch, wie diese beiden Vorstellungen über die Jahrtausende hinweg nebeneinander existiert haben und übereinander projiziert wurden. So wurden beispielsweise in mittelalterlichen Manuskripten immer echte Labyrinthe gezeichnet; also nur mit einem einzigen Weg, ohne die Möglichkeit des Sich-Verlierens. Der dazugehörige Text spricht dann aber immer vom Labyrinth im Sinne eines Irrgartens, also im Sinne tödlichen, rettungslosen Irregehens. Erst jetzt im 20. Jahrhundert hat man sich Rechenschaft darüber abgelegt, dass dies eigentlich zwei ganz verschiedene Vorstellungsfiguren sind.“
Das leuchtete mir (UT) ein: Die Gefahr, die bei dem kosmischen Geschehen erlebt wurde und zum Kranichtanz führte, das „tödliche, rettungslose Irregehen“, sollte magisch gebannt werden. Später wurde die Gefahr-Erinnerung verdrängt (durch die ‚Kirche‘), es blieb der Kult, und der war dann sinnlos geworden. Vor allem wurde er als Verirrung gebrandmarkt, nämlich das Labyrinth zum Irrgarten abgestempelt, aus dem es keinen Ausweg gibt (weil Gottes Hand unabänderlich waltet).
Kern betont die Bedeutung des Labyrinth-Symbols als Zeichen der Wiedergeburt, nennt Sardinien als ältesten Beleg (in einem Grab aus dem 3. Jt. v.Ztr.).
JvSch: „Die Figur des Labyrinths ist ja im Grunde genommen sehr einfach. So wie Sie es beschreiben, wie es offenbar eben in der häufigsten Form vorkommt, hat es eigentlich sieben Abschnitte. Oder wie würden Sie das ausdrücken?“
Dr. Kern: „Sieben Windungen.“
JvSch: „Sieben Windungen auf beiden Seiten. Also, die Windung heißt, dass es immer von links nach rechts geht in der Pendelbewegung und dann wieder zurück.“
Dr. Kern: „Ja.“
Kern bezieht es auch auf die sieben Wochentage, denn die Planeten als sieben sind unsicher. Er betont damit die Kalenderbeziehung, die er auch im Buch anspricht. Und damit war meine Neugier auf dieses Buch geweckt.
3. Das Buch der Labyrinthe
Bekannte besaßen es und ich vertiefte mich in die rund 500 Seiten. Dabei stieß ich auf ganz erstaunliche Erkenntnisse, die dieser wohl bestinformierte Labyrinth-Forscher ausbreitet. Kritisch bespricht er (S. 394) eine Dissertation (München 1941) von Waltraut Hunke, die in den Jungferntänzen oder Männerbund-Riten der Labyrinth-Rituale einen „Gang (der Sonnenspirale?) in die Unterwelt“ sieht, und ebenso lehnt Kern „die von Krause breit ausgeführte Spekulation über die Gefangenschaft der Sonnenjungfrau im Labyrinth des Winterdrachen“ mit guten Gründen ab.
Hermann Kern denkt immer wieder nach über den tatsächlichen Grund für das Errichten von Labyrinthen und das Abhalten der Tänze darin und findet keine leichte Antwort. Was bisher darüber geschrieben wurde, befriedigt ihn nicht ganz. „Allem Anschein nach hat es sich beim Trojaburgen-Brauchtum ja nicht um gelehrte Spielerei, sondern um eine volkstümliche, ursprünglich wohl sakrale Angelegenheit gehandelt.“ (S. 394)
In Finnland (wie auch in Griechenland oder sonstwo auf der Welt) kann man die Bezeichnungen für Labyrinthe nur als „Ratlosigkeit später Nachkömmlinge vor unverstandenen Relikten früherer Zeiten“ auffassen. (S. 395)
Kern fragt sich (S. 30 f), wie weit man berechtigt sei, in den Labyrinth-Wegen auch die Nachahmung der Bewegungen von Himmelskörpern zu sehen. „Den Labyrinth-Tanz der kretischen Geiseln hat man schon früh als ‚Gestirntanz‘ interpretiert, und tatsächlich ist es ja recht verlockend, die Siebenzahl der Geiseln, durch Verdopplung (Jünglinge und Mädchen) in ihrer Bedeutung noch unterstrichen, in Beziehung zu setzen mit den sieben Windungen des klassischen Labyrinths vom kretischen Typ und den sieben Planeten …“ und sagt dann in der Anmerkung 72 dazu:
„Vermutlich ist dies einer der Hauptaspekte des Labyrinths, der leider bisher kaum bearbeitet wurde. Einem interessierten Astronomie-Historiker dürfte es möglich sein, Perspektiven aufzuzeigen, die derzeit nur geahnt werden können.“
Nanu, wann schrieb er das? 1982/83. Wäre ich auf das Buch von Kern eher gestoßen, hätte ich diese Sätze wohl als Antrieb benützen können. So kommt mein Lösungsvorschlag zwar mehr als 30 Jahre später, aber doch zu Recht.
4. Die neue Erklärung
Neben den zahlreichen astronomischen Berichten von Trepidation, dem Pendeln der Sonnenstellung oder der Sternensphäre nach einer Katastrophe, fand ich auch mythische Erinnerungen an das Vorkommnis (Jahrkreuz S. 314 ff):
„Denkbar finde ich, daß sich die betroffene Menschheit in Kenntnis der durchlebten, furchteinflößenden Sonnenschwankungen ein ausdrucksstarkes Ritual geschaffen hat. Die vielgestaltige aber grundsätzlich immer gleiche Sage von der Überwindung des Drachen wird an manchen Orten in einer Trojaburg ausgeführt, das ist ein gebautes Labyrinth, das junge Burschen oder die ganze Gemeinde an Sonnwende oder anderen Festtagen des Sonnenkalenders durchschreiten. Vom Ostseegebiet über England bis zu den nordfranzösischen Kathedralen gehörten Begehungen der Drehburgen oder Wendelburgen zu den rituellen Feiern. Sie wurden sogar ins Christentum übernommen, in gotischen Kathedralen aufgeführt, und spielerisch als Tanz noch im Rokoko in Gärten. Es ging um die Gewährleistung des Sonnenweges im Jahr. Das sagenhafte Erschlagen des Drachen ist aber ein Gewaltakt, der für einen normalen Jahreslauf überflüssig wäre, denn wie jedes Kind weiß, geht die Sonne ihren Lauf in jedem Jahr auch nach der Sonnwende genauso sicher weiter. Mit dem Ritual müßte an ein schreckliches Ereignis erinnert worden sein, an einen außergewöhnlichen Eingriff himmlischer Kräfte. Soweit die Deutung der Mythenforscher, besonders von Ernst Krause.
Und nun kommt das Besondere, das diese Wendelburgen immer anzeigen, von den Sagendeutern aber nicht ausgewertet wurde; selbst Krause, Willy Pastor, Wirth, Hirsch oder Hamkens, die diese Bräuche ausführlich besprechen, haben in diesem Punkt nur „verrückte, widersinnige“ Erklärungen gegeben (Hirsch S. 91). Das Labyrinth bildet nicht etwa einen einmal zunehmenden und dann wieder abnehmenden Sonnenlauf ab, wie er zum Jahreslauf passen würde und auch als Spirale sinnbildlich dargestellt wurde, sondern man geht in die Trojaburg hinein und ein längeres Stück in dieser Richtung vorwärts, muß dann kehrtwenden und parallel zurückgehen, dann wieder wenden und so immer weiter, vor und zurück, dem innersten Raum näher und wieder ferner, wobei die Wege ungleich kürzer und länger werden. Im Innersten muß man dann ebenfalls wenden und auf dieselbe Weise mit ungleich wachsenden und schwindenden Wegen immer vor und zurück zum Ausgang finden (wie beim Tanzen der Polonäse, sagt Hirsch S. 80).
Durch die Tanzenden wird also eine Pendelbewegung ausgeführt, ein Schwingen zwischen vielen Wendepunkten, vor und zurücklaufend hintereinandergelegt. Und das entspricht nicht dem gewöhnlichen Jahreslauf. Da werden die Tagbögen der Sonne zwar kleiner bis zum kleinstmöglichen an Weihnachten und wachsen dann wieder bis zum größten an Johanni, doch es sind immer Bögen mit fortwährendem Wachsen oder Schwinden; in der normierten Bildsprache der Mythen ist das Jahr eine Spirale, kein Labyrinth.
Aus den Bräuchen und Sagen im Zusammenhang mit den Troja- oder Wendelburgen geht deutlich hervor, daß eine Opferung stattfinden muß, ja daß durch eine schreckliche einmalige Handlung die himmlische Ordnung wieder versöhnt werden soll. Nur so entstehen Rituale. Und da es bei diesen uralten Riten auf die Einzelheiten sehr wohl ankommt, dürfte der Pendeltanz als Abbild des Sonnenlaufs auf eine Vorlage wie die Trepidation zurückgehen. Die Riten sind schlüssig, uns fehlt nur oft der Schlüssel. Ich möchte vorschlagen, daß das Hin- und Herschwingen des Sonnenlaufs nach der Katastrophe beobachtet wurde, was eine angsterfüllte Reaktion bei den Überlebenden auslöste. Man nahm Teil am schrecklichen Geschehen und spielte auch später noch den furchterregenden Lauf der Sonne nach. Der Schock verlangte Heilung, das Labyrinth galt vielfach als Sinnbild für Wiedergeburt. Es wurde besonders am Johannitag durchtanzt, dem alten Wendepunkt der Sonnenbahn.
Der Zusammenhang mit der Trepidation ist Spekulation? So sind viele unserer Versuche, unklare Überlieferungen und Volksbräuche zu erklären.“ (Ende des Zitates aus meinem Buch “Das Jahrkreuz”, S. 316)
Bei Hermann Kern lese ich jetzt die vielfache Bestätigung dieser Gedanken in seinem etwas labyrinthischen aber doch umfassenden Werk „Labyrinthe“. Er zitiert neben vielen Autoren ebenfalls Krause und Herman Wirth und lehnt ihre unfertigen oder gar falschen Deutungen ab. Wirth hat den spiraligen Lauf der Sonne im Jahr aufgezeigt als frühgeschichtliches Symbol, aber nicht bedacht, daß das Labyrinth gerade keine Spirale darstellt. Auch Spekulationen über magische Zahlenquadrate und Bewegungen des Planeten Venus überzeugen Kern nicht. Er sagt (S. 33):
„Also lauter Fehlanzeigen? Vielleicht doch nicht. Hinzuweisen ist auf einige Tatsachen, die zwar nicht auf eine solare Entstehung der Labyrinth-Vorstellung, jedoch darauf schließen lassen, daß zumindest im Knossos des sechsten/vierten vorchristlichen Jahrhunderts solare Vorstellungen mit dem Labyrinth verbunden waren. Die frühesten knossischen Münzen zeigen nämlich auf ihrer Rückseite – wo später das Labyrinth geprägt wird – eine Swastika oder einen Swastika-Mäander. Das ist ebenso ein Hinweis auf das sich drehende Sonnenrad wie der Stierkopf“ (der Stier wurde in Kreta getötet und von Kern als Sonnensymbol erklärt ).
Der Zusammenhang zwischen den beiden Symbolen Hakenkreuz und Labyrinth wird durch Kern noch erhärtet duch den merkwürdigen Umstand, daß auf den runden knossischen Münzen beide Abbilder rechteckig sind. Die (runde) Spirale gehört jedenfalls nicht dazu, fügt er richtig an, und schließt dieses Kapitel mit dem Absatz (S. 33):
„Als Abschluß dieses Überblicks noch ein persönliches Wort: Das Ergebnis dieser Korrelierungsversuche ist für mich ausgesprochen unbefriedigend, da ich – wie auch zu Beginn meiner Untersuchung – nach wie vor der offensichtlich schwer begründbaren Überzeugung bin, es müsse zwischen Labyrinth und der Bewegung von Himmelskörpern ein wesentlicher Zusammenhang bestehen. Wenn diese intuitive Gewißheit (derzeit?) nicht verifizierbar ist, dann mag das mit der Begrenztheit des analytischen Instrumentariums zusammenhängen oder mit der wesentlichen Eigenschaft jedes lebendigen Symbols, sich allzu eindeutigen Festlegungen und Reduktionen zu entziehen. Jedenfalls bleibt zu hoffen, daß solche Zusammenhänge durch zukünftige Forschung weiter geklärt werden können.“
In einer Anmerkung dazu nennt er ein bisher unveröffentlichtes Manuskript von D. Alexandrova aus Sofia, in dem elektromagnetische Zusammenhänge zur Erklärung des Labyrinths herangezogen werden, als kosmogonisches Modell physikalischer Prozesse, die in einer weit zurückliegenden Vergangenheit auf der Erde aufgetreten seien mit extraterrestrischem Ursprung … aber dafür sieht Kern („abgesehen von der Fragwürdigkeit der Däniken-Hypothesen“) keinerlei Anhaltspunkte.
Ein Leserbrief nannte mir einen weiteren Vorgänger, Herbert Hofer, dessen „Entwurf“ (Typoskript 1994) vielleicht keine größere Verbreitung fand, obgleich er teilweise Kerns Gedanken, den er zitiert, fortsetzt. Hofer spricht (S. 20) vom Einschlag des Planetoiden Phaeton und von dem darauffolgenden Einpendeln der Erde infolge der Wassermassenverlagerungen. „Daher mußten aus den jährlichen Markierungen bei Sonnenwenden Spiralzeichen und symmetrisch erscheinende Zeichenmuster entstehen, welche das kreiselähnliche Einpendeln der Erdkugel in neue Gewichtslagen widerspiegelten.“ Er denkt also zunächst an Spiralen, die nur den regelmäßigen Lauf der Sonne anzeigen; die „symmetrisch erscheinenden Zeichenmuster“, die das Einpendeln beschreiben, müßten dann das Labyrinth meinen.
Damit sind wir wieder bei meinem Vorschlag: Es ist die zeitweilige Unstetigkeit der Erdbewegung, die von einer Katastrophe ausgelöst wird und längere Zeit nachwirkt, die weltweit zum Labyrinth-Tanz oder Ritual geführt hat. Kern erwähnt auch Labyrinthe in Indien, Java und Sumatra sowie in Nord-Amerika (S. 15 und 21). Über ganz Europa, von Island bis Nordafrika, kann er vielfältige Zeugnisse vorlegen und bringt bronzezeitliche Beispiele von Spanien bis zum Kaukasus.
Ihre Einbettung in Sagen ist nicht völlig gleich, doch meist himmelsbezogen. Der bei mir erwähnte Drache als Opfer ist kein Sonnensymbol (wie der kretische Stier) sondern steht für das kosmische Zeitmaß. Krauses zitierter Ausdruck „Befreiung der Sonnengöttin aus den Banden des Winterdämon“ (1893,2 S. 14) entspricht insofern meiner Idee, als hier ein Fimbulwinter (eddisch: nachkatastrophisches Ereignis) gemeint sein müßte, kein normaler Winter.
Zur Klärung obigen Textes noch einmal wichtige Punkte:
Kern sagt (S. 18 ff), daß es sich beim Labyrinth ursprünglich um einen Tanze gehandelt habe, der dann auf dem Tanzboden als Bauwerk fixiert wurde, da die auszuführende Tanzfigur überaus “kunstvoll” (Homer, Ilias 18, 593)aufgeführt wurde. Später (Vergil, Spätantike …) wurde der labyrinthische Tanz von Ausführenden und Zuschauern nicht mehr verstanden und daher zum Irrgarten (Kern S. 19).
Schlüsselworte zur Deutung bei Kern (S. 31) sind “Bewegungen von Himmelskörpern” und “sympathetischer Zauber”, bezogen auf den Kosmos.
Darum noch folgende Präzisierung:
Der Tanz im Labyrinth oder dieses Gebäude selbst bildet nicht ein kosmisches Modell ab, etwa die Erde als kreiselnder Körper – das war nicht vorstellbar – sondern drückt das Schwingen der Meßwerte aus, ist also pure Beobachtung, nämlich die Pendelbewegung des Frühlingspunktes (das ist die Präzession) und zwar als Kalendermessung. Diese war es, die durch den Tanz bezwungen werden soll. Die Gänge nehmen zunächst nach außen hin zu, dann kontinuierlich wieder ab, dann wieder (weniger) zu und gelangen schließlich ins Zentrum. Hier wird der Drache oder Minotauros erschlagen, und damit hat die Not ein Ende. Der Rückweg aus dem Gebäude ist einfach, verirren kann man sich da nicht.
S. 194: So ist es richtig: Die “Bewegung der Erde” läuft nicht an den Wendepunkten wieder zurück; das Pendeln läßt sich nur folgern aus den Meßwerten der Kalenderdaten, die beobachtet wurden.
Dafür diente das Durchtanzen der Labyrinthe und das Erschlagen des Minotauros (des Körpers im Zentrum, der den Sonnenlauf störte). Damit erübrigt sich das mehrfache Durchtanzen des Bauwerks, das Schwingen endet mit einmaligen Hinein- und Heraustanzen.
Trojaburgen, Labyrinthe zu ebener Erde, wie sie in Nordauropa häufig sind, kann man in einen größeren kulturellen Rahmen einbinden, wie Kern anregt. Dazu gehören die großen Kalkbodenbilder wie das weiße Pferd von Uffington, ferner auch die fast weltweit verbreiteten Hinkelspiele (“Himmel und Hölle”). wobei eine “Sonne” durch die Felder getrieben wird.
Und noch ein Aspekt, den Kern bringt, ist erwähnenswert: In oder neben den Kirchen fanden Tänze in Zusammenhang mit den Labyrinthen statt, besonders an Ostern zur Auferstehung des Christus, der die Erlösung oder Rettung symbolisierte. Der erste Tänzer nahm einen Ball und warf ihn den anderen zu. Der Ball ist die Sonne, sagt Kern (S. 214). Diesen heidnischen Sinngehalt wollten Geistliche später ändern oder abschaffen. Beim Ostertanz wurde auch ausdrücklich an die Verfinsterung der Sonne während der Kreuzigung erinnert, also an die Katastrophe (erläutert in Topper 2003, Kap. 14).
Kern nimmt an, daß die beiden Elemente, Labyrinth und Ostertanz, aus verschiedenen Mythensträngen zusammengeführt wurden. Der Tanz im Labyrinth hat heidnisch-normannische Wurzeln, und die Labyrinthe in den Kathedralen finden sich hauptsächlich in Nordostfrankreich, dem ehemaligen Normannengebiet, sowie als Rasenlabyrinthe in England, und als Steinfiguren im Boden in Skandinavien (kombiniert auch in Norddeutschland, Krause 1893,1, Kap.3). In England wird durch Schriftsteller wie Chaucer und Shakespeare das Rasenlabyrinth (maze) mit dem Mühlespiel unter freiem Himmel verbunden (morris-dance). Die Mühle war Abbild des Himmels (siehe unten). Die skandinavischen Labyrinthe wurden häufig Trojaburgen (oder Trelleborg, in Wales Caer Droia, und ähnlich) genannt, das dürfte von “Drehen” kommen, auch im Sinne von Trug. Eine Verbindung zum homerischen Troja wurde später geknüpft, wie auch Kern betont.
Könnte uns der Name “Labyrinth” noch einen Fingerzeig geben? Kern hat es an mehreren Stellen versucht. Die Herkunft des Wortes von der Labrys, der Doppelaxt, hat sich als unhaltbar erwiesen, sagt er (S. 46 f). Sie hieß ja auch (nach Plutarch in den „Moralia“) pelekys, was m.E. direkt an Beil anklingt, und damit ist der tiefere Zusammenhang verwischt. Es gibt einen sinnvollen Weg von der Doppelaxt zum Labyrinth, der nicht beachtet wurde: Beide bilden den Sonnenlauf ab. Wenn ich (wie im „Jahrkreuz“ Kap. 1) den Weg des Schattens eines Kalendergnomons auf einer großen Fläche (z.B. einer Tenne) aufzeichne, erhalte ich grundsätzlich zwei Grenzlinien, nämlich einerseits die der äußersten Sommerbewegung als Kurve um den Fuß des Stabes gelegt, und andererseits fern am Ende die nach außen weggewölbte Kurve des Winterschattens. Zwischen beiden kann ich als Symmetrieachse eine Gerade zeichnen, den Weg der Schattenspitze an den beiden Gleichentagen im Frühling und Herbst.
Nehme ich die Mittagslinie dazu, dann habe ich das Abbild einer Doppelaxt. Solche Übereinstimmungen von Bild und Sinn waren den bronzezeitlichen Menschen, die die Schrift ausbildeten, willkommen. Sie griffen nach diesen „Zufällen“ und normierten sie. Noch ein solches Beispiel? Gern, es gibt Hunderte, weil die Griechen in ihrer Unfähigkeit, die vor ihnen fast ausgelöschte Zivilisation oder Sprache zu verstehen, eine Unzahl an Deutungen schufen, die vielfach als Verballhornungen zu bezeichnen sind. In dieser Form haben sie die Zeiten überdauert und geben uns Rätsel auf.
Kern erwähnt im Interview den Kranichtanz, im Buch kommt der Begriff oft vor. Es ist der labyrinthförmige Tanz auf Kreta und Delos (S. 31), Geranos genannt. Man mag da an die Balzrituale der Kraniche denken, an ihre elegante Haltung, die durchaus menschlich wirkt. Wie sagen die Perser, wenn ein Jüngling graziös tanzt? Ghurnuq, Kranich! Im arabischen Plural lautet das Wort gharaniq, es klingt fast wie Kranich. Minutiös zeigt Kern (S. 51 f), daß die von Homer beschriebene Kranich-Tanzform eine echte Labyrinth-Form darstellt, mit Vorwärts- und Gegenbewegung, sich wechselseitig verwickelnd, eine Kette bildend, die sogar durch ein Seil gefestigt wurde (der Ariadne-Faden? fragt Kern). Wo ist nun der Zusammenhang mit den Kranichen (abgesehen von dem lustigen Vergleich)? Er liegt wieder im Wort.
In allen germanischen Sprachen von Altnordisch und Gotisch bis Althochdeutsch und Angelsächsisch etc. ist quern oder kirn oder so ähnlich das Grundwort für Mühle. (Englisch to grind heißt mahlen, schleifen, drehen, z.B. die Leier drehen, auch crank). Die Mühle steht für das sich erbarmungslos drehende Weltall, etwa in der Edda, aber auch in vielen anderen Texten (siehe Santillana-Dechend, schon im Titel). Das Wort Karren gehört ebenfalls dazu, er rollt, weil sich die Räder drehen, und ebenso das Jahr (engl. year hängt mit gear, Triebwerk, zusammen). Krone und Korn sind rund. Und im Arabischen ist qorn Weltalter, Zeitraum, Rundlauf.
Dazu paßt der Kranich? Ja, das Wortspiel reicht aus. Im Berberischen (Taschelheit) gilt das Wort qirn nur für das Mühlespiel, darin ist der kosmische Zusammenhang erkennbar. Es handelt sich nicht um eine Ableitung (Etymologie) sondern um einen Gleichklang, der zur Assoziation führte, die dann als Sinnbild verstanden wird.
Zweimal sieben Jünglinge und Mädchen tanzen ins knossische Labyrinth, die perfekte Zahl der Zeit : 14.
Abgrenzen als Sinnbilder muß man die Spiralen und konzentrischen Kreise, wie sie auf unzähligen Felsbildern vorkommen, von Irland bis spanisch Galicien und den Kanarischen Inseln. Sie haben durchaus etwas mit dem Sonnenlauf zu tun, sind Abbilder des Jahres und der kosmischen Gesetzmäßigkeiten. Aber eben nicht Ausdruck dieser schrecklichen Angst vor dem unberechenbaren Sonnentaumel, den das echte Labyrinth verkörpert. Ausnahmen gibt es dennoch auch dort: In Mogor (spanisch Galicien) dokumentierte Renate v. Lamezan ein Labyrinth-Felsbild als Durchreibung (Abb.).
Völlig unpassend dagegen sind Vergleiche mit unterirdischen “Labyrinthen”, wie Kern erklärt. Sie bezeichnen das Gegenteil dieses kultischen Begriffs. Da gibt es einen Steinbruch auf Kreta, die Höhle von Gortyna, deren Plan tatsächlich verworren aussieht; umständlich auf Umwegen gelangt man in die einzelnen Räume. Ich habe es ähnlich in Melilla empfunden, wo ein unermeßliches Gewirr von Gängen und Räumen unter der Stadt aus vorgeschichtlicher Zeit stammt, das noch heute teilweise benützt wird. Und deratige Gänge und „Labyrinthe“ gibt es ebenfalls weltweit (siehe Kusch) – nur : es sind eben keine Labyrinthe im echten Wortsinn. Vielleicht dienten sie zum Überleben, aber kultisch ist ihre Anlage nicht. Sie wirken auf einem Plan ungeordnet, weil dabei die dreidimensionale Auffaltung, die höhere oder tiefere Lage der Gänge, nicht erkennbar wird. Das echte Labyrinth enthält immer die Sicherheit, daß der Weg wieder hinausführt.
Literatur
Hofer, Herbert G. (1994): Höhlen als frühe Oberservatorien. Die Entschlüsselung des Labyrinths (Stuttgart), Entwurf,
Kern, Hermann (1982): Labyrinthe, Erscheinungsformen und Deutungen (Prestel, München; 2° 1983)
Kluge, Friedrich, u. Götze, Alfred (1881): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (14. Aufl. Berlin 1948)
Krause, Ernst (1893, 1): Die Trojaburgen Nordeuropas (Leipzig; Nachdr. Osnabrück 1981) – (1893, 2): Die nordische Herkunft der Trojasage (Nachdr. 2007)
Kusch, Heinrich und Ingrid (2011): Tore zur Unterwelt (Graz)
Münster, Sebastian (1628): Cosmographia (Bd. 2, Basel, Nachdr. 2010)
Santillana, G. de/ Dechend, H. v. (1993): Die Mühle des Hamlet (Berlin) (a. d. Amerikan., Boston 1969)
Scheidt, Jürgen vom (1983): Hermann Kern: Interview mit dem Labyrinth-Forscher (am 21. 1. 2013 erneut ins Internet gestellt)
Topper, Uwe (2003): Zeitfälschung (Herbig, München)
(2016): Das Jahrkreuz (Tübingen)