Das Josua-Wunder
Kurzfassung meiner Erkundung des Josua-Wunders in Jahrkreuz (2016)
Das Gedächtnis des Kulturmenschen ist erstaunlich, aber daraus Schlüsse auf tatsächliche Geschehnisse ziehen, kann in die Irre führen.
Vorwort
Zum Realitätswert des Josua-Ereignisses haben sich viele Chronologiekritiker geäußert, so auch ich mehrmals, besonders ausführlich im Buch “Jahrkreuz” (2016, S. 324-347). Dortiger Text geht sehr ins Einzelne, darum fasse ich die Grundzüge hier einmal zusammen.
Es geht um das sogenannte Sonnenwunder, nämlich den Bericht über einen Sonnen-Stillstand zu einem festgelegten Zeitpunkt in der frühen Geschichte.
(Die hier genannten traditionellen Daten sind nur als Anhaltspunkte zum Auffinden der schriftlichen Dokumente zugefügt. Im Übrigen habe ich die zeitliche Einordnung nach meinen Erkenntnissen durchgeführt, z.B. angebliche antike Schriftstücke in der Renaissance verortet. Die Literaturnachweise befinden sich im Buch.)
Velikovsky war kein Naturwissenschaftler, wagte sich aber auf dieses Terrain vor bei der Auswertung von Mythen und Überlieferungen oder Chroniken. Man muß nicht Physiker sein, um zu erkennen, daß ein Zusammenhang zwischen Sagen (etwa Atlantis) und Aussagen über das Planetensystem nicht selbstverständlich ist, sondern höchstens als Anregung genommen werden kann. Zumindest ist eine Analyse des Textes nötig: Wann kam die Atlantis-Sage auf, wer hat sie mit welcher Zielsetzung weitergereicht, wie wurde sie im Laufe der Überlieferung verstanden und abgewandelt, in welcher Gestalt liegt sie uns heute vor?
Das ist zwar alles vielfach längst vorgebracht worden – der Streit um Velikovskys Theorien ist nun 70 Jahre alt – dennoch hat sich niemand, soweit ich weiß, die Mühe gemacht, zumindest die für Velikovsky wichtigste und grundlegende Verwendung eines alten Textes zu untersuchen: die Verse im biblischen Buch Josua, die vom Stillstand von Sonne und Mond während einer Schlacht zwecks Eroberung Palästinas durch die Hebräer unter Führung von Josua erzählen.
Die beiden Artikel von Mills und Van der Shluijs in C&C Review 2019 und 2020, die ich in meinem vorigen Beitrag besprochen habe, behandeln nur einen kleinen Ausschnitt dieser Kontroverse, nämlich die Gleichsetzung einer Lichterscheinung mit einem Kometen und dessen Datierung durch Gelehrte in der Barockzeit.
Sie ergaben zumindest dies: Velikovsky war ein romantischer Träumer, der viele Forscher inspirierte, aber keine textkritische Analyse zu den von ihm verwendeten Sagen anwandte. Geschriebenes wie die Bibel galt ihm als verläßliche Historiographie mit universeller Geltung. Und sein wichtigstes Erlebnis, das alle weiteren Schlüsse vorwegnahm, vermittelte ihm der biblische Josua-Bericht.
Es gibt viele Hinweise auf kosmische Tumulte und Katastrophen bei allen Völkern, sie sind meist vage und lassen sich selten in geophysikalische Geschehnisse übersetzen; das trifft für den Josua-Vorfall genauso zu. Er mag als schwache Erinnerung an ein ungewöhnliches kosmisches Ereignis aufgefaßt werden, aber wie die Erdbewegung damals verlaufen sein könnte, ist nicht herauszulesen.
Im europäisch-orientalischen Bereich gibt es nur wenige Fragmente, die eine ähnliche ungewöhnliche Bewegung der Himmelslichter beschreiben, in schriftlicher Form kaum ein Dutzend. Ich habe untersucht, wann sie aufgekommen sein könnten und wie sie sich zur heutigen Form entwickelt haben, also einer Textkritik unterworfen. Das Ergebnis ist ernüchternd. Es handelt sich um einen literarischen Topos, der nicht älter als 600 bis 900 Jahre sein dürfte und keineswegs als Augenzeugenbericht gewertet werden kann.
Teil 1: Sonnenstillstand
Meine Untersuchung der zum Sonnenwunder gehörigen Überlieferungen hat ergeben:
Im möglicherweise ältesten Bericht, im altfranzösischen Rolandslied (Fassung von “1170”), wird die Episode vom Sonnenwunder in 40 Versen erzählt: Karl d.Gr. will im Kampf gegen die Sarazenen seinen Freund Roland rächen und bittet um mehr Zeit. Gott (durch den Engel Gabriel) gewährt ihm dies, indem er die Sonne anhält.
In der Sage von der Schlacht von Tentudia (Extremadura, Spanien 13. Jh.) wird die Himmelsherrin Maria mit dem Sonnenwunder betraut, von Gott ist nicht die Rede. Das Motiv ist dasselbe: Auskosten der Rache an besiegten Feinden.
In dieser Sage (wie auch im Rolandslied) wird nur ein Stillstand der Sonne berichtet.
Allerdings werden die Ereignisse erst viel später weitergegeben, in den älteren spanischen Texten ist das Heiligtum von Tentudia zwar berühmt, aber nicht für dieses Wunder, das z. B. “1277” noch unbekannt ist.
Das Wunder von Tentudia wird erstmals 1488 in einem Text der Santiago-Ritter kurz erwähnt. Hier fehlen jegliche Anspielungen auf eventuelle Bibelstellen, es fehlt der Name Josua bei allen.
Mir scheint, daß ab etwa 1500 das Interesse an dem Wunder volkstümlich wurde, so etwa bei den Moslems bezogen auf Ali, der mit Hilfe des Sonnen-Stillstands in der Sonnenmoschee von Helle (wo früher Babylon stand) sein Morgengebet nachholte. Anders beim “antiken” (vermutlich Renaissance-) Lustspieldichter Plautus: In Amphitryon wird nächtens der Mond angehalten, damit Zeus die schöne Alkmene verführen kann. Traditionell wirkt dagegen der Dramatiker Lope de Vega, er verherrlichte in seinem Theaterstück El sol parado (= Die angehaltene Sonne, etwa 1600) den Helden Pelayo während der Schlacht von Tentudía.
Ab dem 18. Jh. wird auch eine Lichtverlängerung in der Schlacht am Salado bei Tarifa in Andalusien (“1340”) als Marienwunder betont. Diese Maria genießt als Virgen de la Luz (gekrönt 2013) höchste Verehrung.
Im arabischen Kalender des Ibn Asim von Córdoba (angeblich um 1000 AD, vermutlich im späten 16. Jh. hergestellt) wird das Wunder knapp genannt, hier mit dem Namen Josuas verbunden. Im Koran kommt Josuas kosmischer Eingriff nicht vor.
Zwingli spricht in einer Predigt 1529 über Pest und kosmische Katastrophen, „wie die Sonne mitten in der Bahn stehen blieb, weil der Feldherr Jesus (das ist Josua) Licht zur Verfolgung der Feinde brauchte“. Vom Mond ist keine Rede.
In der von Cranach illustrierten Lutherbibel von 1534 kommt der Feldherr Josua viermal vor, das Sonnenwunder fehlt noch. Ebenso bei Schedel (1493): drei Bilder zeigen Josua, aber nicht das Sonnenwunder, obgleich Schedel mehrere verschiedene Sonnenwunder darstellt.
Teil 2: Josua-Verse
Dann erfolgt bei Flavius Josephus (vermutlich 16. Jh.) erstmals eine direkte wenn auch knappe Nennung des Josuawunders: in den Jüdischen Altertümern (5. Buch, Kap. 1, Abschnitt 60 f) wird von einer Verlängerung des Tages gesprochen, eine Beziehung zum Alten Testament wird vermieden, nur auf “heilige Schriften im Archiv des Tempels” hingewiesen.
Tycho Brahe erwähnt in seiner Schrift über den Wunderstern (die Nova von 1572) das “Zurückweichen der Sonne” für Josua, was er für möglich hält. Allerdings kennt er den Wortlaut der Bibelstelle nicht, “Stillstand von Sonne und Mond” wäre richtig zitiert gewesen.
Bis hierhin ist der Vorgang der Entwicklung der Bibelverse erkennbar.
In der Bibel (Josua 10, 11-14) ist von der Schlacht die Rede, es bleiben Sonne und Mond stehen, dazu gehört noch ein Steinhagel, der die Feinde niederstreckt. Der bedeutendste Vers lautet (nach Luther): “Also stand die Sonne mitten am Himmel und verzog unterzugehen, beinahe einen ganzen Tag; und es war kein Tag diesem gleich, weder zuvor noch danach, da der Herrgott der Stimme eines Mannes gehorchte.“ Das dürfte zwischen 1500 und 1530 formuliert worden sein. Als Quelle wird ein sonst unbekanntes Buch Jaschr angegeben.
Luther hat bei einer Tischrede am 4. Juni 1539 erstmals die Josua-Verse als Argument gegen Kopernikus aufgeworfen, ohne den Astronomen beim Namen zu nennen.
Brennend wird dieses Bibelzitat erst bei der Anhörung Galileis (ab 1613, streng 1615) vor der Inquisition mit dem Argument, daß Gott im Josua-Bericht die Sonne anhielt, nicht die Erde.
In seiner Verteidigung bringt Galilei die Präzession ins Spiel. Aber auch er hat die heutige Form des Bibeltextes nicht im Kopf: Josua betete nicht zu Gott sondern befahl den Himmelslichtern; und Gott gewährte es nicht zum Siegen, sondern zum Auskosten des Sieges.
Galileis Kenntnis des Josua-Wunders beruht ausschließlich auf einer Schrift des portugiesischen Jesuiten Cosimo Magalhães von 1612.
Erklärtermaßen machte man an den unmöglichen Sonnenwundern (das zweite ist das des Hiskia) ein ganzes Weltbild fest. Da es um die Unveränderlichkeit des Kosmos und um den Zeitplan für Gottes Strafgericht ging, ist das verständlich.
Das Josua-Argument behielt noch lange seine Schlagkraft und wurde auch im späten 17. Jahrhundert weiter benützt. Gottfried Wilhelm Leibniz versuchte mit den Worten von Galilei von 1615 den Ideen des „gut katholischen“ Kopernikus in der katholischen Kirche einen Fußhalt zu verschaffen, ja er hatte ernsthaft vor, die beiden Kirchen, die sich dreißig Jahre blutigst bekämpft und Deutschland unsäglich verwüstet hatten, mit dieser Strategie zu einer einzigen Kirche zu vereinigen. Gegen 1681 reiste er durch Italien und sprach mit katholischen Wissenschaftlern und Ordensleuten, völlig erfolglos.
Erst 1822 hob die Inquisition das Verbot kopernikanischer Anschauungen auf.
Für Velikovsky waren die Josua-Verse 1940 das Urerlebnis, das seine ganze Theorie durchzieht. Damit ist der längst beigelegte Streit über die wissenschaftliche Wahrhaftigkeit von Sagen und Glaubensartikeln wieder aufgebrochen; die Naturwissenschaftler sind erzürnt.
Über einen gleichzeitig mit dem Sonnen-Stillstand herabfallenden Meteoritenschwarm, der Christoph Marx als unwiderlegbarer Beweis für die Echtheit des Josua-Textes galt, gehe ich hier nicht ein, das Argument scheint mir wertlos. (Im Buch ausführlich.) Auch das andere Sonnenwunder (das des Hiskia) brauche ich hier nicht als Unterstützung, es ist gar zu schwach.
Teil 3: Die Erde als Kreisel
Über die meist griechischen und lateinischen Berichte von einer vorübergehenden Umkehrung des Sonnenlaufs, also der Mitteilung, daß sich die Erdbewegung bei einer Katastrophe total umgekehrt haben könnte, sodaß die Sonne im Westen auf- und im Osten unterging, ist sehr viel diskutiert worden. Velikovsky hat diese Diskussion erneut angefeuert, weil die entsprechenden Überlieferungen seine Thesen untermauern, wie er sagt.
Die Idee eines die Erde symbolisierenden Kreisels (Präzession) wurde von dem Wiener Paläobiologen Louis Suball auf die Erdumpolung angewandt (1958). Die Drehrichtung des asymmetrischen Spielkreisels setzt sich unverändert fort, während er sich schwerkraftbedingt kopfüber bewegt. Dabei bewegt sich von uns aus gesehen die Sonne verkehrt herum über den Himmel. Dasselbe gilt natürlich auch für den nächtlichen Anblick des Sternhimmels (was schon die Inquisition einbezog).
Peter Warlow (1978/1982) hat den Gedanken weiter verfolgt und in die von Velikovsky ausgelöste Diskussion eingebracht.
So eine Umkehrung wird allerdings nur ein kurzer Vorgang gewesen sein, da sich weiterdrehend der alten Zustand wieder herstellte. Dabei kann es kurz zu einem Sonnen-Stillstand gekommen sein, wie manche Überlieferungen nahelegen. Eine Sufi-Weissagung, die sich möglicherweise auf Erinnerung an einen Vorfall in der menschlichen Frühgeschichte stützt, habe ich 1979 aufgezeichnet und dazu Parallelen in der maghrebinischen Literatur gestellt.
Über den Auslöser der Taumelbewegung ist in dem Berbertext kein Hinweis enthalten, auch Gott wird nicht als Verursacher genannt. Dies steht im Einklang mit der griechischen Vorstellung, daß derartige Vorkommnisse „von Zeit zu Zeit“, also ohne erkennbaren Auslöser, zu erwarten seien.
Das erinnert an die Phaethon-Mythe bei Ovid (Metamorphosen II, Phaeton 409 f), wo der Ligurerfürst „eingedenk des grausam gesendeten Feuers (…) stets noch mißtrauet dem Himmel“.
Ergebnis
All das besagt wenig über den vermuteten kosmischen Vorgang; im besten Fall deutet es an, daß dergleichen stattgefunden haben kann. Die Gewißheit, mit der Velikovsky jene Sagen zu Beweismitteln aufwertet, können wir heute, 70 Jahre später, nicht teilen.
Literatur
Das erste Buch Velikovskys zum Thema: Worlds in Collision. The Book about the Day the Sun stood still. (Doubleday & Co., New York 1950) – Deutsche Übersetzung von Fritz W. Gutbrod: Welten im Zusammenstoß. Als die Sonne still stand. Stuttgart (Kohlhammer, 1951).