‘Das Mysterium der Zeit’
Kurze Besprechung eines Romans von Monaldi & Sorti (2011)
In meinem Nachtrag II zu “Hardouin – eine Abrechnung” habe ich, dem Hinweis von Rainer Schmidt folgend, schon auf das Buch “Das Mysterium der Zeit” von Monaldi und Sorti hingewiesen. Nach erneuter Lektüre ergaben sich weitere Bemerkung zu dem gewichtigen Buch, die ich hier anschließe.
“Das Mysterium der Zeit” von Monaldi & Sorti (Aufbau-Verlag Berlin 2011)”enthüllt (laut Werbetext) diesmal einen Betrug, der scheinbar nur für Philologen von Belang ist, in Wahrheit jedoch weitreichende Folgen hat: die Fälschung eines Großteils der uns überlieferten antiken Autoren. Das Römische Reich, die griechische Antike, das alte Ägypten hätten demnach nie existiert. Platon und Aristoteles, Julius Cäsar und Cicero entsprängen der Phantasie raffinierter Fälscher, und wir lebten heute nicht im 21., sondern eher im 18. Jahrhundert nach Christi Geburt. Kaum zu glauben? Und doch ist die neueste Enthüllung des berühmten Autorenduos das Ergebnis mehrjähriger fundierter Studien – brillant übersetzt in ein großes literarisches Abenteuer.”
Na, nicht ganz richtig angepriesen, aber doch deutlich unsere Chronologiekritik einbeziehend. Sogar Heribert Illigs These von den (nur) drei Jahrhunderten, die übersprungen wurden, ist hier hineingemischt (was im Buch nicht so verwendet wurde).
Als Aufdecker der Fälschungen wird auch Jean Hardouin von den Autoren ausgiebig gefeiert, ja es werden (S. 776) sogar “illustre Vorgänger” von Hardouin genannt, die erkannten, daß berühmte Konzilien der Kirche nie stattgefunden hatten, sondern erfunden waren; so etwa der Humanist und Jesuit Antonio Possevino (siehe Canfora 2001), geboren 1534 in Mantua, gest.1611 in Ferrara, sowie der Gräzist Leone Allacci, geboren um 1586 auf Chios, gest. 1669.
Wir sehen hier die Linie der berühmten Jesuiten vorgebildet, die mit Launoy, Germon und Hardouin ihren Höhenflug nahm.
Nachtrag: In der Aufzählung der Jesuiten steht Launoy vermutlich zu unrecht, er war wohl kein Jesuit, wie Rainer Schmidt feststellt (siehe meine Besprechung seiner Hardouin-Neuausgabe, Nachträge).
Monaldi und Sorti nennen neun ungedruckte Manuskripte Hardouins in der Nationalbibliothek Paris (auf der webseite der Autoren abgebildet), die sie eingesehen und erstmals gelesen haben, sowie drei weitere, die wegen ihres fragilen Zustands nicht fotografiert werden konnten. Sie betonen, daß die Originalhandschrift der Prolegomena nicht auffindbar sei und die Möglichkeit bestehe, daß sie teilweise oder völlig von anderer Hand geschrieben sein könnte.
Auf S. 72 bis 74 bringt der Roman die Zeittafel von Scaliger, wobei jemand fragt:
“Wußte man (vorher) wirklich nicht, in welchem Jahr die Ereignisse der Weltgeschichte stattgefunden hatten?” Die bekräftigende Antwort wird nach Kenntnisnahme der Tafel wiederholt: Scaliger hat sich diese Daten, die vorher nicht bekannt waren, ausgedacht.
Dazu kommt Kammeiers Diktum: Wer antike Texte liest, “hat niemals eine originale Handschrift vor sich. Es ist die Kopie einer Kopie einer Kopie von wer weiß wie vielen anderen vorhergehenden Kopien.” Da der Roman im 17. Jh, spielt, ist diese Übernahme von Kammeiers Erkenntnissen etwas anachronistisch, aber gut gemeint.
Es werden auch die Entdecker der antiken Manuskripte, die zu unsterblichem Ruhm gelangten, namentlich genannt: in Spanien Antonio Augustin, in Frankreich Casaubonus, in Rom Baronius …
Es wird grosso modo der Stand unserer Chronologiekritik referiert, wie er in meinem Buch “Fälschungen der Geschichte” (2001) S. 110-114 steht. Besser wäre gewesen, Monaldi und Sorti hätten auch meine neueren Bücher (2003, 2006) und die der Kollegen zum Thema gelesen.
Die phantastische Mischung aus plausiblen Geschichtsvorgängen und geradezu lächerlichen Wunderberichten in den ‘Chroniken’ der antiken Schriftsteller werden von den Autoren (S. 273-279) aufs Korn genommen, womit sie zeigen können, daß es sich um ausgedachte Geschichtsberichte handeln muß. Sie scheinen wie “absichtliche Scherze von jemandem, der sich einen Spaß daraus gemacht hat, sie mit akademischem Ernst zu erzählen und mit wohlklingenden Autorennamen zu versehen…” Die Autorennamen sind wohlgemerkt Cicero, Herodot, Plutarch usw. Wenig später (S. 289-305) wird erneut der Unsinn in den antiken Texten angeprangert und (nach 17 Seiten Aufzählung) als “Zeitvertreib von Spaßvögeln” abserviert. Ob das den Kern trifft?
Es wird hier nämlich recht eingehend die Situation im 16. Jh. geschildert, der Streit zwischen Glauben und Wissenschaft. Ab S. 495, bes. 497, stellen die Autoren fest, daß Luther den Stoß gegen Kopernikus anführte; er wetterte ohne eine andere Begründung als die, daß Kopernikus gegen die Vernuft und den Glauben verstoße (siehe Topper 2016, S. 332 ff).
Im Anhang II “Die erfundene Zeit” (ab S. 773) decken die Autoren ihre Quellen auf, wobei auch unpassende Personen wie Velikovsky (S. 781) vorkommen.
Luciano Canfora wird höchst lobend und zustimmend eingebaut. Einer der Gesprächspartner sagt in Canforas Sinn: “Die Bibliothek von Alexandria? Erfunden. Die Berichte antiker Historiker? Alles Märchen.” (S. 613).
Mir scheint, daß die Autoren ihr Buch schon fast fertig hatten, als sie auf unsere Arbeiten stießen und in den Rahmen ihrer Geschichte stellenweise die Dialoge um die Geschichtsfälschung einfügten, manchmal etwas unpassend. Die Vorarbeiten von Jean Hardouin, Nicolas Antonio, E. Johnson, W. Kammeier und Gunnar Heinsohn werden dabei großzügig vorgezogen, da sie ja keineswegs gegen 1600 in dieser fertigen Form vorlagen.
Im Zuge des Romans (S. 625) geschieht es, daß die Erkenntnisse über die erlogene Geschichte wieder verlorengehen (durch Mord, Feuer …). “Die Wahrheit über die Geschichte und die Zeit … verschwand. Die jahrhundertealten Lügen über Synkellos, Berossos, Manetho und andere, … wurden wieder sorgfältig vertuscht.”
Das erklärt die Anachronismen der Romanfiguren, stimmt jedoch in dieser knappen Ausführung nicht. Viele der Aufdeckungen wurden geklärt und niemehr vergessen, wie die Bleitafel-Fälschungen von Granada (siehe Mayans 1742; Julio Caro Baroja 1991; U. Topper 1998, S. 81 u.ö.).
Wo es um die Entnazifizierung der Akademie geht, machen die Autoren ihre Einstellung an einem krassen Beispiel deutlich: “Ein Vergleich der ideologischen Reinheit kann also für die Vertreter der anerkannten akademischen Gemeinschaft verfänglicher sein als für die ‘Paria’ der “kritischen Zeitrechnung.” (S. 786)
Auch Illig ist dieser Haltung zum Opfer gefallen, wobei seine Gegner Michael Borgolte und Johannes Fried namentlich genannt werden.
Literatur
Caro Baroja, Julio (1991): Las Falsificaciones de la historia (en relación con la de España) (circulo de lectores, Barcelona, 218 S.) – (2° 1992, Seix Baral, Barcelona)
Canfora, Luciano (1986): La biblioteca scomparsa (Palermo)
Mayans y Siscar, Gregorio (1742): Censura de historias fabulosas, das Spätwerk von Nicolas Antonio (Valencia)
Die meisten hier erwähnten Autoren findet man auf unserer Seite “Wer-ist-wer”.
Nachtrag
Rainer Schmidt hat einen wichtigen Hinweis zu Hardouins Prolegomena geschickt, der angefügt wird:
Dann nutze ich noch ganz schnell die Gelegenheit, mit einem weiteren Irrtum aufzuräumen, dem Rita Monaldi und Francesco Sorti erlegen sind (die meine Neugier an Hardouin überhaupt erst so richtig geweckt haben, wofür ich ihnen sehr dankbar bin). Sie äußern auf S. 775 im Anhang zu Mysterium Zweifel an der Echtheit bzw. Vollständigkeit der Prolegomena, da sie sie unter Hardouins Manuskripten in Paris nicht gefunden haben. “Es ist uns nicht gelungen, eine Originalhandschrift der Prolegomena aufzutreiben”.
Wie sollten sie auch!
Denn dort war die Handschrift nie, obwohl dies in den Gelehrten-Nachrichten oft kolportiert wurde, so z.B. 1857 in den Notes & Queries:
“Vaillant gave the MS. to the British Museum, where it now remains (No.4803. Add. MSS.). There is not a printed copy at the Museum, and the book is scarce; probably there were not many copies printed. The MS. is only a transcript — not Hardouin’s “ autograph ** — as stated on the title-page of the publication.* It is stated that Hardouin confided his MSS. to the care of the Abbe d’Olivet, who placed them in 1 the Library of Paris. It was probably thence that Vaillant obtained his copy; and there also may remain the larger MS. Censura Scriptorum Veterum.
* The MS. is written in a clear, bold, mature hand, such as Hardouin could not have written in his old age— the period of its composition— although the style is as vigorous as ever, and shows no signs of decay.”
[Vaillant schenkte das Exemplar dem British Museum, wo es sich heute befindet (Nr. 4803. Add. MSS.). Es gibt kein gedrucktes Exemplar im Museum, und das Buch ist sehr selten; wahrscheinlich wurden nicht viele Exemplare gedruckt. Das MS. ist nur eine Abschrift – nicht Hardouins “Autograph ” – wie auf dem Titelblatt der Publikation angegeben.* Es heißt, dass Hardouin seine MSS. der Obhut des Abbé d’Olivet anvertraute, der sie in der Pariser Bibliothek aufbewahrte. Wahrscheinlich hat Vaillant von dort sein Exemplar erhalten, und vielleicht befindet sich dort auch das größere MS. Censura Scriptorum Veterum.
* Das MS. ist in einer klaren, kühnen, reifen Handschrift geschrieben, wie sie Hardouin in seinem hohen Alter – der Zeit der Abfassung – nicht geschrieben haben kann, obwohl der Stil so kraftvoll wie immer ist und keine Anzeichen von Verfall zeigt.]
(zit. nach: Notes and Queries: A Medium of Inter-Communication for Literary Men. Bd. 16 [Juli – Dezember 1857 = series II, vol. 4] Nr. 97 vom 7.11.1857, S. 373)
Es ist verbürgt, dass der Verleger Paul Vaillant Hardouins Schüler Pierre-Joseph Thoulier d’Olivet Jahre vor der Publikation der Prolegomena in Paris besucht hat, so in den 1750er Jahren. (s. John Nichols, Literary Anecdotes, 6 Bde., London 1812, Bd. III, S. 309– 310) Möglicherweise kaufte er ihm bei dieser Gelegenheit die Handschrift ab, die der Abbé d’Olivet, vielleicht weil sie so untypisch für Hardouin war, auch nicht in die von ihm herausgegebenen Opera Varia Hardouins aufgenommen hatte, die kurz nach Hardouins Tod in Amsterdam erschienen. Vaillant selbst äußerte sich nie wirklich konkret über die Herkunft des Autographen.
Der in London lebende Privatgelehrte César de Missy, den der Drucker Bowyer als Sachverständigen konsultiert hatte, verglich den Autographen Hardouins mit der ersten Druckauflage der Prolegomena und fand nicht nur diverse Druckfehler, sondern riet auch zur Aufnahme der im Manuskript gestrichenen und handschriftlich ergänzten Stellen. Die wurden dann in der zweiten Auflage der Prolegomena auf den Seiten XI – XVIII als Additamenta eingefügt. Dass es sich offenbar wirklich um geringe Druckauflagen handelt, wird schon daraus deutlich, dass in allen erhaltenen Exemplaren der ersten Auflage die Druckfehler one by one von de Missy selbst handschriftlich korrigiert worden waren.
Das Autograph Hardouins wird damals wie heute in der British Library in London aufgebewahrt und trägt, wie man schon in den Notes & Queries nachlesen konnte, noch immer die Signatur Add(itional) MS 4803. Ein Faksimile der ersten Seite habe ich auf S. 48 meiner Prolegomena-Ausgabe abgedruckt (s. Abb. hier). Obwohl es eindeutig Hardouins Handschrift ist, die man hier sieht (das zeigt schon der Vergleich mit den von Monaldi&Sorti ins Web gestellten Autographen), scheint es sich nicht um die Erstschrift zu handeln, sondern um eine saubere Abschrift von eigener Hand. Das hat zumindest de Missy angenommen. Der Text ist auf jeden Fall einige Jahre vor Hardouins Tod verfasst worden, wahrscheinlich bereits schon 1719, musste also keineswegs die zittrige Handschrift eines Greises aufweisen, wie im obigen Zitat unterstellt.
Verschwunden war er jedenfalls nie.
Rainer Schmidt