Wie kam Platon auf die „8000 Jahre seit dem Untergang von Atlantis“?
In den beiden Schriftstücken Timaios und Kritias, in denen Platon die geheimnisvolle Insel Atlantis entwirft – das zweite Stück ist Fragment – bringt er so erstaunlich hohe Jahreszahlen, 8000 und 9000 Jahre als Abstand zwischen Atlantis und seiner eigenen Zeit, daß zur Rettung Platons viele Versuche unternommen wurden, diese Zahlen auf ein verständliches Maß herunterzuschrauben, zumal andere Elemente in dieser „durchaus wahrhaften Geschichte“ (Platon) Glaubwürdigkeit ausstrahlen (siehe hierzu Gisela Albrecht 1994, die auch Platons Staat und Gesetze in die Beurteilung mit einbezieht). Platon gibt seinem Bericht alle Merkmale echter Überlieferung, nämlich eine Kette der Überlieferer, und zwar fünf Personen von den ägyptischen Priestern bis Platon; sodann Anklänge an noch nicht lange vergangene Ereignisse – den Sieg über die Perser bei Salamis – sowie die nachvollziehbare Geographie des Mittelmeeres; ferner die Anrufung der Mutter der Musen, Göttin des Gedächtnisses, Mnemosyne, sowie auch der Athene als Herrin der Weisheit, und anderes mehr. Platon will mit seiner Dichtung einen wahren Kern darstellen, um damit die von ihm vorgebrachten Ideen zum Thema Idealstaat zu unterstützen. Platons Atlantis erweist sich als ein „Mischmodell“ (Albrecht S. 18) aus Fiktion und historischen Bruchstücken, „Teil eines philosophischen Gedankenspiels in ‚historischem Gewand‘, und die ‚versunkene Insel‘ hält die Erinnerung an eine Naturkatastrophe wach.“ (S. 21). Der Zeitrahmen Platons, 8000 Jahre „vor Solon“, gilt noch heute als Zeitpunkt für das Ende der Eiszeit, denn Geologen des 19. Jahrhunderts hatten diese Zeitgrenze übernommen und klug ‚bewiesen’. Das hat sich verfestigt.
1977 hatte ich die hohen Zahlen Platons noch benützt, die archäologisch faßbaren Details dagegen mit der Kulturstufe der Horra verbunden und damit in die frühe Metallzeit gelegt, was nach meiner jetzigen Erkenntnis keine Aussage mehr über die tatsächliche Zeitstellung erlaubt (siehe 2003).
Seit Albrechts Artikel denke ich, daß diese Chronologie völlig unzumutbar ist, denn zusammen mit Atlantis wird ja durch Platon auch ein Ur-Athen entworfen, das damit 11600 Jahre vor heute existiert hätte, was für Archäologen jenseits aller Erörterung liegt. Platon schafft hier „fast neun dunkle Jahrtausende“ (Albrecht S. 9). Solche Zahlenpakete – als Tausender – haben nur Modellcharakter, ein realistisches geschichtliches Zeitmaß war den Griechen unbekannt.
Einer der häufigsten Vorschläge zur Begrenzung des ‚unmöglichen‘ Zeitabstandes klingt simpel: es seien Monate statt Jahre gemeint. Das wird seit der Renaissance allen Ernstes von Gelehrten vorgebracht, obgleich Platon im selben Timaios (39 c) klar sagt, daß Monate durch den Mondumlauf und Jahre durch den Sonnenumlauf angezeigt werden. So dumm darf man dem Philosophen doch nicht nahetreten. Außerdem kommt bei Manetho, der die häufigst benützte und für vertrauenswürdig gehaltene Quelle für die ägyptische Chronologie abgibt, auch diese hohe Jahreszahl vor: Der ägyptisch-phönikische Obergott Ptah regierte 9000 Jahre. Eine Querverbindung zwischen den beiden Autoren ist vorstellbar.
Könnte die häufig angewandte präzessionale Methode der Altersfestlegung verständlich machen, wie es zu diesen hohen Zahlen kam?
An der Stelle im Timaios (22 b), wo der ägyptische Priester zu Solon sagt – als Solon gerade ziemlich stümperhaft eine den Griechen ansonsten unbekannte Chronologie des frühgeschichtlichen Griechenland aufstellen will – „Ach Solon, Solon! Ihr Hellenen bleibt doch immer Kinder, … Viele und mannigfache Vernichtungen der Menschen haben stattgefunden … durch die veränderte Bewegung der die Erde umkreisenden Himmelskörper und die Vernichtung von Allem, was auf der Erde befindlich ist“ und dann mit diesen Zahlen aufwartet, 9000 und 8000 Jahre, weil diese in den heiligen Schriften auf Tempelsäulen erhalten seien, gewann ich den Eindruck, daß Platon hier auf keine direkte Überlieferung zurückgreift, weil niemand, auch keine Inschrift, über so weit zurückliegende Ereignisse vertrauenswürdige Jahresabstände angeben kann, sondern daß er guten Glaubens eine Berechnung übernimmt. Diese lief nicht über die Aufstellung von Generationenregistern (wie im Alten Testament) sondern wohl nach dem bekannten Muster der Präzessionsverschiebung des Frühlingspunktes, und dadurch ergaben sich die unwahrscheinlich hohen Jahreszahlen.
Mit dieser Methode arbeiteten alle ersten Chronologen des Abendlandes, Scaliger und Kalwitz und Petavius und auch Isaac Newton. Ich wende nun ihre Methode auf Platons Atlantisbericht an.
Dies ist die Annahme: Der Untergang der Insel Atlantis liegt vor der geschichtlich erfaßten Zeit, der Zeitabstand ist unbekannt, er kann auch nicht durch Generationenzählung oder sonstige Überlieferungswege ermittelt, er kann höchstens berechnet werden. Das bedeutet, die nun folgende Berechnung ist mathematisch erfolgt und darum zweifelsfrei.
Behauptung: Da die atlantische Katastrophe die dritte vor der Deukalischen Verheerung war, was Platon ausdrücklich sagt (Kritias 112 a), liegen zwischen Atlantis und Platon drei Unterbrechungen innerhalb längerer stabiler Zeitphasen, die insgesamt 8000 Jahre ausmachen.
Die Berechnung, aus der diese 8000 Jahre hervorgingen, könnte über zwei unabhängig voneinander erschlossene Anhaltspunkte erfolgt sein.
Aus Überlieferungen, die auf verschiedenen Wegen erhalten blieben, weiß der Berechner, daß zu einem frühen Zeitpunkt der Stern Aldebaran im Stier den Frühlingspunkt markierte und der Stern Antares im Skorpion den Herbstpunkt. Die zweite Annahme ist nun: Dies gehört zu dem Zeitpunkt, an dem Atlantis unterging.
Der Stern Aldebaran liegt vom griechischen Frühlingspunkt (Aries 0°) rund 40° entfernt.
Im 2. Kapitel habe ich den Zeitpunkt Aldebaran = Frühlingspunkt in die Megalithzeit gelegt. Von da bis zur Antike gab es, wie von mir beschrieben, drei Verschiebungen des Frühlingspunktes: erst 15° zu den Horra, dann 10° zu den Babyloniern und dann noch einmal 15° zu den Griechen, zusammen 40°. Die drei Verschiebungen könnten als Platons „drei Verheerungen“ aufgefaßt werden.
Platon hatte keine Kenntnis von den präzessionalen Auswirkungen der Unterbrechungen, er verwendete eine durchschnittliche Präzessionsrate für den gesamten Zeitraum und kannte nur den Abstand bezüglich der Stellung des Frühlingspunktes: 40°.
Folgt Annahme Nr. 3: Die Präzessionsrate, die der Priester oder Solon oder Platon für jene frühe Zeit annimmt – sie muß nicht stimmen, sie muß nur behauptet worden sein – liegt bei 200 Jahren pro ein Grad. Das wäre für ein tropisches Jahr eine Geringfügigkeit von etwa 2 Minuten mehr als das kallippische Mittelmaß des alten Kalenders, 365,25 Tage, so daß der Abstand zu dem als Fixpunkt angenommenen siderischen Jahr nur 7 Minuten beträgt. Dieser Wert klingt nicht unwahrscheinlich. Bei Battani steht sogar als „babylonischer“ Wert 261 Jahre pro 1° (Ragep S. 290).
Nun geht das Rechnen los und ist ganz einfach: Für die 40° Abstand ergeben sich bei 200 Jahren pro 1° glatt 8000 Jahre.
Der Priester gibt als Vorlauf den Atlantern ein Jahrtausend mehr, denn sie sind ja nicht untergegangen, als sie ihren Staat gründeten, sondern in ihrer Degenerationsphase, wie er sagt. Die Gründung von Atlantis liegt dann 9000 Jahre vor Solon.
Die Rate von 200 könnte ein runder Wert für die kallippische Jahreslänge sein. Da Platon die Sprünge als verkürzenden Zeitfaktor nicht einbezog, sondern an eine fortlaufend gleichförmige Präzession glaubte, – wie Scaliger, Newton und viele ihrer Zeitgenossen, weshalb von ihnen dafür der Begriff ‚Platonisches Jahr’ geprägt wurde – kam er am Ende zu diesem hohen Ergebnis von 8000 Jahren.
Damit ist Platons Denkmodell gezeigt, ein Anspruch auf eine historische Tatsache ist von mir nicht beabsichtigt. Aus der vergeblichen Suche nach einem realen Atlantis ergibt sich eine weitere Frage: Welchen Wert dürfen wir Überlieferungen zumessen ?
Dies ist ein Ausschnitt aus dem Buch “Das Jahrkreuz” (2016, Teil 3, S. 166-169).