Unsere Quellen der Geschichtsschreibung
Die frühesten Quellen, die unserer Geschichtsschreibung zugrundelagen, waren sogenannte Heilige Bücher wie z. B. Ilias, Mahabharata, Avesta oder Altes Testament, und das Neue Testament ebenso (siehe Detering, “Falsche Zeugen”). Hin und wieder fanden sich in diesen Schriften Angaben über Ereignisse, die durch andere Quellen – etwa archäologischer Art – bestätigt wurden, wobei jedoch nicht klar ist, wieweit diese (manchmal nur vermutete) Übereinstimmung zufällig oder gegenseitig bedingt zustande kam. Gegenseitig bedingt wäre etwa folgender Vorgang: Eine in einem heiligen Text vermerkte Schlacht wird nachträglich mit einem Denkmal bekräftigt, das eine entsprechende Inschrift trägt. Oder umgekehrt: ein Bauwerk, dessen Zweck und Alter unbekannt ist, wird durch eine spätere Legende gedeutet und zeitlich verankert. Statt eines Denkmals könnte auch eine Münze oder ein Vertragsdokument diesen Zweck erfüllen.
Sowohl die zufällige als auch die herbeigeführte Übereinstimmung ist für eine realistische Erstellung wie auch Prüfung der Geschichtsschreibung unbrauchbar.
Warum erwähne ich solche Banalitäten? Weil diese Vorgehensweise, Geschichte zu schreiben, bis heute noch allgemein üblich war. Das Vertrauen in ein Heiliges Buch, seine Verwertung als historische Quelle, mag religiöse Wirksamkeit haben, es hat keine historische Bedeutung; auch dann nicht, wenn die im Buch enthaltene Beschreibung eines Ereignisses wahrscheinlich oder widerspruchslos anmuten mag. Wenn uns das heute selbstverständlich vorkommt, müssen wir uns doch darüber Rechenschaft geben, daß eine solche Vorgehensweise (wie die Aufstellung eines chronologischen Gerüstes auf der Grundlage heiliger Texte) bis vor wenigen Generationen noch unkritisch hingenommen wurde. Der unbedingte Glaube an die Wahrheit der Heiligen Bücher war für Historiker nicht nur selbstverständlich, sondern auch vorgeschrieben durch die jeweiligen machtausübenden religiösen Herrscher, zuweilen unter Androhung und Ausübung der Todesstrafe. Die auf diese Weise geschaffene Geschichtsschreibung, die nach heutiger Ansicht nicht als solche bezeichnet werden kann – es handelt sich um Legenden, Sagen, Märchen, Fälschungen und andere literarische Gattungen – ist zur Historie geworden und nicht mehr daraus zu lösen.
Damit werden keineswegs die “heiligen” Texte entwertet, es wird nur klargestellt, daß sie für die Geschichtsschreibung unbrauchbar sind. Das betrifft an erster Stelle die Datierungsfrage, also die Überlegung, wie alt ein Dokument oder Bauwerk ist, wann wer regierte, oder wieviele Generationen vergangen sein mögen, seit ein überliefertes Ereignis stattfand. Denn gerade diese Daten sind aus den heiligen Büchern nicht wegzudenken und füllen unsere Geschichtsschreibung mit unkontrollierten und widersprüchlichen Angaben.
Das ist ein nicht hinzunehmender Vorgang.
Bei Isaac Newtons Spätwerk leuchtet uns das eben festgestellte sofort ein. Die Mythenfigur Cheiron, Erzieher der Dioskuren, gilt ihm als Astronom, und seine zeitliche Einordnung als gesichert. Außer den griechische Sagen benützte Newton das Alte Testament als wahrhaftige Geschichtsquelle, besonders auch für Datierungen, indem er Generationen mit fester Länge annahm und daraus Zeitabstände konstruierte (ausführlich Topper, Jahrkreuz 2016, S. 217). Ein solcher Rückgriff auf Sagenmaterial kann nicht zu einer realistischen Geschichtsdarstellung führen.
Um es noch einmal klarzustellen: Es wird eine eigenartige Methode sichtbar, die keineswegs selbstverständlich ist, dennoch vielseitig angewandt wurde: Eine Aussage eines Heiligen Buches wird in die Realhistorie verlegt und damit der Inhalt der Geschichtsschreibung geformt. Heutige Historiker, die ein solches Verfahren absurd finden und ablehnen, sind sich allerdings selten bewußt, daß in der Vergangenheit die überwiegende Anzahl aller Aussagen in der Geschichtsschreibung in dieser Weise vorgenommen wurden. In der Aufklärung dieses Tatbestandes liegt das große Verdienst der neuen chronologiekritischen Arbeit, siehe Heinsohn (Sumerer 1988): Auf die Abraham-Chronologie des Alten Testaments gestützt, wurden archäologische Schichten datiert, ohne jegliche realistische Möglichkeit zur Prüfung, und diese damit als “Leitfossilien” zum Maßstab für andere alte Schichten und ganze Kulturen benützt.
Tatsächlich hat die Benützung der Heiligen Bücher als Geschichtsquellen zur Herstellung ganzer chronologischer Systeme geführt. Die Freiheit – eigentlich Frechheit – mit der die Quellen seinerzeit erfunden oder verändert wurden, hatte zwei Gründe: Es waren nach der Katastrophe, die die gesamte Zivilisation getroffen hatte, keine echten Quellen mehr vorhanden oder lesbar; so konnte auch niemand mit handfesten Gegenbeweisen dagegen angehen. Und es bestand die Notwendigkeit, die riesige Leerstelle aufzufüllen, wobei alle nach Kräften mithalfen. Es wurden auch Zeitstrahlmuster planmäßig aufgebaut, kirchlicherseits durch die Computisten (siehe Topper 2006)
Im Gegensatz dazu gründet die neue Geschichtsschreibung auf archäologische Arbeit (Evidenzmethode), wie sie Gunnar Heinsohn anwandte. Die meisten ausgegrabenen Städte der Frühgeschichte lassen erkennen, daß immer wieder Zerstörungen stattfanden, die nicht auf menschliches Tun zurückgingen. Die Schuttschichten mit anschließendem Neuaufbau darauf ließen schließen, daß hier nicht die Folgen von Kriegen sondern von weltweiten Katastrophen vorliegen, die in dieser Art nur kosmischen Ursprungs sein können. Nicht alle Zivilisationsformen wurden nach einer solchen totalen Zerstörung wiederbelebt, zuweilen wurden Städte nicht mehr aufgebaut, herkömmliche Techniken und Kunstformen vergessen. Lücken in der Überlieferung sind häufig. Ich erinnere nur an so unverständliche Vorgänge wie das Auslöschen der Kenntnis der Keilschrift, der Hieroglyphen, der Industalschrift oder der Iberischen Runeninschriften : Sie mußten nach einer unklaren Zwischenzeit völlig neu entziffert werden (siehe Topper, das große Vergessen).
Allerdings sind auch die aus der Stratigraphie gewonnenen Einblicke hinsichtlich der Länge der jeweilig abgedeckten Zeiträume dermaßen unsicher, sobald sie weiter als etwa 700 Jahre zurückreichen, daß von einer daraus abgeleiteten Chronologie im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden kann. Selbst hinsichtlich dem Vor- und Nachher bestehen zuweilen Unsicherheiten (es gibt “Antiquitäten”, “Streufunde”, Erdbeben …).
So bleibt uns nur der Versuch, von diesem Grenzwert (“1350”) ausgehend die in den darauf folgenden Jahrhunderten (“14.-16” Jh.) erfolgte Neuschreibung der Geschichte aufzuhellen und daraus zu erschließen, wie diese Neuschöpfungen vor sich gingen. Nur einige hartnäckig überlieferte Symbole und Schemata (wie z.B. das Kalenderwesen oder astronomische Merkbilder) können bei der Suche nach der älteren Geschichte behiflich sein.
Wolfram Zarnack bespricht Kammeiers umwerfende Erkenntnisse, denen zufolge “uns statt historischer Wahrheit eine katholische Heilsgeschichte vorgegaukelt (wird), auf die bedauerlicherweise alle hereingefallen sind, auch die schärfsten Gegner der Römischen Kirche.”
Ergebnis: das Historiker-Schiff ist nicht mehr zu retten. Kammeiers Entdeckung beruht auf den bekannten Ergebnissen des 19. und 20. Jhs. in Diplomatik, Münzkunde und Historiographie. Er schafft damit keine neue Situation, sondern zieht die Folgerung aus der bekannten Tatsache, daß viele Chroniken, Verträge und religiöse Schriften ohne realen Hintergrgund ausgedacht sind; eine Folgerung, die längst hätte gezogen werden müssen. Systemblindheit? fragt Zarnack.
Am Beispiel Rom kann er das zeigen: Rom war bis 1400 AD nur ein Trümmerhaufen, sagt Zarnack (1999, ab S. 379). Rom war lange Zeit ein Ruinenhaufen, ohne Einfluß auf seine Zeit und ohne Kirchenbautätigkeit. Die wenigen Ausnahmen, die sich allerdings recht gut als neuzeitliche Gebäude einordnen lassen, bestätigen den gesamten Befund: “Rom hat de facto kein gotisches Bauwerk, und auch Romanik ist in Rom sehr dünn gesät.” Wenn es dort aber weder größere romanische noch gotische Kirchen gibt, dann scheidet die Stadt als Kultzentrum und Papstsitz für jene Zeit aus.
Es scheint mir unwahrscheinlich, daß wir Chronologieforscher noch in absehbarer Zeit (ein bis zwei Generationen) eine reale und vertrauenswürdige Chronologie der historischen Abläufe, die mehr als 650 Jahre zurückliegen, aufstellen können. Die bereits vorgebrachten Ansätze sind zu verschieden und allesamt unbeweisbar.
Um nicht weiterhin im chaotischen Freiraum der Geschichtsschreibung herumzuirren, habe ich einige Grenzen abgesteckt, die Haltepunkte bieten sollen, wobei ich mich weitgehend auf astronomische Beobachtungen und Messungen verlassen habe.
Imaginär war das System Hardouin: Bevor er alle Barrieren zerbrach, schuf sich Jean Hardouin eine Urform des Christentums, eine gedachte Urkirche, die als Wahrheit festgelegt habe, was zu glauben sei. Ein solcher Notanker im selben Sinne war die Konstruktion von Isaac Newton, der die Bibel als unbezweifelbare Wahrheit, von Gott selbst gegeben, begriff. Beides wird heute als unwissenschaftlich, ja wertlos für Datierungen eingestuft, ohne daß dabei zur Sprache käme, daß die gängige Geschichtsschreibung ganz entsprechende Grundlagen hat und keineswegs realistischer ist.
So auch die AD-Jahreszählung: Ein gewisser nicht näher bekannter Mönch, Dionysius Exiguus, benützt einen Osterzyklus und definiert mit Hilfe der Mondphasen ein Jahr 1 (= Geburtsjahr Jesu Christi), eine rein mathematische Manipulation ohne Bezug zu einer Realität, mit der Forderung, sein Abstand zum gedachten Ereignis (Geburt oder Passion Christi) müsse in Zyklen von 532 Jahren plaziert werden, damit die Mondstellung dazu paßt. Die Zusammenfügung mit anderen Zeitrechnungen (Diokletian, Consuln, Ab urbe condita …) war rein fiktiv.
Schließlich bedarf auch unsere chronologische Neuordnung gewisser Krücken als Stütze: Heinsohn braucht die Archäologenarbeit und Topper die Astronomie. Beides erscheint uns heute als solide, wird jedoch kaum die Zeit überdauern.
Zu Heinsohns Methode noch ein Wort: Er müßte verstanden haben (ich habe darauf hingewiesen), daß seine Konstruktion auf den künstlichen Zahlenstrahl aufgebaut ist, solange er eine Lücke von “700 Jahren” und einen Zeitpunkt (930 AD) postuliert. Bei unserer Kritik an der Chronologie wurde von Anfang an erkennbar, daß es keine Ersatzteile in der konstruierten Jahreszählung geben kann. Wenn 700 Jahre fehlen, dann ist das ganze Zahlengerüst unbrauchbar. Wenn Sagen diese Lücke gefüllt hatten, müssen sie allesamt erfunden sein, was ihre Zeitangaben betrifft.
Mit einer Lücke kann man nicht rechnen. Die ausgedachte AD-Zeitrechnung kann keine echte Lücke haben, denn sie ist ohne Rücksichtnahme auf hypothetische abgelaufene Zeit geschaffen worden. Es gibt jedoch verschiedene Entwicklungsstufen dieser Zeitstrahlschöpfungen, die hier und da sichtbar werden durch ihre Unvollkommenheit: etwa durch die Illigsche “Lücke” von 297 Jahren, oder die Heinsohnsche mit 700 Jahren.
Meine eigene Methode besagt: Wenn vor rund 650 Jahren eine Katastrophe stattfand, die den Zusammenhang mit der davorliegenden Zeit zerriß, dann sind alle schriftlichen Überlieferungen “vor 1350 AD” fragwürdig, zumindest was ihre zeitliche Einordnung betrifft, und das bedeutet: auch die astronomischen Texte der Griechen und Araber müssen danach geschrieben sein, wenn sie benützbar sein sollen. Die Dokumente zwischen 1350 und 1519 enthalten keine vertrauenswürdige Jahreszählung, oder eine solche (wie die in Italien), deren Anschluß an AD nicht geklappt hat.
In meinem Buch “Jahrkreuz” (2016) stellte ich schon klar, daß die von mir für die geahnten Präzessionssprünge verwendeten Zeitabstände ein Versuch auf schwachen Stützen ist, ein wohlgemeinter Ansatz, dessen Ergebnis ins Gebiet der visionären Forschung gehört, ein unsicherer Entwurf, das Dunkel aufzuhellen, solange keine besseren Hilfsmittel gefunden werden.
Einzelaussagen betreff der Chronologie vor 1350 AD haben sich als falsch erwiesen, die Erkenntnis, daß die vertraute Geschichtsschreibung vor 1500 AD höchst fragwürdig ist, wird übrigbleiben. Dabei geht es nicht um 300 oder 700 überschüssige Jahre sondern um die neue Sicht auf den Entstehungsvorgang der vertrauten Chronologie.
Die Entwürfe von Illig und Heinsohn sind also vom Ansatz her falsch, jedoch nicht wertlos, sondern haben im Gegenteil erstaunliche Durchschlagkraft entwickelt. Auf der Grundlage strenger Prüfung archäologischer Daten hatte Illig eine Lücke zwischen 614 und 911 AD entdeckt und damit einen Anstoß gegeben, der das gesamte Mittelalter in Unordnung brachte. Allein schon die Möglichkeit zu einem derartigen Umbruch war schwindelerregend und veränderte den Blick auf die Geschichte grundsätzlich in einer Weise, wie niemand es sich hatte träumen lassen. Auch als Illigs These als unhaltbar erwiesen wurde (z.B. durch Ulrich Voigt), blieb die Erschütterung bestehen; die AD-Zählung vor der Renaissance war zerbrochen. Für ferne Geschichtsdaten wie die der Pharaonen oder der Hethiter, hielt man gewisse Verschiebungen für möglich, für unser Mittelalter schien das unmöglich. Diesen Durchbruch erzielte erst Illig. Wenn auch seine Ergebnisse sich als irrig erwiesen, der heilsame Schock blieb.
Denn das ist das Ergebnis:
Es gibt keine vollständige Aufzeichnung des Geschichtsablaufs, der mehr als etwa fünf bis sechshundert Jahre zurückreicht, nur punktweise Erinnerungen, die hintereinander gereiht wurden durch Historiker, ohne daß ihnen ein faktenbezogener Leitfaden vorgelegen hätte. Die unterschiedlichsten Ergebnisse dieser Historikerarbeit sind jedoch mit ideellem Vorsatz angeordnet und oft in zahlenmystischer Absicht (“Computisten”) festgemacht. Das daraus entstehende Geschichtsbild wurde je nach Ideologie zum Lehrstoff erhoben und dadurch zementiert. Dieser Arbeitsgang ist nur teilweise noch erkennbar und nicht mehr ungeschehen zu machen. Die nachträglich versuchte Rekonstruktion einer tatsächlich abgelaufenen Geschichte mit jahrgenauen Angaben vor etwa 1500 AD ist unmöglich. 1519 beginnt die Benützung einer AD-Jahrzählung auf Dokumenten. Die chronologische Arbeit des 16. Jh.s ist der früheste Zeitpunkt, der noch erfaßbar ist. Die Wiedergewinnung der zeitlichen Anordnung von Geschehnissen vor dem 14. Jh. ist durch die Katastrophe von “1350” vernichtet.
Dieser Entstehungsvorgang (oder genauer: die Chronologie-Schöpfung) ist nie vollständig durchdacht oder beschrieben worden. Hier harrt eine Riesenarbeit, die überraschende Einsichten zutage fördern wird. An einzelnen Beispielen konnte das schon gezeigt werden. Ich verweise nur auf Abt Trittenheims Fabuliererei oder Nostradamus’ ernsthafte Bemühung, die heute keine Beachtung mehr verdienen. In meinen Beiträgen und Büchern, etwa “Die Große Aktion” (beispielhaft S. 126 is 132) (als PDF im Archiv), werden punktuelle Einblicke ermöglicht.
Literatur
Hardouin, Jean (London 1766): Ad censuram scriptorum veterum Prolegomena (Prolegomena zu einer Kritik der antiken Schriften), übers. v. Rainer Schmidt 2021 (BoD)
Heinsohn, Gunnar (1988): Die Sumerer gab es nicht (Eichborn)
Illig, Heribert (1994): Hat Karl der Große je gelebt?
Kammeier, Wilhelm (1935): Die Fälschung der deutschen Geschichte (Leipzig; Nachdr.1980 Wobbenbüll; 11. Aufl. Viöl 1999) –
(1936-39): Die Wahrheit über die Geschichte des Mittelalters (Leipzig; Faksimile-Nachdr. Wobbenbüll 1979; 3. verb. Aufl. Viöl 2003)
1956, postum 1981-82: Die Fälschung der Geschichte des Urchristentums (2. Aufl. Viöl 2001)
Marx, Christoph (1996): Der bislang letzte “große Ruck” (Artikel in VFG 3/96)
Topper, Uwe (2016): Das Jahrkreuz (Hohenrain, Tübingen)
Zu den Daten, die planmäßig aufgebaut wurden, siehe meinen Beitrag “Computisten”
Zarnack, Wolfram (2000): 300 Jahre europäischer Geschichte erfunden? In: W. Kammeier, Die Fälschung der deutschen Geschichte. 11. Aufl., S. 347-434.