Nüchterne Erwägungen zur babylonischen Astronomie

Otto Neugebauer schrieb 1950: „Seitdem es Epping und Kugler gelungen war, die (Keilschrifttafeln der) Mond- und Planetenberechnungen der seleukidischen Periode zu entziffern, ist es jedermann klar geworden, der sich ernsthaft mit diesen Texten beschäftigt hat, daß sie auf einer außergewöhnlich kleinen Anzahl von Beobachtungen beruhen, da die Mehrzahl von ihnen in der Aufstellung von Beziehungen zwischen Perioden beruht. Diese Beziehungen erfordern keine große Genauigkeit von einzelnen Beobachtungen sondern nur das Abzählen größerer Veränderungen. … Kuglers Entdeckungen haben gezeigt, wie solche einfachen Dinge in genialer Weise benützt wurden zur Entwicklung der mathematischen Methoden für die Vorhersage von Mond- oder Planetenbewegungen. Es erscheint mir als eine der bewundernswertesten Eigenschaften der antiken Astronomie, daß alle Anstrengungen sich darauf konzentrierten, den Einfluß der Ungenauigkeiten, die aus den Beobachtungen mit groben Instrumenten entstanden, auf ein Mindestmaß zu reduzieren, indem bis zu einer äußersten möglichen Grenze alle mathematischen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, mit sehr wenigen Grundangaben zu arbeiten.“
„Daher ist es augenscheinlich, daß nicht ein einziges dieser Daten beobachtet ist, und daß ein eventueller Fehler von mindestens zwei Tagen als unerheblich betrachtet wurde. Es ist ebenfalls klar, daß es reiner Zufall ist, wenn gerade die Herbstäquinoktie mit modernen Rückberechnungen übereinstimmt. … Wieder einmal ist augenscheinlich, daß ein Vergleich mit modernen Berechnungen gar keinen Wert hat, wenn man nicht genau weiß, wie die alten Ergebnisse erzielt wurden.“
„Und es ist offensichtlich, daß alle Versuche, die behaupteten ‚Beobachtungen‘ mit modernen Berechnungen zusammenzuführen, bedeutungslos sind, da sie nur die den alten mathematischen Methoden innewohnenden Ungenauigkeiten wiederspiegeln, ohne irgendetwas über tatsächliche Beobachtungen zu enthüllen.“
Und S. 7 faßt er zusammen: „So bleibt nichts übrig als Datierung auf rein historischer Evidenz, d.h. von den Daten, die in den Texten enthalten sind. Im Augenblick ist es jedermann erlaubt zu raten, ob es bezeichnend ist oder rein zufällig, daß wir keine Texte aus der Zeit vor 300 v.Chr. haben im Gegensatz zu der ziemlich vollständigen Abdeckung für die nächsten zweieinhalb Jahrhunderte.“ Gegen „300 v.Chr.“ beginnt herkömmlich die Zeit der Griechen in Mesopotamien.
Neugebauers Vorschlag kennzeichnet die Methode der babylonischen Astronomie. Es handelt sich bei den seit einem Jahrhundert ausgegrabenen und untersuchten Tontafeln um berechnete Tabellen für einen ungenannten Zeitraum. Wann und wo jemand wirklich etwas davon gesehen hat, bleibt völlig ungewiß. Es könnten auch Rechenexempel für Schüler sein oder Tafeln, wie man sie auch später oft aufstellte, die den Astrologen die Arbeit erleichtern sollten, so daß sich für die Erstellung eines Horoskops ein Blick zum Himmel erübrigte.
Dabei ist noch weithin ungeklärt, wie die Weitergabe des babylonischen (richtig: chaldäischen) Wissens an die Griechen und weiter an die Araber und modernen Europäer vor sich gegangen sein mag. Zwischen den allzu begeisterten Nachfolgern von F. X. Kugler, die Babylon als die Urheimat alles Wissens, besonders des astronomischen, ansahen, und deren Kritikern, wie David Dicks, die auf die Problematik der Übergabe der doch recht eingeschränkten Kenntnisse der Chaldäer an die Griechen erinnerten, ist eine große Bandbreite von Meinungen vertreten worden, wobei der Streit bis heute nicht entschieden wurde, wenngleich die chaldäischen Astronomen, Astrologen und Kalenderüberwacher allgemein im Ruf stehen, Lehrmeister der Griechen gewesen zu sein. Dicks weist in einem kurzen, streitbaren aber nötigen Aufsatz (1994) darauf hin, daß die Griechen selbst, vornehmlich Ptolemäus im Almagest, die Übernahme chaldäischer Daten nur punktweise erwähnten. Es gibt nur etwa 20 Nennungen der Chaldäer im gesamten Almagest, vor allem Daten von Mondfinsternissen, die bis ins Jahr 771 v.Ztr. zurückreichen, was angesichts der schwierigen Übertragung und Bewahrung der Daten an sich schon fragwürdig ist. Ferner gibt es Angaben über einige Planetenaufgänge, etwa für Merkur 245 v.Ztr. und 237 v.Ztr., und für Saturn 229 v.Ztr., die alle drei in der Zeit der Ptolemäerherrschaft in Ägypten liegen, was insgesamt recht mager anmutet, weshalb die Frage bleibt, ob Hipparch Keilschrift lesen konnte oder gar eine Reise nach Babylon unternommen hatte, was als unwahrscheinlich gilt. Unsicher ist auch, wie denn die Griechen vor dem romanhaften Feldzug Alexanders in Berührung mit der babylonisch-persischen Kultur gekommen sein könnten, denn auf anderen Gebieten fehlen dergleichen Kontakthinweise. Praktisch muß man sich die Arbeit des Eudoxos und seiner Nachfolger an Hand eines Globus vorstellen, wie auch Hipparch und Ptolemäus die Abstandmessungen von Sterndeklinationen und Ekliptikwerten wahrscheinlich an einem Globus vornahmen. Ohne solche Hilfsmittel wäre ihnen eine Präzession nicht vorstellbar gewesen. Erhalten geblieben sind Globen weder von Griechen noch Chaldäern.

Neugebauer, Otto (1950): “The Alleged Babylonian Discovery of the Precession of the Equinoxes,“ in: Journal of the American Oriental Society, Vol. 70, No. 1. (Jan. – Mar., 1950, S. 1-8.) – (Zitate von mir übersetzt)

Soweit ein kurzer Ausschnitt aus „Das Jahrkreuz“ (2016, Teil 4, S. 219-221)

 

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert