Die grandiose Dummheit von Fomenkos Neuer Chronologie

Der folgende Artikel erschien am 3. April 2021 im englischsprachigen Blog Goldwag’s Journal on Civilization. Mit Nathans freundlicher Genehmigung veröffentlichen wir hier eine leicht gekürzte deutsche Übersetzung.

Pseudohistorie hat mich schon immer gestört. Schließlich ist die Geschichte selbst normalerweise seltsamer und wilder als alles, was man sich vorstellen kann. Und die Suche nach der Geschichte der kollektiven Vergangenheit der Menschheit ist an sich schon eine uralte und lohnende Beschäftigung, zu der jede Generation nacheinander ihren Beitrag leistet. Warum Dinge erfinden? Ich habe unzählige Stunden damit verbracht, mit Leuten zu diskutieren, die glauben, dass Atlantis existierte (nein, das stimmte wirklich nicht, Platon hat sich das Ganze ausgedacht) oder dass die Phönizier die Neue Welt kolonisierten (nicht unmöglich, aber es gibt keine Beweise). Mythen und Lügen über die Geschichte sind weit verbreitet und werden oft von Leuten verbreitet, die es eigentlich besser wissen müssten. Jeder, der sich in diesem Bereich auskennt, sollte falschen Vorstellungen entgegentreten, ganz gleich, ob es sich um Verschwörungstheorien, nationalistische Mythen, Missverständnisse oder glatte Lügen handelt. Doch ich muss zugeben, es gibt eine pseudohistorische Theorie, für die ich eine Schwäche habe: Die Neue Chronologie von Anatolij Fomenko.

The New Chronology“ geht auf das Jahr 1981 zurück, als Fomenko mit der Veröffentlichung seiner späteren Mammutserie History: Science or Fiction? begann. Fomenko war ein Mathematiker, der 1996 den Staatspreis der Russischen Föderation für Mathematik gewann und Leiter der Abteilung für Differentialgeometrie an der Moskauer Staatlichen Universität wurde, wo er noch heute lehrt. Er hatte keinen geschichtswissenschaftliche Ausbildung, interessierte sich jedoch für die Schriften von Nikolai Alexandrowitsch Morosow, einem russischen Revolutionär und Physiker, der anhand astronomischer Analysen zu dem Schluss gekommen war, dass ein Großteil unseres traditionellen Verständnisses der historischen Chronologie falsch sei. Fomenko übernahm diese Theorie, baute darauf auf und enthüllte schließlich seine verblüffende Schlussfolgerung: Die gesamte aufgezeichnete Menschheitsgeschichte reicht nur bis ins Jahr 800 n. Chr. zurück. Und praktisch alles, was wir darüber wissen, ist eine Lüge.

Was genau die Neue Chronologie ist, ist aus einer Reihe von Gründen erstaunlich schwer zu erklären. Erstens hat Fomenko in den letzten vierzig Jahren immer wieder über dieses Thema geschrieben. Zweitens ist ein Großteil dieser Schriften nur auf Russisch verfügbar. Drittens sind die Texte, die auf Englisch vorliegen, meist unverständlich gekürzt und schlecht übersetzt. Und schließlich kommt man sich bei der Theorie sehr dumm vor, wenn man sie öffentlich äußert. Aber ich werde es trotzdem versuchen.

Anatoly T. Fomenko

Im Wesentlichen glaubt Fomenko, dass die gesamte überlieferte Geschichte seit 800 n. Chr. stattgefunden hat, wobei der überwiegende Teil seit 1000 n. Chr. geschah. Fomenko und seine Anhänger behaupten, dass der Grund dafür, dass unsere traditionelle Chronologie zu lang ist, darin liegt, dass spätere Historiker entweder versehentlich oder vorsätzlich so genannte »Phantomkopien« von Ereignissen und Herrschern anfertigten, die sie immer wieder unter anderen Namen wiederholten. Er glaubt beispielsweise, dass die Peloponnesischen Kriege nur eine frühere Wiederholung des Konflikts zwischen der Navarresischen Kompanie und den Herzogtümern Athen und Neopatras im 14. Jahrhundert sind. Unsere gesamte traditionelle Geschichte besteht aus Fehlern wie diesem: Dieselben Ereignisse wiederholen sich mehrmals unter verschiedenen Namen.

Einige andere Beispiele hierfür: Der Tempel Salomos ist nur die Hagia Sofia und Salomo war Sultan Suleiman der Prächtige. Jesus Christus war der byzantinische Kaiser Andronikos I. Komnenos, der 1152 n. Chr. auf der Krim geboren und in Konstantinopel gekreuzigt wurde. Die Persönlichkeiten von Papst Gregor VII., Elischa, Kaiser Jingzong und vielen anderen verdanken ihm ihre Existenz. Der Trojanische Krieg war dasselbe wie die Kreuzzüge, die als Rache für die Kreuzigung geführt wurden. Das antike Rom existierte tatsächlich in Ägypten und hatte seine Hauptstadt in Alexandria, das kaiserliche Rom war Konstantinopel und das Rom in Italien wurde 1380 n. Chr. von Aeneas gegründet. Die meisten Ereignisse im Alten Testament sind lediglich Deutungen historischer Ereignisse aus den Jahren 1300-1400, die von späteren Gelehrten zu früh angesetzt wurden. Noah ist identisch mit Christoph Kolumbus, Jeanne d’Arc ist Deborah, die israelitische Eroberung Kanaans ist nur die Eroberung des Nahen Ostens durch die russisch-türkische Horde (haha, dazu kommen wir noch).

An einer Stelle »beweist« er auch, dass es keine Bronzezeit gegeben haben kann, weil Bronze schwieriger herzustellen ist als Zinn und daher nicht zuerst entdeckt werden konnte. Klar, warum nicht.

Sie werden sich jetzt wahrscheinlich fragen, wie Fomenko das alles herausgefunden hat. Die Antwort lautet … statistische Korrelation! Fomenko hat keinerlei geschichtswissenschaftlichen Background und ist ohnehin der Meinung, dass die meisten historischen Quellen gefälscht sind. Deshalb hat er seine mathematischen Kenntnisse genutzt, um zu versuchen, verschiedene Dinge in der Geschichte mit verschiedenen anderen Dingen in Zusammenhang zu bringen. Er behauptet, dass der Stern von Bethlehem die von chinesischen Astronomen um 1150 n. Chr. [tatsächlich sogar bereits 1054 n. Chr. – RS] entdeckte Supernova gewesen sein muss, die den Krebsnebel erzeugt hat. Er verbrachte viel Zeit damit, zu beweisen, dass die Sternenpositionen, die im Almagest des Claudius Ptolemäus (ca. 100-170 n. Chr. geschrieben) aufgezeichnet sind, tatsächlich die stellaren Positionen von 600-1300 n. Chr. darstellen. Das Gleiche hat er mit ägyptischen Horoskopen aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. gemacht. Im Gegensatz dazu behauptet er, dass alte chinesische oder babylonische astronomische Beobachtungen für die Datierung unbrauchbar oder falsch sind.

Abgesehen von astronomischen Daten korreliert er am liebsten Herrscherlisten. Soweit ich das beurteilen kann, besteht daraus tatsächlich der größte Teil dessen, was die Neue Chronologie wirklich ist. Fomenko nimmt eine Liste von Königen aus einem Land, vergleicht sie mit einer Liste aus einem anderen und „beweist“ durch das Aufzeigen von Ähnlichkeiten, dass es sich tatsächlich um dieselbe Liste handelt. So hat er beispielsweise „bewiesen“, dass die biblischen Könige Israels lediglich die späteren weströmischen Kaiser waren. Und er hat behauptet, dass die angelsächsischen Könige von England nur andere Namen für die byzantinischen Kaiser seien, die nur deshalb mit England in Verbindung gebracht würden, weil Flüchtlinge aus Konstantinopel nach der Plünderung der Stadt im Jahr 1453 dorthin geflohen seien. Damit gibt es viele Probleme, aber Fomenko wird regelmäßig  nicht einmal seinen eigenen Ansprüchen gerecht.Seine Parallelen sind oft bestenfalls dürftig, wie der Entlarver der Geschichtsfälschung schlechthin, Jason Colavito, anschaulich demonstriert:

„Er zählt Cenwalch von Wessex und Sussex (643–672 n. Chr.) als ersten „englischen“ König und sagt, seine Herrschaft sei das britische Duplikat (oder die Neuinterpretation) des oströmischen Theodosius des Großen (378–395 n. Chr.), und zwar aus keinem anderen Grund als der Zeitverschiebung um 275 Jahre, die sie mit der “Neuen Chronologie” in Einklang bringt.

Aber um sie gleichzeitig zu machen, kann Fomenko nur Cenwalchs Herrschaft über Wessex (647-672) heranziehen. Selbst dann reicht seine 25-jährige Herrschaft nicht an die 16-jährige Amtszeit von Theodosius heran. Dennoch wird diese Abweichung von mehr als 50 % immer noch als eine Gleichzeitigkeit angesehen.

Seine anderen Parallelen sind selbst nach einer doppelten Neuordnung der byzantinischen Monarchen (sie wurden nämlich selbst zweimal dupliziert) immer noch nicht sehr genau. Beorhtric (regierte 16 Jahre) wird mit Justin I. (regierte 9 Jahre) gleichgesetzt, eine Abweichung von fast 78 %. Fomenko verbindet Aethelbert (6 Jahre) mit Justin II (13 Jahre), ein Fehler von über 113 %. Er muss Zenos zwei Regierungszeiten (über einen Zeitraum von, aber nicht insgesamt 17 Jahren) kombinieren, um dem englischen Cuthread (17 Jahre) zu entsprechen.

Fomenko gelingen jedoch ein paar gute „Treffer“. Er verbindet Egbert, den Vereiniger Englands (regierte 38 Jahre), mit Justinian dem Großen, dem Restaurator des Römischen Reiches (regierte 38 Jahre). Doch dann kombiniert er König Edgar (16 Jahre) mit König Edward dem Märtyrer (3 Jahre) und behauptet, dass beide Leo III., den Isaurier (24 Jahre), repräsentieren. Er kommt zu dem Schluss, dass die Namen Edgar und Edward »ähnlich sind und ihre Verbindung daher natürlich ist«.[1] Natürlich wurden die elf Kaiser Konstantin (und die weiteren Kaiser namens Constans und Constantius) von den Barbaren offenbar leicht unterschieden.”

Wir verfügen über viel mehr Informationen über das angelsächsische England als nur eine Liste von Monarchen. Wir haben archäologische Funde von Ruinen, Gedichte, Epen, linguistische Befunde – und nichts davon passt auch nur im Geringsten zur byzantinischen Geschichte. Aber wenn wir anfangen, über „Evidenz” oder  „Beweis” oder  „ist das nicht alles Unsinn” zu reden, werden wir nie fertig.

Herrschafts-Korrelationen zwischen dem „antiken”  biblischen Königreich Israel und dem Dritten  „antiken” römischen Reich (aus: A.T. Fomenko u.a.: History. Fiction or Science, Bd2., S. 32)

Ich hoffe, sie blicken da durch. [2]

Nachdem wir nun die Grundzüge der Neuen Chronologie skizziert haben, fragen Sie sich vielleicht, was der Sinn des Ganzen ist. Warum hat Anatolij Fomenko die letzten vier Jahrzehnte seines Lebens der Zuordnung von Königslisten gewidmet, um zu beweisen, dass es nur ein Viertel so viel Geschichte gibt, wie Sie denken? Ist er einfach verrückt? Nun ja, mit ziemlicher Sicherheit. Aber es gibt einen wichtigen Aspekt seiner These, den ich noch nicht erwähnt habe. Sehen Sie, eine der Implikationen all dieser chronologischen Neuausrichtung ist, dass offenbar die dominierende Macht in Europa und Asien während des größten Teils der Menschheitsgeschichte ein slawisch-türkisches Reich war, das er die „Russische Horde“ nennt.

Aha. So ist das!

Es gab also nie eine mongolische Eroberung Russlands. Stattdessen war Dschingis Khan ein Russe, ebenso wie die Skythen, Hunnen, Goten, Ukrainer, Kosaken und so ziemlich jeder andere Steppenstamm, den man jemals in der Geschichte erwähnt finden kann. Moskau war nach Alexandria und Konstantinopel das Dritte Rom. Unter der Herrschaft von Dschingis Khan (dessen Gründung der Horde offenbar die Geschichte von Romulus und Remus inspirierte) breitete sich die russische Horde über die ganze Welt aus.

„Wir möchten wiederholen, dass es sich um eine eher friedliche Kolonisierung handelte, auch in den leerstehenden Gebieten Westeuropas. Ein großer Teil der Siedler-Kosaken wurde nach Afrika und Asien geschickt, darunter nach Indien und China. Die Rückeroberung Indiens durch die Horde dieser Epoche ist uns aus antiken Quellen als das Erscheinen der berühmten „Arier“ und die Entstehung der arisch-indischen Zivilisation in Hindustan bekannt. Die Kosaken (dh die Israeliten), die nach Ägypten kamen, gründeten hier die Mamelucken-Dynastie, die später in der Geschichte des „alten“ Ägyptens unter dem Namen „alte“ Hyksos beschrieben wurde. Diese Wanderung vom Zentrum des Horde-Reiches in alle Richtungen wurde später in verschiedenen Chroniken als DIASPORA oder DIE GROSSE VÖLKERWANDERUNG, als die große slawische Eroberung, als der Aufstieg Babylons usw. beschrieben. In der Bibel Russland-Horde (Israel ) wird auch als militantes Assyrien beschrieben. Titus Livius und die anderen „antiken“ Autoren beschreiben dieselben Ereignisse wie den Aufstieg des königlichen Roms und die Eroberung der Welt.

Das Imperium umfasste praktisch ganz Eurasien und einen großen Teil Afrikas, einschließlich Südafrika, des afrikanischen Ägyptens und des Niltals, wo sich traditionell der angestammte königliche Friedhof des Imperiums befand … Mit anderen Worten, verschiedene berühmte ägyptische Bestattungen von Pharaonen und andere Bestattungen In Ägypten (z. B. in Luxor) befinden sich heute die Gräber bedeutender und angesehener Persönlichkeiten des Horde-Reiches.” [3]

Ein Großteil der Neuen Chronologie besteht nur aus diesen endlosen, trockenen Listen von Königen und anderen Königen und noch mehr Königen und mathematischen Formeln, die vorgeben, verschiedene astronomische Konstellationen zu demonstrieren, und wenn man also endlich zu dem kommt, was seiner Meinung nach tatsächlich passiert ist, ist man völlig überrascht. Das sind jetzt bloß zwei Absätze, doch es gibt Hunderte von Seiten wie diese!

Da nimmt er das Mamluken-Sultanat in Ägypten (1250-1517 n. Chr.), die Eroberung Ägyptens durch die Hyksos (ca. 1650-1550 v. Chr.) und die indo-arabische Migration nach Nordindien (ca. 1500-500 v. Chr.) und wirft sie einfach zusammen, und dann fügt er auch noch die Geschichte des frühen Roms und des assyrischen Reiches hinzu. Es ist faszinierend. Später geht er detailliert auf die russische Eroberer Amerikas ein (wir bezeichnen sie heute als Konquistadoren), erläutert, dass das Judentum, der Islam und der Buddhismus allesamt spätere schismatische Zweige des Christentums waren, dass das Neue Testament dem Alten Testament um mehrere Jahrhunderte vorausgeht, dass das Buch Mormon authentisch ist (!!) und seine Behauptungen stützt, dass die Überquerung des Roten Meeres durch Moses eigentlich eine Geschichte über die Horde ist, die den Bosporus überquerte, um die Türkei (oder Europa, das ist etwas unklar) zu erobern, usw. usw.

Es gibt hier so viele Merkwürdigkeiten. Hat er wirklich behauptet, die Gräber in Ägypten stammten von der Russischen Horde? Wenn ja, warum sind sie mit altägyptischen Hieroglyphen bedeckt? War das wirklich eine russisch-türkische Sprache? Aber ich bin mir nicht sicher, ob es ihm überhaupt in den Sinn kommt, solche Fragen zu stellen. Vieles an Fomenkos „Geschichte” hat eine charmant-schräge Qualität. Alles basiert auf der Neuinterpretation von Dokumenten und der Verknüpfung von Listen. Es bleibt unklar, ob er wirklich weiß, dass es eine reale Welt gibt, was vielleicht verständlich ist, wenn man bedenkt, dass er versucht, sich der Geschichte rein aus der Perspektive der Mathematik zu nähern.

Selbst wenn man die traditionelle Chronologie für fehlerhaft oder viele Ereignisse für falsch datiert hält, ist es doch ein bisschen bizarr, wie man von dort zum „russisch-türkischen Weltstaatsimperium” kommt.

Doch um das zu verstehen, muss man das Konzept des „Dritten Roms” in der traditionellen russischen Theologie und Politik verstehen. Seit dem Fall Konstantinopels im Jahr 1453, bei dem Moskau der mächtigste verbliebene ostorthodoxe Staat wurde, sehen viele Russen ihr Land als Erbe der römischen Größe an, sowohl im Hinblick auf die Errichtung des Hegemonialreichs Europa als auch in dem Sinne, dass es das Oberhaupt der christlichen Kirche ist. Bis heute steht der Bischof von Rom an der Spitze der katholischen Kirche, während der Patriarch von Konstantinopel an erster Stelle der Führer der östlichen Orthodoxie steht. Viele Zaren waren in ihrer Außenpolitik geradezu besessen davon, diese Stadt von den Muslimen zu „befreien” und ihre Vorherrschaft in Europa und im Nahen Osten zu sichern. Zarin Katharina die Große nannte sogar ihren Enkel Konstantin in der Erwartung, ihn auf den Thron eines erneuerten byzantinischen Reiches zu setzen.

Fomenko nimmt dieses ambitionierte Projekt wörtlich. In seiner Geschichte entsteht nach dem Untergang des Römischen Reiches ein neues russisch-slawisch-türkisches Reich, das an seine Stelle tritt und die Zivilisation und das Christentum in alle Teile der Welt verbreitet. Die Demütigung der mongolischen Eroberung wird dadurch in russischen Ruhm umgewandelt, wobei die Errungenschaften der mongolischen und anderer zentralasiatischer Reiche angeeignet und an Russland angehängt werden.

Schließlich geht auch die Russische Horde unter, und zwar durch eine Reihe von Ereignissen, die ich sehr verwirrend finde. Es war anscheinend so, dass die südliche Hälfte des Reiches rebelliert und zum Osmanischen Reich wird, nachdem sie zum Islam übergetreten war. Ich weiß es nicht. Anschließend übernimmt die Romanow-Dynastie die Macht und fabrziert mit Hilfe des Vatikans, des Heiligen Römischen Reiches und der protestantischen Reformation (??) im 17. und 18. Jahrhundert eine Reihe von Geschichtsfälschungen, um die wahre Pracht der Horde zu verbergen, damit die Russen ihre glorreiche Vergangenheit nicht erkennen und von ihren zentralasiatischen Vettern entfremdet bleiben. In Fomenkos Geschichtsschreibung sind die westlichen Reformen Peters des Großen im 18. Jahrhundert kein Versuch, ein rückständiges Russland zu einer Weltmacht zu machen, sondern vielmehr das heimtückische Bestreben einer Usurpatoren-Dynastie, das Erbe ihrer Vorgänger auszulöschen und Russland den westlichen Interessen unterzuordnen.

Ich brauche mir wohl nicht die Mühe zu machen, das zu »entlarven«. Es ist der Versuch, die Weltgeschichte in einen russischen ultranationalistischen Fiebertraum umzuschreiben, basierend auf einigen korrelierten Sternkarten und Herrscherlisten. Er macht keine Anstalten, sich auch nur mit 90 % der historischen Beweise zu befassen. Im Jahr 2004 schrieb sein englischer Verlag einen Preis von 10.000 Dollar für denjenigen aus, der die Existenz eines menschlichen Artefakts aus der Zeit vor 1000 n. Chr. nachweisen kann, sofern er keine „archäologische, dendrochronologische, paläografische und Radiokarbon-Methoden” verwendet. Klar, warum nicht, Leute.

Fomenko verkörpert zwei Stereotype perfekt: den Wissenschaftler, der beschließt, anderen Disziplinen seine eigenen Methoden aufzuzwingen, um deren Probleme zu »lösen«, und den Nationalisten, der auf wundersame Weise entdeckt, dass sich die gesamte Menschheitsgeschichte eigentlich um sein eigenes Land dreht ( vgl. die so genannten bosnischen Pyramiden als weiteres gutes Beispiel dafür).

Und doch liebe ich die Neue Chronologie. Sie ist einfach so unglaublich dumm, so wahnsinnig übertrieben dumm, so folgenreich in ihrem Ehrgeiz und dem entsprechenden Fehlen von Beweisen. Fomenko gebührt der Preis für Pseudohistorie, weil er etwas geschaffen hat, das sich in keiner Weise an die Vorstellungen anderer von der Realität hält. Normale Pseudohistoriker versuchen zu beweisen, dass Außerirdische die Pyramiden gebaut haben. Wie viel besser ist es doch zu sagen: „Nein, das waren die Russen im Mittelalter!” Fomenko treibt alles weit über den logischen Kulminationspunkt hinaus. Die Neue Chronologie ist die reductio ad absurdum ihres Genres. Buchstäblich die gesamte Geschichte ist eine Lüge, und alles wurde erfunden, um zu verbergen, wie großartig mein Land war. Es ist wirklich schlimm, dass Menschen so einen Unsinn glauben. Und die Leute glauben ihn! Einer der prominentesten Unterstützer Fomenkos war viele Jahre lang der ehemalige Schachweltmeister und Großmeister Garry Kasparov. Er hat sich in den letzten Jahren von Fomenko distanziert, sagt aber, dass er „immer noch sehr skeptisch gegenüber den Konstruktionen und Befunden der offiziellen Geschichtsschreibung” ist und dass „Fomenko und Nosovsky zu Recht auf zahlreiche Ungereimtheiten und Lücken im offiziellen Konzept hingewiesen haben”.

Aber irgendwie bin ich doch froh, dass es so etwas Absurdes überhaupt noch gibt.

Ich habe schon oft über meine Liebe zur alternativen Geschichte gesprochen, und darauf läuft es hinaus. Fomenko hat früher Science-Fiction geschrieben, und ich wünschte, er würde all die Königskorrelationen und die biblischen und astronomischen Analysen sein lassen und dies einfach als fiktive Serie schreiben.

Ich würde sie lesen.

Anmerkungen

[1] Fomenko, AT und GV Nosovskij: Neue Chronologie und neues Konzept der englischen Geschichte: Britisches Empire als direkter Nachfolger des Byzantinisch-Römischen Reiches.  http://lib.ru/FOMENKOAT

[2] Auf der Seite des spanische Fomenko-Adepten Andreu Marfull-Pujadas findet man die auf englisch erschienen Veröffentlichungen Fomenkos und weitere Artikel: https://andreumarfull.com/nc-english/

[3] ATFomenko, GVNosovskiy: WIE ES IN DER REALITÄT WAR (http://chronologia.org/en/how_it_was/04_4.html)

Quelle: Goldwag’s Journal of Civilization
https://nathangoldwag.wordpress.com/2021/04/03/the-glorious-stupidity-of-fomenkos-new-chronology/

Übersetzung aus dem Englischen: Rainer Schmidt

Zum Thema siehe auch den Beitrag von Mischa Gabowitsch: Fomenko und die „Neue Chronologie”

Absolvent der Brandeis University, wo er Geschichte, Politik und Klassische Philologie studiert hat, und der Long Island University, an der er vor einigen Jahren seinen Master in Bibliotheks- und Informationswissenschaften gemacht hat. Lebt in New York City.

Ein Kommentar

  • Occam

    In seiner Rückschau, die Heribert Illig 2018 für die letzte Nummer seiner Zeitschrift Zeitensprünge schrieb, fand ich das folgende Zitat:

    “Herrschende Lehre hat ihre liebe Not mit dem Startjahr unserer Zeitrechnung. Das beginnt schon mit seiner Fiktionalität. Denn die Geburt muss ja vor dem Jahr 1 n. Chr. stattgefunden haben, doch das dafür notwendige Jahr Null ist auf der Zeitachse vergessen worden. Davon abgesehen, versuchte man den Widersprüchen der Bibel durch Textinterpretation gerecht zu werden, aber auch durch astronomische Rückrechnungen. So ergab sich das Jahr 7 v. Chr. oder auch das Jahr 3 v. Chr., daneben auch viele weitere. Hier im Heft ist für das Jahr 292 n. Chr. plädiert worden [Dehn/Illig/Klamt], die Gruppe um Gunnar Heinsohn ventiliert auch deutlich frühere Ansätze vor Chr. für Jesus bzw. das Auftreten des Christentums.
    Doch all das ist nichts gegen die Überlegungen des Mathematik-Professors Anatoliji Fomenko (* 1945), der seine komplette Umschreibung der Geschichte der Alten Welt nicht zuletzt auf die Geburt Jesu im Jahr 1053 auf der Krim (!) stützt [Fomenkos erstes Buch auf Englisch erschien 1994]. Im Reich Putins wird diese Neue Chronologie, die an der Moskauer Staatsuniversität gelehrt wird und z.B. die chinesische Geschichte erst durch die Jesuiten ab 1600 entstehenlässt, mittlerweile entscheidend gefördert. Hier lässt sich vielleicht bald erleben, wohin Chronologiekritik im schlimmsten Fall führen kann. Derartige ‘Erfolge’ sind uns zum Glück erspart geblieben. Sie lassen aber erkennen, dass Chronologiekritik durch derartige Ansätze vollständig desavouiert wurde und wird.”
    (Heribert Illig in seiner “Rückschau” im letzten Heft der ZS 3/2018, S. 413)

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