Zeitensprünge 2/2001

Dr. Günter Lüling: Leserbrief zu Dr. Klaus Weissgerber (S. 243-249) und dessen Antwort (S. 250-252)

Da sich seit meinem Ausscheiden aus Illigs Arbeitsgruppe und dem langjährigen Schweigen von Manfred Zeller nur noch Klaus Weissgerber des brennenden Themas Islam in “Zeitensprünge” annimmt, drängt es mich, ihm zu Hilfe zu eilen, obgleich ich weder mit seiner Argumentation noch seinen Schlußfolgerungen einverstanden bin. Ich möchte hier den mit dieser schwierigen Arbeit nicht vertrauten Lesern zeigen, warum Lüling Recht hat und doch an der Erkenntnis vorbeigeschossen ist. Und warum Weissgerber das Richtige sieht, ohne mit seiner sehr detaillierten Forschung stichhaltige Argumente vorgebracht zu haben.
Weissgerber sagt sinngemäß, daß er Lülings Einwand mehrmals lesen mußte, bevor er ihn verinnerlichte. Das geht wohl jedem Leser von Lülings Schriften so, denn dessen mathematische Sprache, die sich gegen jedes Mißverständnis schon vorbeugend abschirmt, erfordert einen Einblick in seine Gedankenwelt, der sich erst nach umfassender Kenntnisnahme seiner Bücher einstellt. So ist auch dieser “Leserbrief” wohl nur voll verständlich für Kenner der Lülingschen Forschung.
Ich nehme es mir darum heraus, die Argumentation zwischen den beiden Kontrahenten auf den Punkt zu bringen: Lüling sieht weder die Notwendigkeit noch den “Nutzen” einer chronologischen Neuordnung des Geschichtsbildes, weil ihn nur die dogmatisch-weltanschaulichen Vorgänge der Islamentstehung berühren, die “irgendwann” stattgefunden haben könnten, ohne ihre innewohnenden geistigen Werte einzubüßen. Und Weissgerber versucht mit den wenigen zu Gebote stehenden Mitteln eine Religionsentstehung nachzuzeichnen, die größtenteils nur als Legende überliefert ist. Dabei treffen sich die beiden Herren an keiner Stelle!
Oder doch?
Ja, bei der “Zeitrechnung”. Während aber Lüling aus mangelnder Beschäftigung mit diesem Aspekt nicht einmal sieht, wo hier das Problem verborgen ist, hat Weissgerber einen positivistischen Ansatz vorgestellt, der die Legenden um einen weiteren Punkt bereichert. Er konfrontiert uns mit einer Jahreszählung “nach dem Ereignis des Elefanten”, für die er nicht den geringsten Beleg bringen kann. Und hier setzt Lüling mit seinem viel größeren Wissen das Messer an. Dabei würde es ihm nichts ausmachen, wenn der Islam im 6. Jh. entstanden und 920-1020 entwickelt worden wäre, ja indirekt hat er diese Zahlen sogar bestätitgt: Er kennt eine vormohammedsche Geburtsphase und eine schriftlich belegte Konsolidierung zu genau jenen Zeitpunkten. Für die Zwischenzeit fehlen Dokumente, sowohl islamische als auch fremde.

Zunächst stellt der hervorragende Orientalist Günter Lüling noch einmal unmißverständlich fest, daß angesichts der überaus reichhaltigen und gründlichen Schriftüberlieferung der Araber eine Lücke im islamischen Zeitgeschehen völlig undenkbar sei. Er wehrt sich heftig dagegen, für die Zeitsprungthese vereinnahmt zu werden. Das ist verständlich, hat er doch auf Grund seines standhaften Vorgehens in der Islaminterpretation schon Gegner genug und es nicht nötig, eine zweite Front – die chronologische – aufzumachen.
In dieser siebenseitigen Besprechung von Weissgerbers letztem Artikel (“Islamica I”) hat er es auch nicht schwer, die von Weissgerber etwas leichtfertig aufgestellte These von der Elefantenjahr-Zeitrechnung als haltlos darzustellen. Weissgerber beruft sich auf eine These von Ali Dashti, die besagt, daß vom Geburtsjahr Mohammeds, eben dem Elefantenjahr an, eine offizielle Jahreszählung eingeführt worden wäre. Weissgerber hat das als möglich hingestellt, wenngleich dafür keine Belege vorhanden sind.
Möglich ist viel, Belege sind das mindeste, was wir erwarten.
Allerdings sind Lülings Argumente – “sicher im Einklang mit allen Fachgenossen der Arabistik und Islamistik” – die gewohnten, eben nicht hinterfragten Berufungen auf Texte, deren Echtheit nicht bewiesen werden kann, sondern höchst fragwürdig ist. Hier steht ein dogmatischer Revolutionär, Lüling, gegen einen kritischen Denker, Weissgerber, und das ist zumindest spannend.
Dabei begibt sich Lüling auch aufs Glatteis einer ihm fremden Debatte, wenn er feststellt, daß z.B. Tacitus und seine Texte nicht erfunden, sondern höchstens verzerrt worden sein können. Offensichtlich hat er in diesem Punkt die Diskussion nicht mitverfolgt, deren Ergebnis schon lange vor unserer Chronologie-Forschung feststand: Die “Germania” des Tacitus (z.B.) wurde zwischen 1420 und 1430 in einem hessischen Kloster verfaßt und enthält tendenziös verunstaltete Berichte über eine nicht lange zurückliegende Vergangenheit. Wenn nun Lüling die Echtheit dieser Texte verteidigt, weil sie “sehr bald nach ihrer Zeit nicht mehr verstanden wurden und bekannt waren”, zeigt er grobe Unkenntnis: die “Germania” wurde sehr wohl verstanden und geradezu enthusiastisch begrüßt, etwa durch Ulrich von Hutten. Sie war so klug erfunden, daß sie bis heute felsenfest im Geschichtsbild steht. Da aber die Überlieferungen vom Leben des Propheten (Hadith) derselbe Vorwurf trifft, ist Lülings Einwand zumindest in methodischer Hinsicht ein Eigentor.
Für den Islam hält er uns seine Grundsatz-Erkenntnis vor Augen: Weil die arabischen Texte bis hin zu ihrem Gegenteil verändert wurden, lassen sie aus ihrem äußeren Bild (Grammatik, Semantik, Schriftbild) Rückschlüsse auf die ursprüngliche Gestalt zu, somit auf den früheren Sinn der Koranverse, der damit besser bewahrt wurde, als wenn er völlig ausgedacht worden wäre. Lülings Rekonstruktion der dem Islam voraufgehenden Glaubensform ist von tiefer Einsicht getragen. Er stellt den revisionistischen Islamthesen der letzten Jahrzehnte einen idealistischen Wall entgegen. Hier geht es um Weltanschauung.
Das zeigt uns die Tragweite dieser Diskussion: Während Akademiker wie Gerd-Rüdiger Puin an der Universität Saarbrücken sich mit allerhöchster Vorsicht über die frühislamischen Manuskripte aus Sana’a im Jemen ausdrücken und gewundene Sätze formulieren, die die Angst vor Meuchelmord klar erkennen lassen, ist in unserem Umfeld davon noch nichts zu spüren: Hier wird Weltgeschichte verhandelt, als wäre das neutral und objektiv möglich. Liegt es nur an der kleinen Auflage von “Zeitensprünge”? Oder an der Marginalität der schreibenden Personen? Oder vielleicht an der Ungeheuerlichkeit der Aussagen, die den potenziellen Richtern noch gar nicht bewußt geworden ist?
Eine Debatte über die Ziele und Ansprüche unserer Geschichtskritik ist überfällig, wie man sieht. Angestrebt wurde sie im Berliner Geschichtssalon schon mehrmals, Ergebnisse hat sie bisher nicht gezeitigt. Wir sind also – ganz wie in USA und England – über die naive Experimentierstufe noch nicht hinausgekommen. Ich vermute, daß uns in Moskau die Fomenkosche Gruppe da einige Schritte voraus ist.
Nun greift aber Lüling trotz seiner grundsätzlichen Ablehnung am Schluß seines Briefes doch in die Chronologiedebatte ein, indem er – vorsichtig, aber seines Gewichtes sicher – Mondher Sfar zitiert, der mittels einer Sonnenfinsternis die Lebensdaten Mohammeds bewiesen haben möchte. Da mir Günter Lüling kürzlich eine Fotokopie des zitierten Textes überreichte, bin ich imstande, auf diesen chronologischen “Beweis” einzugehen:
Sfar betrachtet die für Mohammeds Lebenszeit rückerrechneten Sonnenfinsternis-Daten und erwägt, welches zu Mohammed passen könnte. Es kommen zwei in nähere Wahl, sie liegen fast neunzehn Jahre auseinander. Seine Wahl fällt auf die zweite, im Jahr 632. Sfars Argumente bei dieser Wahl spielen keine Rolle, weil seine Methode falsch ist. Jedes Sonnenfinsternisdatum hätte die Bedingungen erfüllt. Also hätte jedes errechnete Jahr das Todesjahr von Mohammed sein können.
Das Problem ist schon in der Überschrift ausgedrückt: “Die Sonnenfinsternis vom 27. Januar 632: einziges wissenschaftliches Datum in der Geschichte des Koran und des Lebens Mohammeds.” (Zitate von mir aus dem Frasnzös. übers.) Wenn nun dieses einzige Datum auch noch ausfällt, bleibt uns wirklich nichts mehr übrig, um die Legende vom arabischen Propheten zeitlich zu verankern.
Sfar beschreibt (S.130) zunächst “die wichtigste Sonnenfinsternis, die die Mekkaner zu Lebzeiten Mohammeds beobachten konnten”, umgerechnet am 23. 7. 613 zwischen 7h17 und 9h51. De Verdunkelung soll maximal 93,4% betragen haben. “Da aber dieses Maximum leider ungefähr drei Stunden nach Sonnenaufgang stattfand, konnte man diese Sonnenfinsternis nicht mit dem bloßen Auge erkennen.” So ein Unsinn! Drei Stunden nach Sonnenaufgang steht die Sonne 35° hoch, also auch in der leicht gebirgigen Gegend von Mekka hoch am Himmel. Warum soll da eine fast totale Sonnenfinsternis nicht bemerkbar gewesen sein?
Den Grund für diese unbegründete Aussage Sfars erfahren wir etwas später (S.134): Die Sonnenfinsternis vom (umgerechnet) 27. Januar 632 paßt ihm besser in die Tradition. Was Intensität und Zeitpunkt angeht, hat sie der erstgenannten allerdings nichts voraus: Sie begann um 6h30, also eine dreiviertel Stunde eher als die vorige, hatte ihren Höhepunkt mit 76,6% (also bedeutend weniger Verdunkelung) um 8h45 und endete um 10h13 (S. 131).
Die Zuordnung dieser Sonnenfinsternis zu den in Hadithen überlieferten Ereignissen mag ja mit gutem Willen im Bereich des Möglichen liegen (streng genommen ist sie es nicht), aber eine solche Zuordnung besagt nichts über den wirklichen Zeitpunkt, denn jede andere Sonnenfinsternis würde genauso gut (oder besser!) dazu passen. Mohammeds Lieblingsfrau Aischa ist sich nicht sicher, ob die Sonnenfinsternis in der Zeit von Mohammeds Aufenthalt in Mekka oder in Medina stattfand (S. 132), – das würde mindestens zehn Jahre Unterschied bedeuten – aber jedenfalls war es ein “sehr heißer Tag” (für Januar nicht gerade typisch). Von einer Verdunkelung und damit verbundenen Abkühlung ist nicht die Rede. Man berichtet weder die Tageszeit noch die Jahreszeit des Ereignisses, vom Jahr ganz zu schweigen.
Mohammed selbst habe berichtet (so Sfar S. 133), daß sich die Sonne verdunkelte, als er gerade mit einem jungen Kameraden beim Pfeilschießen war, und da stand die Sonne “zwei oder drei Lanzen hoch am Himmel”. Das ist sehr ungenau, zumal man nicht weiß, wie diese Lanzen postiert wurden. Wenn es sich um einen festen Maßbegriff handelte, ist er uns vermutlich verlorengegangen. Das Pfeilschießen läßt an eine Jugendepisode denken, paßt also nicht zum Todesjahr des Propheten. Es könnte sich darum eher auf das Pfeilespiel beziehen, das um Geld geführt wurde, und dem der Prophet vermutlich frönte (Lüling mündlich).
Wenn es irgendein unterscheidendes Beobachtungsmerkmal, irgendeine kritische Aussage über Tageszeit, Monat oder Jahr für die von Mohammed erlebte Sonnenfinsternis in der Tradition geben würde, könnte man sie anhand von mathematischen Rückberechnungen möglicherweise identifizieren (wobei ich das Problem der Rückberechnungen hier absichtlich außer Acht lasse). Aber unter den gegebenen Überlieferungen wäre irgendeine Sonnenfinsternis geeignet, gar manche wäre besser geeignet als ausgerechnet die vom 27. Januar vor 1369 Jahren, zur Festlegung des durch die Tradition mehrfach bezeugten Ereignisses, das mittels scharfsinniger Argumente einige Monate vor Mohammeds Tod eingeordnet wird.
Damit ist Sfars Schlußfolgerung unhaltbar geworden. Eine wirklich vernünftige Widerlegung der Chronologiekritik steht noch aus, auch in diesem religiös verminten Bereich.
Soweit Lülings Argument, dem er noch im Gespräch folgendes hinzufügte: Angeführt wird als historische Verankerung des Korans immer wieder der Anfang von Sure 30, “Die Römer” (womit nach arabischem Sprachgebrauch die Byzantiner gemeint sind):
“Besiegt sind die Römer (oder Griechen, wie Max Henning übersetzt) im Nachbarland, doch nach ihrer Niederlage werden sie siegreich sein, in wenigen Jahren … und an jenem Tage werden die Gläubigen frohlocken.” Die Byzantiner wurden also leider gerade von ihren Feinden niedergerungen (vermutlich von den Persern, denn eine andere feindliche Großmacht gab es nicht), aber in Zukunft wird sich das Blatt wenden, und dann werden die Gläubigen (die Moslems) sich freuen. Daraus ist zu schließen, daß zu diesem Zeitpunkt Arabien unter persischer Herrschaft stand, während es auf Grund seiner religiösen Einstellung mit den Byzantinern sympathisierte. Das stimmt zu den überlieferten Umständen während Mohammeds Lebenszeit.
Es könnte auch irgendwann passen, möchte ich anmerken, denn in der wechselvollen Geschichte der Kämpfe zwischen Griechen und Persern sind solche Konstellationen mehrfach vorgekommen. Régis Blachere hat sogar einen umgekehrten Frontenverlauf angenommen. Auf welches Ereignis diese Koranverse konkret anspielen, ist nicht erkennbar. Wir sehen schon: Wenn die Hinweise dermaßen vieldeutig sind, ist eine zeitliche Festlegung nicht möglich.
Klaus Weissgerber hat postwendend eine Antwort an Günter Lüling verfaßt, die im selben Heft gleich anschließend veröffentlicht ist. Das möchte man einerseits begrüßen, andererseits ist man überrascht über diese unübliche Vorgehensweise. Es läßt an Klüngel oder Schwatzverein denken.
Immerhin hat Weissgerber sich auf drei Seiten beschränkt und klar geäußert: Zitieren heißt nicht Vereinnahmung (das müssen auch andere Leute noch lernen)! Wenn man die Forschungsergebnisse eines Autors in die eigenen Folgerungen einbaut, hat der “Verwendete” keinen Anspruch auf Widerruf.
Und was die fehlenden Belege angeht: Weissgerber hat die Autoren, die Ali Dashti zitieren, angeschrieben und könnte möglicherweise demnächst handfeste Belege vorweisen. Das würde zwar diesen “internen” Streitpunkt beseitigen, uns aber immer noch nicht weiterbringen. Denn was hätten wir davon, wenn feststünde, daß das Geburtsjahr des Propheten mit 544 AD gleichzusetzen wäre (statt 570), solange wir nicht wissen, was mit diesem rückerrechneten Jahr 544 AD verbunden ist. Wer lebte damals im Abendland oder in Byzanz?
Und wenn die Hidschra 597 (statt 622) erfolgt wäre, wie Weissgerber fordert, was wäre gewonnen? Ah, es dämmert mir: Illigs Realzeit endet 614, und deswegen ist 622 eine Nichtzahl, inakzeptabel in seinem Kreis. Dürfen wir unseren kritischen Aufbruch so eng fassen?
29.6.2001

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