Das Beowulf-Epos, eine Fälschung

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Das älteste deutsch-englische Sprachkunstwerk stammt aus dem 17. Jahrhundert

British Library Cotton MS Vitellius A XV

Der Beowulf (= Bienenwolf, Kenning für Bär) ist ein in England aufbewahrtes Manuskript eines alten Epos, “christianisiert und etwa zu Anfang des 8. Jh.s aufgezeichnet; die einzige Handschrift indes stammt erst aus dem 10. Jh. Der Beowulf ist demnach das älteste größere Denkmal deutscher volkstümlicher Poesie …” (Meyers Konv. Lexikon, 4. Aufl., Leipzig 1885, 2. Bd., S. 707). Statt deutsch wird in manchen späteren Lexika auch germanisch gesagt, zuweilen auch angelsächsisch. Die Handlung spielt in Skandinavien, zu England besteht keine Beziehung. Nach Felix Genzmer (im Vorwort zur Übersetzung, 1953 Reclam) wurde das Epos in der Sprache der Angeln (ein deutscher Stamm in Holstein) verfaßt und dann westsächsich überarbeitet durch einen katholischen Geistlichen. Dessen lateinischer Einfluß sei unverkennbar. Es sind allerdings Sagen darin verarbeitet, die wir aus sehr viel jüngeren Texten kennen, aus dem 12. und späteren Jahrhunderten. So sind Teile der Edda mit einbezogen, die erst im 16. Jh. in Mitteleuropa bekannt wurden.

Zur Klärung eines “Zwischenspiels” im Beowulf, dem Finnsburglied, wurde im 18. Jh. ein Bruchstück veröffentlicht, das aber nichts klärt und die erste Bezugnahme auf den Beowulf-Text sein dürfte. Außer der Druckschrift kennt man kein Original dieses altenglischen Lied-Bruchstücks.

Nach der Methode von Joseph Aschbach (siehe Topper 1998, S. 36 ff) müßten wir nun zum Inhalt selbst schreiten. Da erzählt ein Christ heidnische Geschichten aus Dänemark, weiß aber nicht, daß die Dänen keine Harfe kannten (Verse 86, 2263 u.a.). Er bringt die gewohnte Chronologie völlig durcheinander, erwähnt (griechische) Giganten (Vers 113) und zitiert Dialoge von Papst Gregor I (Verse 168 ff), von denen wir wissen, daß sie erst in der Renaissance geschrieben wurden. Ab Vers 175 belehrt der Dichter seine Zuhörer, daß die Helden seines Epos Heiden sind und Verachtung verdienen. Möglicherweise war der Mönch eine echte Landratte, denn bei ihm dauert die Fahrt von Südschweden bis zur Jütenhalbinsel genau 24 Stunden, das ist bei weitem zu lang, denn von Gegensturm ist nicht die Rede.

Kurz gesagt: das Machwerk ist entblößt.

Ein gewisser Alfred Tamerl, der ein Jahr nach mir seine Entlarvung der Roswitha ebenfalls an Aschbachs Technik geschult hat, fand nun (Zeitensprünge 3/2001) auch die näheren Umstände über den Fälschungsvorgang heraus: Der Beowulf, angeblich Anfang des 8. Jh.s geschrieben, wurde bis zu seiner Publizierung durch den Dänen Thorkelin 1815 nirgendwo verarbeitet oder nachgeahmt. Das größte altenglische Epos, einer Ilias vegleichbar (Tamerl bringt genaue Hinweise dieser Zusammenhänge), schlief als einziges Manuskript auf einem Regal. Thorkelin hatte schon 25 Jahre vorher das Manuskript, das ihm englische Kenner zur Kenntnis gebracht hatten, abgeschrieben.

Warum zögerte er so lange? Und hätten nicht auch die Engländer (damals lebte Herder) größtes Interesse gehabt, diesen kostbaren Text selbst herauszubringen, statt 25 Jahre zu warten, bis ein Ausländer sich dieser Mühe unterzieht? Tamerl verwundert dies zu Recht, während ich inzwischen diese Art der Herausgabe durch einen angesehenen Fremden geradezu als Fälschervorgehen erkenne. Der Vorgang ist ganz typisch: Kürzlich haben Amerikaner einen gefälschten Goldhelm eines andalusischen Kalifen in eine Ausstellung in Granada eingeschleust, um ihn dann in Amerika als echt aufzuwerten, nachdem ihn die gut bezahlten spanischen Aussteller nicht abgelehnt sondern im Katalog publiziert hatten.

Tamerl stellt noch mehr fest: Es gibt in dieser Handschrift Rasuren und seltsame Bearbeitungsspuren, die einen modernen Forscher mit elektronischen Mitteln, den Amerikaner Kevin S. Kiernan (1993), dazu veranlaßten festzustellen, daß der Schreiber des Manuskripts der Dichter selbst war. Es sei sein Arbeitsexemplar gewesen. Die zahlreichen Verbesserungen stammen von seiner eigenen Hand. Nun, das kennen wir ja von den Humanisten schon recht ausführlich. Die Aufklärer waren wohl nicht besser, gaben sich nur mehr Mühe. Sie benützten außer Rasiermesser auch Säuren, legten Benützungsspuren an (die meisten Manuskripte sehen ja aus, als hätte sie nie jemand in der Hand gehabt) und sorgten möglichst für Querverweise (in diesem Falle das Finnsburg-Bruchstück).

Nach gewohnter Art hatte der Fälscher die Pergamentblätter in einen älteren (ebenfalls gefälschten, aber schon anerkannten) Kodex eingeschleust, doch Tamerl hat herausgefunden, daß frühere Betrachter und Beschreiber des Kodex nichts von einem Beowulf wußten, während sie die anderen, viel kleineren und unwichtigen Texte des Kodex in ihren Aufzeichnungen vermerkt hatten. Aus Tamerls tiefschürfender Untersuchung geht eindeutig hervor, daß Franciscus Junius (1589-1677) der Fälscher sein muß. Er hatte als erster altenglische Sprachforschung mit Wörterbüchern und grammatischen Untersuchungen veröffentlicht, hatte 1665 die Wulfilas-Bibel wissenschaftswürdig gemacht (eine Fälschung, siehe Topper 1998) und den besagten Sammel-Kodex mindestens einmal in seinem Leben, vermutlich zweimal, in der Hand gehabt.

Tamerl kann ganz seltsame Erkenntnisse zitieren: “Der Beowulf ist in noch einer weiteren Hinsicht einzigartig. Ein Drittel des Vokabulars kommt in keinem anderen altenglischen Werk vor.” Wir kennen das von anderen Werken jener Zeit, die Wulfilas-Bibel ist nur das beste Beispiel. Und außerdem gibt es da Unmassen an Fehlern, Verschreibungen und Anachronismen im Text des Beowulf.

Tamerl deckt nebenbei gleich noch weitere Fälschungen auf – vielleicht sollte man auch sagen: Schöpfungen der Aufklärer – wie z.B. die Boethius-Übersetzung des Königs Alfred, das wäre einen weiteren Artikel wert. Verdächtig scheint auch das Widsith-Fragment, eine stabreimende Aufzählung von über hundert Fürsten-, Personen- und Stammesnamen, die Geschichte des 3. bis 6. Jahrhunderts (in einer Handschrift des 10. Jh.) vorspiegeln sollen. Am Ende aber schwenkt Tamerl zurück auf die in jener Zeitschrift (“Zeitensprünge”) vorgebene Linie und faßt abschließend zusammen:

“Wenn es sich tatsächlich um das Arbeitsexemplar des Dichters handelt, so entstand der Beowulf also in der Zeit der Schreiber, also im 10. oder 11. Jh. Der Beowulf wäre also gleichalt wie die übrigen altenglischen Texte, die in (Kodex) Vitellinus A XV enthalten sind.” (S. 509). Und zum Schluß:

“Aus welcher Zeit stammt der Beowulf also? Entweder ist er ein ausgefallenes Werk eines Mönches des 11. Jhs., wie Walter Klier in seiner Rezension vermutet (eine Glosse in der Faz vom 31.3.2001, die den Anlaß zu dieser Arbeit gab, UT), oder es handelt sich um eine neuere Produktion.” (S. 510)

Dagegen möchte ich die Ergebnisse dieser Untersuchung noch einmal kurz wiederholen:

Der Sammelkodex Vitellius A XV (auch nach einem früheren Besitzer Nowell-Kodex genannt), enthielt ursprünglich vier kurze altenglische Stücke “aus dem 10. Jh.”, darunter so offensichtliche Humanisten-Fabrikate wie einen Brief des großen Alexander an Aristoteles und eine Christophorus-Legende. Er befand sich in Sir Robert Cottons Besitz und wurde nach dessen Tod 1631 durch seinen Bibliothekar mit einem Inhaltsverzeichnis versehen, in dem der Beowulf, der heute das weitaus größte Volumen in diesem Kodex einnimmt, noch nicht erschien. Der Gelehrte Franciscus Junius hielt den Kodex zwischen 1628 und 1650 in der Hand, schrieb das Judith-Fragment daraus ab, sah aber keinen Beowulf. Junius starb 1677. Auch der von Thomas Smith 1696 aufgestellte Katalog kennt den Beowulf noch nicht. Erst 1705 wird der Beowulf in dem Katalog altenglischer Handschriften von Humphrey Wanley genannt, von diesem auch in seiner Privatkorrespondenz erwähnt. Aber in dem Verzeichnis von Richard James (vor 1731) fehlt der Beowulf immer noch. Bis 1790 interessierte sich niemand für dieses riesige Epos. Der Kodex blieb bei dem Brand von 1731 erhalten, nur einige Seiten waren angeschmort. Er wurde von Sir Frederic Madden ab 1837 wieder hergestellt, wobei auch Nachschriften angelegt wurden. Madden steht im Verdacht, mehrere Texte selbst hergestellt zu haben.

Vermutlich erhielt der Däne Thorkelin 1790 den Kodex von dem englischen Buchhändler Richard Price aus London (Tamerl S. 506 f) vorgelegt. Er fertigte zwei Abschriften an und veröffentlichte ihn erstmals 1815. Darin sind noch eine große Zahl von Fehllesungen enthalten, wie die lateinische Übersetzung Thorkelins ausweist. Zumindest ist damit klargestellt, daß er nicht der Fälscher gewesen sein kann. Die im Text enthaltenen ungewöhnlich vielen Fehler, sowohl sprachlicher als auch inhaltlicher Art, wurden durch John M. Kemble (1833) als Verunstaltungen der mittelalterlichen Abschreiber erklärt. Das ist nun durch Kiernans Untersuchungen widerlegt: Das Manuskript ist die Handschrift des Dichters selbst.

Dann ist der Rest einfach: Die Handschrift wurde im 17. Jh. hergestellt, vermutlich von Junius, der als einziger seiner Zeit fähig war, dergleichen auszuführen. Natürlich rühmte er sich nicht der Entdeckung dieser einzigartigen Dichtung, sondern überließ es einer späteren Zeit, diese für echt zu erklären. Mit dem Schwinden des Wissens und der wachsenden Dreistigkeit im Fälschen, die durch den romantischen Geist nach 1800 verursacht ist, war es dann möglich, dieses Epos, das wohl nach dem Tod von Junius dem Kodex einverleibt worden war, – wenn auch noch mit Leerzeile im Inhaltsverzeichnis – endlich als echtes Dokument anglischer Dichtung durch einen Dänen veröffentlichen zu lassen. Schade, dass Tamerl trotz guter Vorarbeit diesen geradlinigen Schluss nicht selbst gefunden hat.

 

Literatur

Farrer, J. A. (1907): Literarische Fälschungen (translated from english original, Leipzig)
Kiernan, Kevin S. (1996): Beowulf and the Beowulf Manuscript (University of Michigan Press, USA)
Klier, Walter. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). 31. März 2001.
Tamerl, Alfred (1999): Hrotsvith von Gandersheim. Eine Entmystifizierung (Mantis Verl, Gräfelfing)
(2001): Beowulf – das älteste germanische Heldenepos? (Zeitensprünge 3/2001, S. 493-512, Gräfelfing)
Topper, Uwe (1998) : Die Große Aktion (Tübingen)

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