Die Ostertafel von Périgueux
1. Die Inschrift
Die in ihrer Art einmalige Inschrift zur Bestimmung des Osterdatums befindet sich in der Kirche Saint-Ètienne de la Cité in Périgueux (Frankreich) und ist dort als Sehenswürdigkeit angezeigt sowie durch eine besondere Lampe erhellt. Sie macht den Eindruck einer unfertigen Arbeit eines handwerklich versierten Steinmetzes. Die Kirche war einst die Kathedrale der Stadt und des Bistums, wurde aber nach ihrer Zerstörung 1577 durch eine andere Kirche der Stadt ersetzt. Die beiden vorderen quadratischen Kuppelräume der Ruine sind heute wieder hergerichtet als Pfarrkirche, die man besichtigen kann. Die Kuppelhallen sind genau ost-west-gerichtet, eine saubere Bauleistung der Renaissance.
Die Inschrift ist in der Südwand des Altar-Kuppelraumes etwas erhöht angebracht.
Sie wird meistens ins 6. Jahrhundert nach Christus datiert.
2. Beschreibung der Inschrift (siehe Zeichnung und Foto)
Die acht Zeilen der Inschrift sind insgesamt 173 cm lang und 40,5 cm hoch, die Buchstaben und Zahlen sind etwa 3 cm hoch, die Zeilen haben 5 bis 5,5 cm Höhe; der kleine Extrakasten unten rechts hat nur drei kurze Zeilen von gleicher Höhe, deren letzte nicht bis zum Ende ausgefüllt ist. Die Schriftzeichen sind gut erhalten, alle lesbar; nur ein kleines Stück in der Mitte der obersten drei Zeilen ist beschädigt, läßt aber die Rekonstruktion des Textes zu. Obgleich sich die Inschrift rund zwei Meter über dem Boden befindet, kann man die Daten doch gut ablesen, außerdem kann man auf den Steinsockel steigen, der darunter liegt.
Bei jedem Datum der Liste sieht man jeweils über der Tageszahl eine Bohrung, in die wohl ein Stock oder metallener Griffel gesteckt wurde, womit man den Ostertag des laufenden Jahres anzeigen konnte. Die reine Erwähnung der Tage ohne Mondphase bezeugt, daß sie nur für den Gebrauch für die Gemeinde (liturgisch) und nicht als Instrument für Komputisten (wie etwa der Stein von Ravenna) gedacht war.
Die oberste Zeile ist wichtig für die Beurteilung der Daten:
HOC EST PASCHA SINE TERMINO ET NVM(ER)O CVM FINIERIT A CAPITE REINCIPE
„Dies ist Ostern ohne Begrenzung oder Zahl. Wenn es zu Ende ist, fang am Anfang wieder an!“
Die Begrenzung (Terminus) kann als Osterterminus, also als Tag des Ostervollmonds, aufgefaßt werden, der hier einfachheitshalber nicht erwähnt wird, da eigentlich überflüssig; desgleichen ist die Zahl (Nvmervs), die als Goldene Zahl des jeweiligen Jahres auf Ostertafeln häufig vorkommt, hier weggelassen. Diese Deutung gibt der „Corpus“ (1979). Man kann den Text auch so auffassen: „Hier sind die Osterdaten ohne Ende und Jahreszahl; wenn die Tafel endet, fang von vorne an!“ So hat es Cordoliani (1961) aufgefaßt.
Der zweite Teil des Satzes ist identisch in beiden Interpretationen und besagt alles: Es handelt sich angeblich um eine ewige Tafel. Dies hat auch Bruno Krusch verstanden.
Leider fehlen die letzten vier Daten in der Tafel.
Liste der Daten auf der Tafel:
Zeile 2:
24.3.
12.4.
4.4.
24.4.
9.4.
31.3.
20.4.
5.4.
28.3.
16.4. zehn Jahre
Zeile 3:
8.4.
24.3.
13.4.
4.4.
24.4.
9.4.
1.4.
20.4.
5.4.
28.3.
17.4.
1.4.
21.4.
13.4. 14 Jahre (gesamt 24 J.)
Zeile 4:
29.3.
17.4.
9.4.
25.3.
14.4.
5.4.
28.3 – „Corpus“ hat 23.3.; Gruterus hat 27.3. – korrekt ist 28.3.
10.4.
2.4.
21.4.
6.4.
29.3. Zeilenwechsel im Datum nach ausgeschriebenem MARCIUS – 12 Jahre
Zeile 5:
18.4. (37. Jahr)
9.4.
25.3.
14.4.
6.4.
25.4.
10.4.
2.4.
22.4.
6.4.
29.3. 11 Jahre
Zeile 6:
18.4. (48. Jahr)
4.4. hier müßte es 3.4. heißen – Fehler in der Tafel!
25.3.
14.4.
30.3.
19.4.
10.4.
26.3.
15.4.
7.4.
29.3.
11.4. 12 Jahre (59. Jahr)
Zeile 7:
3.4.
23.4.
14.4.
30.3.
19.4.
11.4.
26.3.
15.4.
7.4.
25.3. – korrekt wäre 23.3. – Fehler in der Tafel!
11.4.
3.4.
23.4. (13. Jahre, gesamt 72 J.)
Zeile 8:
8.4.
30.3.
19.4.
4.4.
27.3.
15.4.
31.3.
20.4.
12.4.
3.4.
16.4.
8.4. (12 Jahre, gesamt 84 J.)
Extrakasten:
31.3.
19.4.
4.4. (Zeilenende)
27.3.
16.4.
31.3. (Zeilenende)
20.4. (nur Zeilenanfang)(zusammen 91 Jahre)
Die Liste ist hier abgebrochen, es fehlen noch vier Daten zur Vollständigkeit des ganzen Zyklus.
3. Zur Veröffentlichungsgeschichte der Tafel
Die früheste heute noch greifbare Erwähnung der Inschrift scheint in Gruterus (Heidelberg 1602/03) vorzuliegen, mehrere Autoren haben sich später darauf bezogen (De Rossi, Giry, Bruno Krusch). Der bei Gruterus für die Inschrift angegebene Text, schreibt Cordoliani (1961), gehe auf eine Abschrift von Scaliger und Pierre Pithou zurück und scheint dort nicht korrekt wiedergegeben zu sein; es sei eine ganze Gruppe von 11 Daten ausgefallen durch flüchtiges Abschreiben. Außerdem sind 5 Daten falsch angegeben, vier davon jeweils um einen Tag zu niedrig. Hier muß es sich nicht unbedingt um Flüchtigkeit handeln, denke ich, es kann auch durch Rechenfehler bei Nichtbeachtung des Schalttages verursacht sein. Die entsprechende Veröffentlichung von Scaliger fehlt heute vermutlich (?), es wäre wünschenswert, sie aufzufinden. Wenn es sich bei den Fehlern in der sogenannten Abschrift um Rechenfehler handeln sollte, dann war diese vielleicht nicht Abschrift sondern Entwurf dieser Tafel.
Alfred Cordoliani (1961), der obige Angaben macht und die Inschrift fachgerecht beschreibt, hat unbegreiflicherweise das Original nicht gesehen, sondern nur auf Grund einer Fotografie beurteilt. Sie ist bester Qualität, leicht perspektivisch verzerrt nach oben, stammt von einem C. M. Jacques von 1960, gelangte durch M. Crozet vom Centre d’étude superieure de Civilisation médiévale in Poitiers an Cordoliani und ist der Veröffentlichung als Tafeldruck beigegeben.
Cordoliani behauptet, daß die Inschrift (‚table’) auf einer Marmortafel sei, die sich ursprünglich „im Chor rechts vom Altar“ befunden habe. Er schließt das vermutlich aus der Beschreibung von Gruterus, die auch Krusch vorlag. Heute befindet sie („die Marmortafel“) sich an der Südwand des ersten Kuppelraumes. Sie müßte nach dem Wiederaufbau der Kirche (nach der Zerstörung durch die Kalvinisten 1577) dorthin verbracht worden sein, wird im Text insinuiert. Außerdem wird behauptet, daß sie lange Zeit vermißt war.
Dies ist die typische Verschleierungstaktik, die die Kirche anwendet, wenn sie Datierungen verwischen will. Es handelt sich nämlich nicht um eine bewegliche Tafel aus Marmor, sondern um eine Inschrift, die in vier Mauersteine (aus dem ortsüblichen Kalksandstein) der Südwand eingeritzt ist, deren Lage nicht verändert worden sein kann seit Errichtung der Kirche. Die Inschrift ist in die fertig verbauten Mauersteine gehämmert worden, wie an den Fugen leicht erkennbar (siehe meine grobe Skizze). Der erste und zweite Kuppelraum sind bei der Zerstörung 1577 erhalten geblieben, es wurden nur die beiden westlichen Kuppelräume der Bausubstanz eingerissen. Die Inschrift befindet sich an ihrer originalen Stelle im „Chorraum“ (wenn man so will) und jedenfalls „rechts vom Altar“ und kann nicht verpflanzt worden sein. Daß von einer Tafel die Rede ist, könnte durch die gewöhnliche Ausdrucksweise gekommen sein, die stets von einer Ostertafel spricht, wenn eine Rechenmethode vorliegt, an der man Ostern abliest. Eine marmorne Tafel dagegen ist nicht vorhanden.
Diese (in derartigen Schriften häufig angewandte) Verschleierung ist notwendig, weil sonst das von den Theologen und Archäologen wie Cordoliani geforderte hohe Alter (6. oder 7. Jahrhundert) nicht vertretbar wäre: Er sagt, sie sei „lange Zeit ins Jahr 547 datiert“ worden (S. 59), wird von ihm aber mit guten Gründen um ein Jahrhundert jünger gemacht. Der nächste Schritt wäre (mein Vorschlag, der noch nicht angewendet wurde), die Inschrift als eine Abschrift der verlorenen Marmortafel zu deklarieren, dann wären alle Spuren beseitigt. Der Kuppelraum ist ein typisches Renaissancebauwerk und wird etwa vor 500 Jahren geschaffen sein. Die Inschrift in der Wand muß daher frühestens aus dem 16. Jahrhundert u. Ztr. stammen. Allein schon die leicht durchschaubare Verschleierungsweise läßt auf die Schwäche hinsichtlich der Datierung schließen.
Eine neuere Beschreibung befindet sich in „Corpus des Inscriptions de la France méditerranéen, Dordogne et Gironde, Bd. 5 (S. 28-31 und Tafel VII), Univ. de Poitiers 1979“ (hier zitiert als „Corpus“). Der Autor von 1979 wiederholt die Aussage von Cordoliani, die steinerne Tafel habe sich ursprünglich (‚primitivement’) rechts vom Altar im Chor befunden, obgleich anzunehmen ist, daß er die Inschrift selbst gesehen hat. Wie er eine solche Behauptung mit seinem Gewissen vereinbaren kann, bleibt ein Rätsel. Mildernd wirkt, daß er nicht mehr von einer Marmortafel spricht, sondern nur noch „Stein“ in der Mauer der Südwand sagt. Die beigegebene Tafel zeigt offensichtlich dasselbe Foto von 1960, leider etwas beschnitten und ohne Herkunftsangabe.
Die Konservatorin des Museums von Périgueux zeigte mir im Museum auf meine Frage nach einer Marmortafel eine schwarze flache Marmorplatte ohne Inschrift, die vermutlich als Untersatz für etwas gedient hatte. Eine weitere Marmortafel gebe es nicht in Périgueux.
Cordoliani hat die beiden Fehler der Tafel bemerkt und richtiggestellt. Im „Corpus“ 18 Jahre später steht nichts davon, dort befindet sich ein neuer Fehler in Zeile 4 der Abschrift.
4. Zur Datierung der Inschrift
Die Tafel trägt keine Jahreszahl, was für ihre praktische Benützung zur Feststellung von Ostern notwendig wäre. Im Gegensatz dazu behauptet Cordoliani (S. 57), der Autor der Tafel hätte es nicht nötig gehabt, eine Jahreszahl anzugeben, da er überzeugt war, daß es sich um einen ewig fortlaufenden Zyklus handele. Dagegen meine ich, es müßte ein Anfangsjahr angegeben sein, sonst wäre die Anwendung der Liste unmöglich, selbst dann, wenn sie ewig fortläuft. Das Problem könnte darin bestanden haben, daß es keine allgemein eingeführte Jahreszählung gab und der Hersteller glaubte, daß die Anzeige durch einen Griffel im Loch ausreichte.
Lange Zeit wurde die Ostertafel auf AD 547 datiert. Wer das Anfangsjahr 547 ermittelte, arbeitete kurzsichtig, denn nach heutiger Rückberechnung hört schon nach den ersten zehn Jahren (der gesamten Zeile 2 der Tafel) die Gleichheit der Daten auf. Wie konnte das möglich sein?
Das Anfangsjahr, das Cordoliani mit strenger Logik findet, ist jedoch 631, wobei die ersten vier Jahre (627-630) des Zyklus fehlen, was schon Krusch feststellte. Die Osterdaten der Liste stimmen mit den theoretisch rückerrechneten auch für diesen zweiten Abschnitt der dionysischen fünf 19-er Zyklen überein, wie Cordoliani sagt. Die Verlegung vom 6. ins 7. Jahrhundert sei damit berechtigt.
Der „Corpus“ datiert die Tafel um ein halbes Jahrtausend später: In der Überschrift seines Textes steht „c. 1136“, womit wohl AD gemeint ist, was wahrscheinlich ein Druckfehler für 1163 ist, wie später im Text ersichtlich. Er stellt das Anfangsjahr 1163 zu einer anderen Inschrift, die sich in einer in die Nordwand des zweiten Kuppelbaus gebrachten romanisch dekorierten (Schein-)Tür befindet, deren Herkunft unklar bleibt. Das linke Kapitell zeigt eine „romanische“ Doppelfigur, ein symmetrisches Fabelwesen. Zusammen mit einem davor aufgestellten Taufstein bildet die Scheintür ein museales Stück in dieser restaurierten Kirche. Sie führt am linken Rahmen eine Inschrift des Erbauers der Tür, Constantin von Iarnac, und darunter das Epitaph eines Johannes („von Asside“, wie der Autor des Corpus behauptet) mit Datum. Demnach sei ein Bischof Johannes am 2. Mai 1169 der Inkarnation des Herrn gestorben, nachdem er neun Jahre weniger sieben Tage in dieser Kirche als Bischof regiert habe. Zwar hat diese Inschrift mit der Ostertafel nichts gemeinsam (außer, daß die Türsteine sich heute in derselben Kirche befinden), aber als Anfangsjahr der Tafel könnte 1163 sehr gut dienen, denn dann geht die Tafel bis 1253 fehlerfrei durch. Das 12. Jahrhundert als Zielpunkt der Inschrift wurde schon von Abbé Lebeuf (1749) vorgeschlagen, „richtigerweise“, wie der Autor des „Corpus“ sagt (S. 30). Man geht allgemein davon aus, daß die Tafel für die Zukunft erstellt war, nicht nachträglich.
Mir hat es den Anschein, als habe man die Inschrift in der Türsäule absichtlich so hergestellt, daß die Regierungszeit des Bischofs zum Anfangsjahr der Ostertafel paßt. Man müßte also beim Anbringen der Inschrift die Tafel auf ein Jahr 1163 bezogen haben, was dann später (bis einschließlich 1961 durch Cordoliani) wieder vergessen wurde. Mathematisch spielt das keine Rolle: Wenn man eine passende Jahreszahl einsetzt, dann stimmt das Osterdatum dieser Sequenz. Das kann immer wieder mal passend sein und muß nicht auf Täuschungsabsicht hinauslaufen.
Paläographisch betrachtet ist die jüngere Zuordnung zu unterstützen: Die Inschrift der Ostertafel zeigt in der ganzen ersten Zeile und in den Monatsbezeichnungen (dreimal ausgeschrieben, sonst stets abgekürzt) Buchstaben, sonst nur römische Zahlzeichen. Diese erste Zeile reicht aus, um auf den ersten Blick schon (die erwähnte Konservatorin war unbefangen und sicher) die Inschrift als unmöglich spätantik oder frühmittelalterlich einzustufen, sondern eher zur Renaissance gehörig, wobei das vom „Corpus“ angegebene 12. Jahrhundert als frühester Termin ihrer Ansicht nach möglich sei (der Autor des „Corpus“ gehörte der Univ. Poitiers an, wo die Konservatorin studiert hat). Warum Fachleute wie Cordoliani oder Krusch das nicht gesehen haben, bleibt schleierhaft. Da einige Buchstaben in zwei Varianten vorkommen (E rund und eckig, desgleichen das M) und das H (rund) und O (oval) eher gotisch aussehen, dürfte meine Zuweisung ins 16. Jahrhundert richtig sein. Sie wird auch dadurch unterstützt, daß die Daten nicht in römischer Manier (abhängig von Kalenden, Nonen und Iden) sondern als Soundsovielter im Monat angegeben werden, was frühestens im 15. Jahrhundert vorzeigbar ist. Marcius (März) mit C statt mit T ist ebenfalls eine junge Schreibweise. Insofern kann von einer Archaisierung oder gar Fälschungsabsicht seitens der Auftraggeber der Ostertafel nicht die Rede sein. Dies trifft eher für das „bischöfliche“ Epitaph zu, wobei die Bezeichnung „Jahr der Inkarnation“ für das 12. Jahrhundert ein auffälliges Problem darstellt. Vermutlich hätte man hier die westgotische ERA vorgeben müssen.
5. Überlegungen zum Sinn der Tafel
Das Hauptanliegen der Tafel ist in der ersten Zeile klar ausgedrückt: einen „ewigen“ Osterkalender zu bieten, soweit sind die meisten Interpreten sich einig. Man setzt auch voraus, daß eigentlich 95 statt 91 Daten angegeben sein müßten, da fünf mal 19 (Mondzyklus) erst eine sinnvolle Anzahl ergeben. Daß es bei der Tafel nicht um eine komputistische Übung geht, ist durch die Einfachheit und „Sparsamkeit“ („Corpus“ S. 29) der Datenanzeige bezeugt. Der „Corpus“ hat weiterhin klargestellt, daß keine komputistische sondern nur eine liturgische Absicht dahintersteht, daß die Tafel also nur für den praktischen Gebrauch in der Gemeinde gedacht war.
Da 95 Jahre eine nicht durch 4 teilbare Einheit sind, ist die Anzahl der darin enthaltenen Tage verschieden, je nachdem an welcher Stelle im vierjährigen Schaltrhythmus dieser Zyklus begonnen wird. Der Unterschied beträgt einen Tag. Wenn sich nun nach 95 Jahren (drei Generationen) jeweils eins von vier Osterdaten um den Wert 1 verschiebt – die anderen drei Daten bleiben korrekt – dann ist das praktisch belanglos, weil man ja weiß, wann Sonntag ist und den fehlerhaften Tag „automatisch“ richtig stellt. Die Tafel bleibt benützbar über drei Zyklen hinweg (285 Jahre). Der Auftraggeber hatte außerdem den mittleren der drei Zyklen ausgewählt, so daß im nächsten Zyklus die Verschiebung des jeweils vierten Ostertages nur um einen Tag weiter erfolgte, während sie im vorherigen Zyklus um einen Tag geringer war. Ein Benützer der Tafel hat das sicher schnell erkannt und sich nicht verwirren lassen.
Allerdings ergibt sich aus heutiger Sicht: Nach dreimal 95 Jahren würde sich für den, der einen unkorrigierten Julianischen Kalender verwendete, die Reihenfolge der Osterdaten radikal ändern. Die zyklische Wiederbenützung der Tafel wäre nur möglich für einen Julianischen Kalender, wie ihn Sacrobosco der Kirche empfahl, indem in 288 Jahren ein Schalttag ausfällt. Nur dann wäre die Tafel „perpetuum“ (ewig). (288 ist 12 mal 24, eine Näherungsformel, die der damaligen Jahreslänge nach Hipparch entsprach).
Warum nur 91 Daten geboten werden statt 95, die zumindest eine dreimalige fast gleiche Abfolge garantiert hätten, ist nicht erklärt worden. Es scheint, daß der Steinmetz einen Fehler beging, als er am Ende von Zeile 4 entgegen seiner Gewohnheit, den Monat stets abzukürzen als MR = März (oder AP = April), das Wort MARCIVS voll ausschrieb und dadurch den Platz für ein Datum verlor. In dem unteren Kasten kam er somit in Bedrängnis und hatte für die letzten vier Daten nur noch den Platz für drei übrig. Warum er nun nicht wenigstens die letzten drei Daten in die Leerstelle eintrug, ist unklar.
Mir kommt der Gedanke, daß die Datenliste bei Anbringen der Inschrift noch nicht als Ganzes vorlag, sondern dem Handwerker erst im Laufe der Arbeit schrittweise mitgeteilt wurde, weil der Komputist noch rechnerisch daran arbeitete. Darum konnte der Steinmetz auch nicht von vorneherein den Raum für die 95 Daten einteilen und mußte schließlich einen kleinen Sonderkasten rechts unten anfangen, den er dann nicht vollendete, weil er entweder starb oder der Komputist starb oder das Unternehmen durch eine Weisung vom Vatikan abgebrochen wurde, weil die Kalenderkommsision sich von Sacrobosco und damit von der unbegrenzten Wiederholbarkeit der 95 Jahreszyklen getrennt hatte. Ebenso wäre denkbar, daß der Auftraggeber aus einer fortlaufend überlieferten Aufzeichnung von Osterdaten die Liste aufstellte, wobei er sich zum Zeitpunkt des Auftrags an den Steinmetz im Jahr 91 der Liste befand. Die letzten vier Daten standen noch aus, sie lagen in der Zukunft. Der Gedanke, daß die Liste am Ende zyklisch sein würde, entsprang dann eher einer Intuition als einer genauen rechnerischen Erkenntnis. Aus allen diesen Möglichkeiten sollte eine als die wahrscheinliche herausgefunden werden. Ich schlage vor, daß die Benützung von Sacrobsocos Vorschlag zur Korrektur des Julianischen Kalenders der Anlaß gewesen sein könnte.
Die Trennung des Vatikans von Sacrobosco auf Grund der neueren Messungen der Jahreslänge durch Ulugh Beg in Persien (um „1440“) hat sehr spät stattgefunden. Auch Kopernikus gründete seine Berechnungen noch auf die alten Angaben von „Hipparch“ (wie sie Sacrobosco verwendete), und mit ihm alle Astronomen seiner Zeit. Der Vorgang der Ablösung dürfte grob in die Mitte des 16. Jahrhunderts gestellt werden, und das gibt auch den Hinweis für den Augenblick des Abbrechens der Tafel. Durch die Kalenderkommission wurde die neue Jahreslänge der Perser endlich anerkannt und die 95-jährige Tafel somit ihrer Ewigkeitsgültigkeit beraubt: Nicht in 288 Jahren fällt ein Schalttag aus (das bewirkte ein Fortlaufen der 95-er Zyklen), sondern schon in 128 (2x2x2x2x2x2x2) Jahren fällt ein Tag aus, lautete das neue Meßergebnis der Perser. Nachdem der Vatikan dies durch eigene Messungen nachgeprüft und für richtig befunden hatte, war die 95-jährige Periode erledigt. In diesem Augenblick hörte der Steinmetz mit seiner Arbeit auf, das war demnach etwa zwischen 1560 und 1580. Es könnte auch sein, daß er im Jahr 1577 gerade diese Tafel meißelte, als durch die Kalvinisten und deren Zerstörungswut seine Arbeit unterbrochen wurde.
Wenn ich Cordoliani richtig verstehe, wäre die Tafel für die Jahre 631-721 gültig gewesen, die fehlenden 4 Jahre hätten also am Anfang gelegen. Ihre Gültigkeit wäre dann auch für 1163-1253 möglich gewesen, nämlich 532 Jahre später, wie das „Corpus“ feststellt. Der 95-er Zyklus vor 1163 weist nicht vollständig dieselben Osterdaten auf: Alle vier Jahre, nämlich im Schaltjahr, liegt der Ostertag der Tafel um einen Tag eher als im Zyklus 1163-1257.
Das Versetzen der Tafel in das 6./7. Jahrhundert oder ins 12./13. Jahrhundert ist allerdings nur dann sinnvoll, wenn man für die Herstellung der Tafel eine andere als die heute übliche Jahreszählung (AD) annimmt. Eine absichtliche Veraltung oder gar Fälschung halte ich für unwahrscheinlich. Der tatsächliche Zeitpunkt der Tafel müßte wegen der Baulichkeit (Renaissancebau) vor nicht mehr als rund 500 Jahren angenommen werden.
Leider kennen wir die Osterdaten vor dem 15. Jahrhundert nicht wirklich, sondern nur aus computistischen oder theologischen Schriften. Sonst wäre es recht einfach, diese Ostertafel zeitlich einzuordnen.
Was nun die Möglichkeiten betrifft, die 95 Osterdaten (von denen 91 fortlaufend in der Tafel stehen) mit rückberechenbaren zusammenfallen zu lassen, muß ich die beiden Varianten durchprüfen: Jahresbeginn am 1. Januar („julianischer Kalender“) und am 1. März („römischer Kalender“).
Je nachdem, wann der Jahreswechsel vorgenommen wird, ergeben sich Verschiebungen um 1 Jahr. Die Zählung der Jahre hat darum eine große Bedeutung zur Anwendung der Tafel. Wenn man bei 1 anfängt (1501), und das Jahr am 1. März beginnen läßt, müßte die Tafel von Périgueux funktionieren, genau wie der Ravennastein, der ein Jahr eher einsetzt als diese Tafel.
Voigt (2005) und Lewin (2005) haben ohne Bedenken mit einem Jahresbeginn am 1. Januar gerechnet, was nicht allgemeingültig war und zumindest für den Vatikan erst im 17. Jahrhundert bezeugt ist.
Es ist aber nach meiner Ansicht nicht nötig, eine Stellung der Tafel in unserem 16. Jahrhundert zu finden (wie ich das früher für die auf dem Stein von Ravenna befindliche Inschrift tat, Topper 2006), denn es sind nur folgende Grundlagen wichtig: Die Tafel behauptet, einen immerwährenden Zyklus der Osterdaten anzuzeigen. Dies wäre (unter der Voraussetzung, daß alle 95 Daten angegeben wären) nur möglich im korrigierten Julianischen Kalender des Sacrobosco, der in 288 Jahren einen Schalttag ausfallen läßt (dreimal 95 ergibt 285, das kommt nahe genug). Im traditionellen Julianischen Kalender (jedes vierte Jahr ist ein Schaltjahr) und im Gregorianischen Kalender (mit zusätzlichem Ausfall von 3 Schalttagen in 400 Jahren) geht das nicht.
Eine willkürliche Verschiebung der Ostertafel von Périgueux in „irgendein“ Jahrhundert ist unmöglich wegen der Mondstellung. Meiner Ansicht nach müßte die Gültigkeit in die Mitte des 16. Jahrhunderts oder bald danach fallen. Eine Voraussage der Osterdaten wäre dann mit dieser Liste nicht geplant gewesen, sondern eine Dokumentation der abgelaufenen und eine Erwartung der Wiederholung derselben nach dem Ende der Liste. Passend dazu ist insbesondere das hier angewandte Prinzip von Sacrobosco, der traditionell ins „13. Jahrhundert“ gestellt wird, aber in seinen Schriften eindeutig zur Renaissance gehört, da er ja einen Sprung über zehn Tage vorschlug zwecks Wiederherstellung des traditionellen Frühlingspunktes, und das ist erst in der Zeit von Gregor XIII als richtig erkannt worden. Sacroboscos Schaltregeländerung wurde jedoch nicht übernommen, da man inzwischen einen genaueren Wert der Jahreslänge gemessen hatte, das sogenannte „alfonsinische Jahr“, das vermutlich auf Ulugh Begs Messungen (Iran 15. Jh.) zurückging.
Literatur
mehrere der angebenen Werke habe ich nach Cordoliani zitiert, ohne sie einsehen zu können; hier versehen mit (.?.)
Cordoliani, Alfred (1961) :”La table pascale de Périgueux”, in: Cahiers de civilisation médiévale 4 (1961) 57 – 60.
Corpus des Inscriptions de la France méditerranéen (1979) t.5 : Dordogne, Gironde (Univ. de Poitiers, Centre d’Ètude superieure de Civilisation méditerraneen, avec l’aide du CNRS)
Giry, – (–): Manuel de diplomatique (. ?.)
Gruterus, J. (1602): Inscriptiones antiquae urbis Romanae (Heidelberg) (.?.)
De Rossi, (–): Inscriptiones christianae urbis Romae (. ?.)
Krusch, Bruno (1880): Studien zur christlich-mittelalterlichen Chronologie, Bd.I
(1884): “Die Einführung des griechischen Paschalritus im Abendland” in: Neues Archiv, Bd. IX, S. 129-141
Lebeuf, Abbé Jean (1749): Inscriptions gallo-romaines – (.?.)
Lewin, K.-H. (2005): Komputistik contra Phantomzeitthese, in: Zeitensprünge 17, Heft 2, 455-464
Sacrobosco, Johannes (auch Hilligenwald, Hollywood) (“1235”): De Anni Ratione (16. Jh., viele Drucke)
Topper, Uwe (2006): Kalendersprung (Tübingen)
Voigt, Ulrich (2005): Über die christliche Jahreszählung, in: Zeitensprünge 17, Heft 2, 420-454
(2009): Zyklen und Perioden (Likanas, Hamburg)
Uwe Topper, Dezember 2010
Mein Dank geht an Dr. Ulrich Voigt, der mich durch diese seine neueste Forschungsanregung zu einer Fahrt nach Périgueux veranlaßte.
Nachtrag:
Im Oktober 2011 fuhr Alexander Topper nach Périgueux und machte eine neue Zeichnung der Inschrift, die genauer ist als meine; es sind darin nicht nur alle Löcher des Steckkalenders verzeichnet, sondern auch die Daten exakt wiedergegeben, also z.B. rechts unten AP IIII und MR XXXI (bei mir fehlt jeweils ein I).
Ein weiterer Punkt konnte durch Alexanders Besichtigung der Ostertafel geklärt werden: Ich hatte vorgeschlagen, daß der Steinmetz im letzten Kasten unten rechts mindestens ein weiteres Datum hätte einfügen oder sogar den Platz für eine weitere Zeile freimachen können. Alexander fand tasächlich eine geglättete Fläche unterhalb der letzten Linie des kleinen rechten Kastens, so daß die Absicht, weitere Daten einzutragen und von den ursprünglichen 84 auf 95 zu vervollständigen, deutlich wird.
An der gegenüberliegenden Wand desselben Altarraumes der Kirche fand Alexander eine weitere Inschrift in derselben Schriftform in zwei langen Kästen. Sie dürfte direkt mit der Ostertafel zusammenhängen:
PRESUL: PETRVS:ERAT:IACET:hIC:INPVLVERE:PVLVIS:
SIT:CELUMREQVIES:SIT:SIBI:VITA:DEVS:OBIIT:DECiMA:DIE:APRILIS:
Ich übersetze grob:
„Der früher Petrus war, liegt hier im Staube; Staub wird er sein; der Himmel sei ihm Ruhelager, wie Gott Leben ist. Er starb am zehnten Tag des April.“
Wie bei der Ostertafel fehlt auch hier die so wichtige Jahresangabe für das Todesdatum, wie wir das von manchen Grabsteinen kennen. Da hier wie auf der Tafel der Monatstag als Zahl genannt wird, darf auf eine späte Abfassung geschlossen werden, 16. Jahrhundert. Daß weder Abstammungsname noch Titel des Bestatteten, sondern nur ein einziger Vorname genannt wird, mag den wundern, der diese Art von postumen Inschriften noch nicht kennt. Sie sind absichtlich allgemein gehalten.
Uwe Topper März 2012
2. Nachtrag:
Ulrich Voigt fand den Text von Bruno Krusch (1884): “Die Einführung des griechischen Paschalritus im Abendland” (in: Neues Archiv, Bd. IX, S. 129-141) und machte ihn mir zugänglich. Daraus ergab sich:
Auch Krusch (S. 130) hat das Original nicht gesehen, er spricht wie seine Vorgänger von einer Marmortafel. Schade, denn durch den Augenschein hätte dieser Fachmann vermutlich erkannt, daß es sich um eine Arbeit der Renaissance handelt. Warum er das 12. oder 13. Jh. nicht als zweite Möglichkeit vorschlägt, wie einige seiner Nachfolger, bleibt rätselhaft. So glaubt er an das um ein Jahrtausend ältere Datum, möchte es aber um rund ein Jahrhundert später ansetzen als seine Vorgänger Gruterius und De Rossi, denn er wundert sich, daß die beiden Gelehrten ihren krassen Irrtum nicht bemerkten. Es dürften kaum mehr als fünf Ostertage der Tafel verloren sein, sagt er, so daß die Gesamtzahl 95 betragen haben wird, „obwohl nach 95 Jahren nicht durchweg dieselben Ostertage wiederkehren.“ Nicht durchweg, aber fast, möchte man lesen und damit die beanstandete erste Zeile von der ‚ewigen‘ (oder zumindest mehrfachen) Wiederkehr der Daten retten. Krusch läßt die Tafel mit dem 6. Ostertag eines 19-er Zyklus beginnen, und zwar im Jahr 631. Dann sind nur die Eintragungen für 635 und 647 falsch (oder verstümmelt), abgesehen von den drei Schreibfehlern für 675, 699 und 720. Die Tafel von Périgueux „zeigt sich damit als eine der correctesten Osterlisten, die wir haben“, sagt Krusch.
Dieser Vorschlag von Krusch ist heute weitgehend anerkannt, sofern man nicht die Datierung ins 12./13. Jh. vorzieht.
Krusch sagt, daß diese Osterfestberechnung nach dem griechischen Muster erfolgte, wie die des Dionysius Exiguus. Würde die Tafel schon 627 beginnen, wie sie eigentlich sollte, dann würde sie unmittelbar an den Kanon (437 bis 532) des Dionysius anschließen, wie jene handschriftliche Mitteilung des Abtes Felix aus Italien, dessen Schlußjahr ebenfalls 721 ist.
Wir haben hier den Fall, daß Tafeln mit 95 Daten aufgestellt und sogar bis zu dreimal hintereinandergereiht wurden. Die nötigen Veränderungen zur korrekten Benützung hatte Dionysius in seinem Prolog vorgestellt, wie Krusch schreibt. Er hatte andeutungsweise vorgeschlagen, was man beachten muß, um die Nachfolgetafel zu berechnen.
30. Mai 2012
2 Kommentare
Rainer Schmidt
Ich las vorgestern den Artikel über die Ostertafel von Périgueux. Sehr informativ, allerdings hätte ich da noch ein paar Anmerkungen zum Grab des Bischofs und zu der Übersetzung der (küchen)lateinischen Inschrift, die Alexander Topper gefunden hatte.
„Der früher Petrus war, liegt hier im Staube; Staub wird er sein; der Himmel sei ihm Ruhelager, wie Gott Leben ist. Er starb am zehnten Tag des April.“
Die bezieht sich nämlich auf den Nachfolger des populären Jean d’Asside im Bischofsamt, Pierre Mimet, der am 10. April 1182 starb. Mimet ist der, der “früher Petrus war”.
Ich würde es vielleicht so übersetzen:
PRE[A]SUL PETRUS ERAT IACET HIC IN PULVERE PULVIS SIT – Der Bischof Pierre war, liegt hier, um von Staub zu Staub zu werden,
C[O]ELUM REQUIES SIT SIBI – seine Ruhestätte wird er im Himmel finden
VITA DEUS OBIIT DECiMA DIE APRILIS – er empfahl Gott sein Leben am 10. April [also nach gregorianischer Zeitrechnung am Samstag, den 17.4.1182, 20 Tage nach Ostern, das in diesem Jahr auf dem 28. März fiel]
Michael Meisegeier
Die Kirche Saint-Ètienne de la Cité in Périgueux (einschließlich der Kuppeln) ist eindeutig ein Bau des 12./13. Jh. und kein Renaissancebau.
Die Behauptung der französischen Wikipedia [https://fr.wikipedia.org/wiki/Église_Saint-Étienne-de-la-Cité], dass der Bau im 11. Jh. begonnen und mit dem Chor im 12. Jh. fertiggestellt wurde, ist trotzdem falsch. Der Bau entstammt dem 12./13. Jh. Der Fehler von ca. 100 Jahren (95?) hat sich auch in diese Baugeschichte eingeschlichen. Bei meinem Besuch der Kirche (vor etwa 20 Jahren) habe ich leider die Inschrift damals übersehen.
Sie schreiben “… aber als Anfangsjahr der Tafel könnte 1163 sehr gut dienen, denn dann geht die Tafel bis 1253 fehlerfrei durch.” Nach meiner Auffassung gibt es nur diese Lösung und macht nur diese Lösung Sinn. In der neu errichteten Kirche hatte der Klerus eine Tafel, aus der er für die nächsten Jahre den Ostertemin entnehmen konnte.
Auch der Ravennastein ist m. E. ein hochmittelalterliches Werk. Kopfjahr 1064.
Ich bin kein Spezialist auf diesem Gebiet, doch nur so ergibt sich für mich ein Sinn.