Hardouins Zweifel zu Dante

Besprechung von Uwe Topper zu Hardouins Zweifel an der Zeitstellung der Göttlichen Komödie von Dante

Die Schriften des Erzkritikers der Chronologie, Jean Hardouin, sind heute nur noch schwer zugänglich, vor allem seine zerstreuten kurzen Abhandlungen. Hardouin hat sich auch sehr präzise über die Zeitstellung von Dantes Göttlicher Komödie geäußert, doch ist dieser Aufsatz nur in einer längst verschollenen Zeitschrift 1727 erschienen. Zum Glück gibt es eine englische Ausgabe (London 1847), noch dazu mit Anmerkungen des Herausgebers, die es uns ermöglicht, Einblick in diese Gedanken Hardouins zu gewinnen. Bei Abfassung meiner Artikel über Dantes Zeitstellung (klick hier: Dante) kannte ich diesen Traktat noch nicht. Er unterstützt meine Überlegungen nur teilweise, dennoch möchte ich ihn zitieren.
Diese Schrift verwendet freizügig, wie damals üblich, verschiedene Sprachen, hier Französisch, Toskanisch und Latein, dazu die Anmerkungen in Englisch, weshalb ich, um unseren deutschen Lesern die Lektüre zu erleichtern, das gesamte Traktat ins Deutsche übertragen habe. Einen Reprodruck der Ausgabe von 1847 findet man im Internet.

(Gedruckt) in Paris bei Benjamin Duprat, Buchhandlung, rue du Cloître-Saint-Benoît, no. 7 und in London bei C. F. Molini 1847

Vorbemerkung des Herausgebers

Die folgende Abhandlung des gefeierten Paters Harduinus wird hauptsächlich deswegen wiedergedruckt, weil damit eine Lücke in der Bibliothek des Herausgebers gefüllt werden soll, die sich rühmen kann, eine reichhaltige Sammlung von Ausgaben der Göttlichen Komödie Dantes und Arbeiten zu ihrer Erklärung zu besitzen.
Die Abhandlung konnte man nur im Journal de Trévoux von 1727 finden, das der Herausgeber lange vergeblich gesucht hat. Schließlich hat sich Herr B. Duprat aus Paris mit seiner Verbindung zur Königl. Bibliothek und der Bibliothek des Institutes Zugang zu dem Werk verschafft und dieses dankenswerterweise abgeschrieben und das Manuskript dem Herausgeber geschenkt.
Es ist so seltsam widersprüchlich und bezeichnend für den Autor, daß das Werk in der literarischen Welt und der des Danteforschers zumal anerkannt werden muß, weshalb einige Exemplare mehr gedruckt wurden als für die Verbreitung unter den Freunden des Herausgebers nötig gewesen wäre.
Die Abhandlung behauptet mit historischen Tatsachen zu beweisen, daß die Göttliche Komödie nicht von Dante Alighieri, dem berühmten Dichter und exilierten Florentiner, der 1321 starb, geschrieben sein kann; und zeigt aus seinem inneren Geist heraus die starke Vermutung, daß sie von einem Schüler des englischen Ketzers und Reformators Wiclif, der 1384 starb, dreiundsechzig Jahre nach Dante, geschrieben wurde.
Eine fähige und ausgearbeitete Antwort auf die Abhandlung wird im ‚Verona-Dante‘ 1749 gegeben, die Pater Hardouins Paradox völlig umwirft, soweit es die historischen Fragen betrifft; aber der Schreiber lehnt es ab, die theologische Frage und die vermutete Böswilligkeit der wiclifschen Ketzerei zu berühren, indem er den Leser zwecks Beantwortung dieser Punkte auf den beigegebenen Kommentar von Pater Venturi hinweist.
Venturis Kommentar wurde zuerst 1732 in Lucca veröffentlicht. Er ist Papst Clemens XII gewidmet, und im Vorwort erklärt Venturi seine Überzeugung, daß Dante nicht nur fest im katholischen Glauben stand sondern auch von Gefühlen einzigartiger Frömmigkeit bewegt wurde. Er gibt aber auch zu, daß in diesem Gedicht einige Meinungen ausgedrückt werden, die nicht mit der reinen Lehre übereinstimmen, und weniger noch mit der nötigen Achtung vor dem Heiligen Stuhl; und er sagt auch, daß er es wegen der großen Autorität des Dichters für nötig hielt, alle solche tadelnswerten Stellen aufzuzeigen und eine Berichtigung ihrer gefährlichen Meinungen zu liefern.
Der Herausgeber hat einige kurze Bemerkungen zu den Zweifeln Hardouins zugefügt und besonders zu den Versen Dantes, denen er ablehnend begegnete.
Venturi scheint diese Veröffentlichung von Hardouin nicht gekannt zu haben, obgleich die beiden Zeitgenossen waren und beide Mitglieder des Jesuitenordens.
Die folgende vermutliche Grabinschrift für Hardouin von Herrn Vernet, Professor für Theologie in Genf, zeigt in schlagender Weise die literarischen Verdienste und Mängel dieses bemerkenswerten Mannes:

In Erwartung des Jüngsten Gerichts ruht hier ein widersprüchlicher Mann, von französischem Volke und Römischer Religion, das Mentel der Literaturwelt, Verehrer, Pfleger und Zerstörer der Vergangenheit, von überragender Gelehrsamkeit, der kühne und unerhörte Erklärungen wachsam herausgab, kritisch und fromm handelnd, gläubig als Knabe, mutig als Jungmann, verwirrt als Greis. Mit einem Wort gesagt: Hier ruht Harduinus, gest. 1729 im Alter von 83 Jahren.

Ende der Vorbemerkung (10 Seiten)

Es folgt der französische Text von Hardouin, erschienen im: Journal de Trévoux, August 1727, Beitrag 76

Zweifel am Alter Dantes
von P. H. J. (Pater Hardouin, Jesuit)

Wenn man Dante oder Tasso sagt, meint man normalerweise die Dichtung, und man bezeichnet nur indirekt den Autor derselben. Hier handelt es sich jedoch zugleich um das Alter des Gedichtes und das seines Dichters. Die allgemeine und wahrscheinliche Auffassung ist die, daß Dante 1321 in Ravenna gestorben ist. Der sicherste Autor, von dem wir das erfahren, ist Raphael Volaterranus (Anm. 1), der in seiner Anthropologie, Band 21, S. 638, ihn 1265 geboren und 56 Jahre alt geworden sein läßt. Er wußte das aus der Überlieferung der Gelehrten seines Landes oder durch irgendein anderes Dokument, das echter war als das einzige Zeugnis von Jean Villani (Anm. 2) oder dessen Nachfolgern.
Diese Überlieferung hat den Dichter dazu bestimmt, wenn er ein anderer als Dante war, unter den Nachkommen von Hugo Capetinger nur Philippe und Ludwige aufzuzählen. Denn Karl der Schöne, der der erste dieses Namens der dritten Abstammungslinie (der Könige) ist, begann am 2. Januar 1322 zu regieren. Der Dichter hätte zu den Philippen und Ludwigen auch Karle (Carli) aufführen müssen, wenn er dessen Herrschaft erlebt hätte, und wäre es nur für sechs Jahre.
Wenn der Dichter aber diese Regierung nicht erlebt hatte, nicht einmal teilweise, wie kommt es dann, daß er im 20. Gesang des Fegefeuers bei den Namen der Heiligen auch Thomas von Aquin (Anm. 3) erwähnt, dessen Heiligsprechung erst 1323 erfolgte?
Und wenn er nicht die ganze Herrschaftszeit von Karl dem Schönen miterlebt hat, wie konnte er dann im 27. Gesang des Paradieses den Einzug von Ludwig dem Bayern in Rom (Anm. 4) voraussagen, wo als Gegenpapst Petrus Corberia 1328 eingesetzt wurde, im ersten Regierungsjahr von Philipp von Valois? War Dante Prophet? (Anm. 5)
An dieser Stelle verbreitet er wilde Beschimpfungen gegen den Heiligen Stuhl, die stark an die Schule von Wiclif erinnern. (Anm. 8) Er läßt dort nämlich den St. Petrus sagen, daß außer seinen ersten sechzehn Nachfolgern bis zu St. Urban der Stolz und die Habgier der anderen ihn stöhnen läßt, besonders aber die Unmäßigkeit der französischen Päpste. Es ist ein übles Bild, das er von ihnen entwirft, das ich nicht wiedergeben würde, wenn es nicht nötig wäre, wie man im Folgenden sehen wird, um die Eigenheit dieses Gedichtes zu zeigen, das man zu sehr lobt, und seines Dichters, den man nicht genug kennt.

Originaltext: La vesta di pastor lupi rapaci … io non ascondo (vier Terzinen):

„Im Kleid des Hirten sieht man von hier oben
auf jeder Weide gier’ge Wölfe gehn;
Schutz des Herrn, was zögerst du so lange!
Gascogner rüsten sich und Kahorsiner,
von unserm Blut zu trinken. Hoher Anfang,
zu was für schnödem Ende mußt du sinken!
Doch die mit Scipio Rom, den Ruhm der Welt,
erhielt, die hohe Vorsehung, zur Hilfe
wird bald sie, wie ich schon erkenne, eilen.
Und du, o Sohn, der ob der Erdenschwere
noch dorthin wiederkehrst, tu auf den Mund,
und birg den andern nicht, was ich nicht berge.“

Der kahorsinische Papst, von dem er (Vers 58) spricht, ist Johannes XXII, geboren in Cahors; der gasconische ist Klemens V, sein Vorgänger, geboren in der Diozese von Bordeaux (Gascogne). Der Dichter läßt damit St. Petrus voraussagen, und dieser befiehlt ihm, das zu veröffentlichen, daß die Vorsehung durch den Arm eines zweiten Scipio demnächst Rom helfen wird und ihr wie der erste damals den Vorzug zurückgeben wird, die ruhmreichste Stadt der Welt zu sein, indem er den Papst und das Papsttum dorthin bringt und es Avignon entzieht. Wenn der Dichter kein Prophet ist, konnte er St. Petrus so nur nach dem Ereignis sprechen lassen. Der Dichter hatte hier die Revolte von Ludwig dem Bayern gegen den Heiligen Stuhl und Johannes XXII, den er abgesetzt hatte, im Blick; eine Revolte, die ihn dazu führte, einen Gegenpapst in Rom einzusetzen und dort ein Gesetz zu erlassen, das Raynaldus als Nr. 21 des Jahres 1328 überliefert, und das besagt, daß der Papst von nun an verpflichtet sei, fortwährend in Rom zu residieren, andernfalls er das Pontifikat einbüße, ipso facto; und das hieße, sagt der Dichter, Rom seinen alten Glanz zurückgeben, ein Akt, der eines Scipio würdig sei, eines obersten Befehlshabers der römischen Armeen.
Man ist überrascht, daß Dante, der ein Welfe war, in seinem ganzen Gedicht den Kaiser und das Reich bevorzugt. Einige schließen daraus, daß er zum Verräter wurde und zu den Ghibelinen überlief. Eher ist es so, daß der Dichter die Päpste haßte, wie Wiclif, und die Kaiser, selbst wenn sie exkommuniziert waren, bevorzugte, wie der echte Dante in seinem Buch „Von der Monarchie“, womit er durch Bartole, Voleterran und St. Antonin und den Heiligen Stuhl zum Ketzer erklärt wurde. Dieser siegreiche Einzug von Ludwig dem Bayern in Rom und die Einsetzung eines Gegenpapstes Petrus von Corberia geschah erst 1328, wie ich sagte. Das Gedicht ist darum jünger als der Tod des echten Dante (Anm. 7).
Und mehr: Ich glaube im 20. Gesang des Fegefeuers zu erkennen, daß es mehr als neunzig Jahre jünger als der echte Dante ist. Das ist die Stelle, an der er Hugo Capet sagen läßt (nach der Ausgabe Venedig 1491, die mir die genaueste zu sein scheint):

Originaltext : Chiamato fui di lá Ugo Ciapetta …in panni bigi (zwei Terzinen)

„Man nannte mich dort jenseits Hugo Capet;
die Ludwigs zeugt ich alle und die Philipps,
von denen Frankreich neuerdings regiert ward;
mein Vater war ein Schlächter in Paris.
Als bis auf einen, der die Kutte trug,
erloschen war das Haus der alten Fürsten,
fand ich in meiner Hand der Herrschaft Zügel
so sicher ruhn …”

Die Ausgabe von Mantua 1472 hat statt
„Figliolo fui d’un beccar di Parigi“ (Sohn war ich eines Pariser Schlächters)
„Figliol fui d’un beccaio di Parisi“
was sich nicht auf das folgende „bigi“ reimt.
Die Ausgabe von Venedig 1477, der die Akademie von Crusca folgt, hat:
„Figliol fui d’un beccaio di Parigi“,
ein grober Vers, dessen Rhythmus gezwungen klingt.

Der Dichter läßt also König Hugo sagen: „Von mir sind die Philippe und Ludwige ausgegangen, die seit kurzem Frankreich beherrschen. Ich war der Sohn eines Metzgermeisters aus Paris, als die Linie der alten Könige ausstarb bis auf einen, der zu einem Mönch degradiert wurde. Damals gab man mir den Namen Hugo Capet.“
Der Dichter scheint hier dumm und böswillig. Aus den ersten beiden Linien unserer Könige, die in allen unseren Geschichtsbüchern stehen, macht er eine einzige, von der er sagt, daß der letzte ein Daniel war, alias Chilperich II, der in ein Kloster floh. Sodann bringt er eine bösartige Deutung des Namens Capet, den er von dem lateinischen Verbum capere (fangen) ableitet, italienisch chiappare, was rauben, berauben, sich aneignen bedeutet, um zu verstehen zu geben, daß Hugo sich die Königswürde geschickt aneignete, als er sah, daß der Thron verlassen war.
In der Folge will er jedoch nicht wörtlich verstanden wissen, daß Hugo Capet der Sohn eines Metzgers war. Er gibt nicht vor, den Ursprung des Hauses Frankreich zu erniedrigen. Hätte er das vorgehabt, er hätte sich darauf beschränkt, von einem Metzgersohn zu sprechen. Denn Metzger von Paris besagt nicht mehr als Metzger von Vaugirard, solange Metzger nur bedeutet: einer der Rinder tötet, Kälber und Schafe, um deren Fleisch zu verkaufen. Er wußte, daß Metzger von Paris im 15. Jahrhundert beträchtlich mehr bedeutete. Er wußte und verleugnet es nicht, daß Hugo Sohn des Grafen von Paris war, aber er wollte scherzen im Sinne seiner Zeit. Paris war unter Hugo sehr eingezwängt, und Graf von Paris zu sein hieß: gefürchtet zu sein in Paris, Macht zu haben und Paris zittern zu lassen. Und das ist, der Dichter weiß es genau, eben das, was ein Metzger von Paris heute macht mit seinen Helfern, auch wenn Paris jetzt zweimal so groß ist. Tatsächlich sind die Metzgermeister manchmal die Herren von Paris, Vorsteher der Händler, und in anderen Roben die reichen Leute, die Begüterten unter dem Volk, die ihren Beruf nicht im Einzelnen ausüben. Ihr Einfluß wuchs dermaßen, daß sie Vierzehnhundertelf (das ist der tatsächliche Zeitpunkt des Gedichtes des falschen Dante), 1411, ganz Paris zittern ließen durch die Macht, die sie über Leute dieses Berufes und die Bevölkerung ausübten, sagt P. Daniel in seiner Geschichte Frankreichs (Band III, Seiten 909 und 910). Das ist sehr verschieden von der groben Vorstellung, die sich die Gelehrten vom Geist des Dichters gemacht haben! Aber er verriet sich ohne es zu merken. Wer sich auskennt, dem sagt er damit, daß er neunzig Jahre nach dem Tod des echten Dante starb. Er ahnte nicht, daß sein Geheimnis einen Ödipus treffen würde. (Anm. 9)
Einige Verse vorher läßt er die Zeit von Philipp dem Schönen nicht verstreichen, um dadurch seine Dichtung als Werk von Dante erscheinen zu lassen, indem er einige Taten unserer Könige darstellt. Er läßt Philipp durch Hugo Capet (im selben 20. Gesang) beschuldigen (Anm. 10), er habe in Flandern Douai, Gent, Lille und Brügge eingenommen.

Ma se Doagio, Guanto, Lilla e Bruggia
Potesser, tosto ne farian vendetta.
„Doch hätten Douai, Lille und Gent und Brügge
nur Macht genug, so folgte bald die Rache.“

Er läßt König Hugo weissagen, daß diese flandrischen Städte, die Philipp der Schöne eingenommen hatte, sich durch die Vernichtung seiner Armee rächen würden, was 1302 geschah; aber er täuschte sich hier in einigen Punkten. 1294 (einige geben 1297 an) nahm Philipp der Schöne Douai und die Festungen um Lille ein. Brügge, sagt man, öffnete ihm seine Tore; aber er wagte nicht, Gent anzugreifen. Könnte ein Schriftsteller der Zeit von Philipp dem Schönen diese Fakten, die jeder Historiker berichtet, nicht gewußt haben, und Gent, wo man sich nicht zu zeigen wagte, unter die eroberten Städte einreihen?

Im 29. Gesang des Fegefeuers sagt er von den Alten der Offenbarung, daß sie liliengekrönt gingen:

Coronati venian di fior da liso (Anm. 11)
„sah vierundzwanzig Älteste, zu zweien
und zwein bekränzt mit Lilien, ich kommen.“

Das ist das, was wir heute Lilienblüten nennen, aber sie waren nicht die Kronen unserer Könige, weder auf ihren Statuen noch auf ihren echten Siegeln oder ihren Münzen, zumindest nicht bis Philipp von Valois, und deren Gebrauch ist sehr selten bis zu Charles IV . Charles V oder der Heilige selbst ist nur mit Eichen bekränzt an der Kirchentür der Groß-Augustiner von Paris, wie auch die Statue von Ludwig dem Heiligen an der Kirchentür der Fünfzehn-Zwanzig. Und Charles VI begann seine Regierung erst 1379.

Währenddessen müssen wir diesem Dichter zugestehen, daß er uns durch dieses Wort‚ ‚da liso’ (von Lilien) den wahren Ursprung der Lilienblüten in den Wappen Frankreichs lehrt. Es sind die Blumen, die am Ufer des Lilienflusses wachsen, der Artois und Frankreich von Flandern trennt, seit der Heirat von Philipp August mit Elisabeth von Hennegau (Hainaut). Der Dichter wiederholt dasselbe Wort, wo er von der Beleidigung erzählt, die Papst Bonifatius VIII in Anagni widerfuhr, und zwar im selben 20. Gesang des Fegefeuers.

Veggio in Alagna … Cristo esser catto.

„Daß alte Schuld und künft‘ge minder scheine,
seh ich die Lilien in Anagni einziehn
und im Statthalter Christum selber fangen.”

Petrarca (Anm. 12), geboren in Arezzo in der Toskana und gestorben 1374, hat diese Dichtung seines Landsmanns nie gesehen. Man könnte sogar sagen, daß er nie geglaubt hat, daß der echte Dante ein großer Dichter war; denn alles, was er im zweiten Band seiner Rerum memorabilium (Erinnerungswerte Dinge), Kap. IV, S. 480 sagt, ist dies: „Dante Alighieri, mir selbst neulich bekannt, war ein Mann der klarsten Volkssprache aber bescheidener Sitten durch Selbständigkeit und freiere Rede, der im jugendlichen und lernenden Alter den Ohren und Augen unserer Prinzen angenehm war.“ „Seine größte Reputation war, daß er seine Sprache gut zu benützen wußte, das heißt die toskanische Sprache; aber er war ein bißchen unbeliebt wegen seines Stolzes und seiner Widerborstigkeit und wegen der zu großen Freiheit, mit der er von den Großen und vor ihnen zu sprechen wagte. Sie konnten es nicht ertragen, denn er ärgerte sie mit seinen scharfen Worten.“ Das ist alles, was er (Petrarca) an diesem berühmten Landsmann zu loben weiß. Danach berichtet er von dessen Exil und seinem Rückzug nach Verona, und das ist alles.
Raphael mit dem Zunamen Volaterranus (Anm. 13), weil er aus Volaterra in der Toskana stammte, der gegen Ende des 15. Jahrhunderts wirkte, kannte diese Dichtung gar nicht, als er den echten Dante im 21. Band seiner Anthropologie, Seite 638, bespricht: „Dante war ein florentinischer Dichter aus dem Geschlecht der Alighieri, anfangs Durantes geheißen, später abgekürzt, wie man es bei Knaben tut, geboren 1265 … Von Kindheit war er der Dichtung zugetan: In der Jugend liebte er Beatrice, der er viele Lieder widmete. Erwachsen nach erfolgten Studien schuf er das herausragende Werk, das erhalten blieb (exstat), wobei er die Lieder in Latein begonnen hatte; deren Anfang lautet: Ultima regna canam, in denen er höchstes Lob zollt… Seine ganze Hoffnung auf Ravenna verliert er … In seiner Muße vollendete er sein Werk …Voller Schmerz erlosch seine Seele im Alter von 56 Jahren (das ist im Jahre 1321). Er schrieb außerdem das kleine Buch „Von der Monarchie“, usw.“
Gibt es da auch nur eine Silbe, in der die berühmte Dichtung, die dreifache Komödie von Hölle, Fegefeuer und Paradies vorkäme? Sagt er nicht ausdrücklich, daß er außer der kleinen Abhandlung von der Monarchie nur ein einziges Werk geschrieben habe, das er zunächst in lateinischen Versen entwarf und, weil ihm das nicht glückte, es danach in Italienisch umschrieb, in dem er glänzte? Aber dieses Werk ist etwas ganz anderes als die dreifache Komödie, und es ist verloren. Durch Überlieferung kennt man die Neigung, die Dante für eine gewisse Beatrix hegte, von der Volaterranus hier spricht. Und diese Überlieferung benützte der Autor der Dichtung in den letzten Gesängen seines Fegefeuers, um sie als von Dante erscheinen zu lassen. So ist diese Dichtung des Begründers und Vaters der toskanischen Sprache, nach dem Urteil von Paul Jove, welches sein Anteil auch immer gewesen sein mag, in der Lombardei oder sonstwo, am Ende des 15. Jahrhunderts in der Toskana noch nicht angekommen. Dante war durch dieses Werk bei seinen gelehrten Landsleuten nicht bekannt, obgleich es (angeblich) in Venedig seit dem Jahr 1472 gedruckt wurde.
Johannes Villani (Anm. 14) und dessen Bruder Matthias sowie Philipp, der Sohn des Matthias, die die Historia des Johannes fortsetzen, sind drei Autoren, die eigentlich nur einer sind, wie auch verschiedene andere, die unter der Bezeichnung „Fortführer“ von Aimoin, Sigebert, Nangis und ähnlichen auftauchen. Villani jedenfalls, der von Dante spricht und ihm im 9. Band Kap. 135 die dreifache Komödie von Hölle, Fegefeuer und Paradies zuordnet, sowie die beiden, die ihn fortführten, wie man sagt, sind nur bekannt durch diese Namen, die sie selbst geprägt haben, indem sie sie an den Anfang ihrer Historia setzten. Niemand hat von ihnen oder ihrem Werk vor dem Ende des 15. Jahrhunderts berichtet. Da ihr Werk mehr als vierzig Jahre jünger sein kann als die besagte Dichtung, braucht man sich nicht zu wundern, wenn Villani in dieser Weise davon spricht, sei es, daß er selbst getäuscht wurde oder uns täuschen wollte.
Wer die Dichtung (Anm. 15) des falschen Dante als epische oder Heldendichtung ansieht, wie es Castelvetro tut sowie der hinlänglich bekannte Autor der italienischen Grammatik von Port-Royal, kennt nicht die einfachsten Regeln und die Grundteile einer epischen Dichtung, nämlich: den Anfang oder Knoten; die Mitte oder Auflösung des Knotens, und schließlich das Ende oder Ziel der Dichtung. So ist die Ilias Homers aufgebaut. Der Knoten ist der Zorn des Achilles, der den Sieg der griechischen Waffen aufhält; die Auflösung ist der Tod seines Freundes Patrokles, dem er für die Schlacht seine Waffen geliehen hatte, und der durch Hektor besiegt und entwaffnet wurde; denn die Lösung des Achilles, der seine Waffen wieder aufnahm und den Tod des Freundes rächte, zerbricht den Knoten und führte am Ende zur Zerstörung des Hauses Ilion, was sich nach dem Tod von Hektor ereignete. Diese Ausrottung der Linie von Ilion ist der Titel der Dichtung, und das ist ihr Schluß. Was wäre damit vergleichbar in den drei Teilen des falschen Dante?
Pater Rapin gib in seinen Betrachtungen über Dichtung eine sehr mittelmäßige Vorstellung von diesem Werk. In allen seinen Ausgaben steht nur der Titel ‚Komödie’ (Anm. 16) Es handelt sich eher um eine Reimgeschichte der vergangenen Jahrhunderte, die der Dichter auf das zusammenkürzte, was er, wie er sagt, in seiner Vision von Hölle, Fegefeuer und Paradies sah. Im 6. Gesang des Paradieses bringt er eine abgekürzte Geschichte von Rom und der Lombardei, und im 13. Gesang der Hölle erzählt er, um als Florentiner zu erscheinen, daß Florenz durch Attila verwüstet wurde, obgleich alle Historiker ausdrücklich bezeugen, daß Attila nie seinen Fuß auf toskanischen Boden gesetzt habe. Man könnte auch eher sagen, daß er vornehmlich bemüht war, alle kirchlichen und weltlichen Autoren vergangener Zeiten zu nennen; dazu die griechischen und lateinischen Kirchenväter, Philosophen, Redner und Dichter, die damals in den Bibliotheken zu finden waren. Er läßt sie alle Revue passieren, wie um ihnen den Prozeß zu machen, denn er schickt einige in die Hölle, andere ins Fegefeuer und die anderen ins Paradies. Im 7. Gesang des zweiten Teils befinden sich die Kinder, die ohne Taufe gestorben waren (Anm. 17), an der Tür zum Fegefeuer, einem Vorsaal des Fegefeuers, allein in der Dunkelheit, ohne Schmerz. Im zehnten Gesang des Fegefeuers befinden sich die Seelen von Trajan (Anm. 18), Plautus, Terentius, Statius und einigen anderen Dichtern, darunter ein Agathon, den niemand kennt (Anm. 19).
Einige Male reimt er auch auf Hebräisch; er wollte damit zeigen, daß er das kann; aber nach den Regeln gewisser Schriftsteller seiner Zeit. Am Anfang des siebten Gesangs des Paradieses steht:

Osanna sanctus Deus sabaoth,
Superillustrans claritate tua
Felices ignes horum Malahoth!
statt coelestium regnorum (himmlische Könige).

Gewähre Heil, o du Herr Zebaoth,
den sel’gen Flammen dieser Königreiche,
indem du sie bestrahlst mit deiner Klarheit.

Nach der Grammatik hätte er sagen müssen: Malcuoth, aber seine Regeln erlaubten ihm, so zu sprechen, wie ich sagte.
Die Religion dieses Dichters ist mir, aus seiner Dichtung zu schließen, sehr verdächtig, um nicht mehr zu sagen (Anm. 20). Denn abgesehen von seinen wiclifschen Äußerungen gegen den Heiligen Stuhl scheint er auch die Ewigkeit der Welt (Anm. 21) im 29. Gesang des Paradieses zu befürworten, und außerdem zu lehren, daß nur der erste Beweger der Auslöser der ersten Bewegung sein kann. Paul Jove sagt, daß diese dreifache Komödie voller platonischer Maximen ist: „Die dreifache Komödie ist von platonischem Licht erleuchtet.“ Die Gottheit, die der Dichter anbetet, ist nicht nur diejenige, die er anruft, das heißt sein eigener Geist (Anm. 22), wie Pater Rapin ihm vorhält: eine Wesenheit, einige und dreifache Gottheit, und damit metaphysisch, die man als Natur oder Schicksal auffassen kann, die alles bewegt, oben wie unten, mit Selbstliebe und dem Verlangen, sich mitzuteilen. Im 24. Gesang des Paradieses sagt er:

Ed io respondo: Io credo in uno Deo (Anm. 23)
Solo ed eterno, che tutto il ciel muove,
non moto, con amore e con disio …

E credo in tre persone eterne, e queste
Credo una essenzia si una e si trina …

„Ich glaube“, sagt ich drauf, „an einen Gott,
einzig und ewig, der den ganzen Himmel,
selbst unbewegt, bewegt durch Lieb und Sehnsucht.

Dann glaub ich an drei ewige Personen,
die so in ihrem Wesen eins und drei sind,…“

Oder, wie er in seinem Glaubensbekenntnis sagt, mit dem er den dritten Teil, das Paradies, beendet, in der Ausgabe von Venedig 1477:

Credo in una sancta Trinidade,
Padre, Figliuolo e Paraclito santo,
Coeterni in una personalitade.

(Text nicht in der gewöhnlichen italienischen Fassung enthalten:
Ich glaube an die heilige Dreifaltigkeit,
Vater, Sohn und heiligen Tröster,
auf ewig in einer einzigen Person.)

Im Paradies kann sich die glückliche Seele nicht täuschen, wie er sagt, denn vor ihr steht die Wahrheit. Im vierten Gesang heißt es:

Alma beata non poria mentire,
Perochhé sempre al primo vero è presso (Anm. 24).

Als Wahrheit hab ich fest dir eingeprägt,
daß nie ein seel’ger Geist vermag zu lügen,
weil stets er bei der ersten Wahrheit ist.

Im 32. Gesang lehrt er, daß der Glaube der Eltern die Kinder erlöst (Anm. 25). In dieser Dichtung gibt es eine Menge weiterer Punkte, die ich hier nicht anführe, denn diese liegen meinem Thema zu fern. Ist ein Dichter, der alle diese Fehler hat, die ich aufgezählt habe, fähig, sein Werk einem Mann, der etwa neunzig Jahre früher starb, zuzuschreiben, um seinem Gedicht mehr Ansehen zu verleihen und um zu vermeiden, daß er wegen der darin enthaltenen unrichtigen Doktrin zur Verantwortung gezogen werden könnte? Ob er noch etwas anderes beabsichtigte, überlasse ich der Findigkeit der gelehrten und katholischen Kritiker. (Anm. 26)

August 1727

Ende des französischen Textes von Hardouin.

Es folgen englische Anmerkungen unter der Überschrift:

Kurze Bemerkungen zu den „Zweifeln“ des Paters Hardouin

Anm. 1: Raphael (Maffei) Volaterranus, geboren 1450, gestorben 1521.

Anm. 2: Giovanni Villani, geboren 1280 ?, gestorben 1348. Mitbürger und Zeitgenosse von Dante Alighieri und Autor von so hoher Glaubwürdigkeit, daß wir überrascht sind, daß Hardouin diesem die Autorität des vergleichsweise wenig bekannten Volaterranus vorzieht, der 200 Jahre nach Dante starb.

Anm. 3: Thomas von Aquin wird in der Göttlichen Komödie nirgends ‚Sankt’ genannt; er heißt einfach Tommaso in Fegef. 20, 69; Thomas von Aquin in Parad. 10, 99; Thomma in Parad. 12, 110; Fra Tommaso in Parad. 12, 144; das ruhmreiche Leben des Tommaso in Parad. 14, 6.

Anm. 4: Nichts zeigt, daß Dante meinte, den Einzug von Ludwig dem Bayern in Rom vorauszusagen (in Parad. 27,61). Mit dem Scipio und vorausgesagten Befreier könnte Kaiser Heinrich VII gemeint gewesen sein, oder Ugoccione della Faggiola, oder Can Grande della Scala, entsprechend der Zeit, da der Dichter diese Verse einfügte; aber seine Meinung wird absichtlich dem Leser zum Vermuten überlassen.

Anm. 5: ‚War Dante Prophet?’ Vielleicht genauso wie jeder uninspirierte Dichter, der je gelebt hat. Es gibt eine seltsam scheinende Voraussage mit scheinbarer Erfüllung im folgenden Vers:
Il ueltro
Verrá che la (la lupa) fará morir di doglia.
(Inf. II, 102.

Der Hund wird besorgen, daß die (Wölfin) mit Schmerzen stirbt.

In der Göttlichen Komödie ist die Wölfin stets das Sinnbild für die korrupte und räuberische Kirche Roms; und der Hund (ueltro) (englisch hound, auch gleich Schurke) ist Sinnbild für den Befreier oder Reformator, der die Christenheit von ihrem schändlichen Einfluß befreien wird. Seltsamerweise ist ueltro das genaue Anagramm (Buchstabenverschiebung) von Luthers italienischem Namen, Lutero; und auf wen würde nach Ansicht eines Protestanten eine solche Voraussage besser passen? Landinos Kommentar (1481) zu obigem Vers unterstützt stark die Einzigartigkeit des Zusammentreffens.

Anm. 6: ‚Er verbreitet wilde Beschimpfungen gegen den Heiligen Stuhl, die stark an die Schule von Wiclif erinnern.’ Er hätte auch sagen können: Es schmeckt sehr nach der Schule von Petrarca. Kein Vers in der Göttlichen Komödie ist wütender gegen die Laster der Römischen Kirche als seine drei berühmte Sonette, CV, CVI, CVII. Aber sogar Petrarca wiederholte nur, was schon Arnold von Brescia, der 1155 wegen Ketzerei verbrannt wurde, und andere Reformatoren vor ihm gesagt hatten.

Anm. 7: ‚Das Gedicht ist demnach jünger als das Todesdarum des echten Dante.’ Dies würde sicher zutreffen, wenn der Dichter tatsächlich auf den Einzug Ludwig des Bayern in Rom 1328 angespielt hätte, was nicht der Fall ist.

Anm. 8: ‚Ugo Ciapetta’ Wer meint, daß die Ehre der Herrscher Frankreichs durch die Verse von Dante über Hugo Capet verletzt wird, der wird Pater Hardouin für seine Verteidigung derselben nicht dankbar sein und nicht für die außergewöhnliche Wortdeutung, die besagt, daß Ugo Ciapetta ‚Hugo der Thronräuber’ bedeutet.

Anm. 9: ‚Er ahnte nicht, daß sein Rätsel einen Ödipus treffen würde.’ Wir müssen zugeben, daß dieses Argument Hardouins in gewisser Hinsicht dem Ödipus gleicht, der sowohl lahm als auch blind war.

Anm. 10: ‚Er behauptet von ihm (Philipp dem Schönen), daß er Gent eingenommen hätte.’ Dante sagt nicht, daß Philipp jemals Gent eingenommen habe, sondern nur, daß Gent und andere große Städte Flanderns vereint dessen Angriffe rächen würden.

Anm. 11: ‚Gekrönt mit Lilienblüten kamen sie.’ (Feg. 29, 84) Fiordaliso Giglio, lat. Lilium. Voc. della crusca. Die Lilie ist gewöhnlich Sinnbild der Unschuld und der Jungfrau Maria, sie bildet daher einen passenden Schmuck für die Häupter der 24 Ältesten der Offenbarung, wie sie im Fegefeuer 29 vorkommen. G. Villani sagt, die Lilienblüte war das Wappenbild der Herrscher Frankreichs seit den Tagen Hugo Capets, A. D. 987: ‚Dieser Hugo Capet und seine Nachfahren trugen immer goldene Lilienblüten auf blauem Grund.’ G. Villani I, IV Kap. 3.

Anm. 12: ‚Petrarca sah nie in seinem Leben dieses Gedicht seines Landsmanns.’ Diese Behauptung ist sehr unwahrscheinlich und scheint der überlieferten Tatsache zu widersprechen, daß Petrarca 1359 ein schönes Manuskript der Göttlichen Komödie zusammen mit einem Brief in lateinischen Versen von Boccaccio überreicht wurde. (Siehe: Mem. des Abt Sade, Bd, III, S. 507. Ebenso: Vorwort zur Göttlichen Komödie von Roveta 1820). Außerdem hielt Boccaccio 1373 in Florenz Vorträge über die Göttliche Komödie, das war ein Jahr vor Petrarcas Tod.

Anm.: 13: ‚Raphael mit dem Zunamen Volaterranus, der gegen Ende des 15. Jahrhunderts wirkte, kannte diese Dichtung nicht.’ Dies beweist nichts gegen die Echtheit der Dichtung. Falls doch wahr, ist es sicher außergewöhnlich, denn in jeder Lebensbeschreibung Dantes wird bemerkt, daß Abschriften der Göttlichen Komödie in wunderbar großer Zahl gleich nach seinem Tod aufkamen, und daß die Anzahl der heute in den italienischen Büchereien und anderswo vorhandenen dies bestätigen.

Anm. 14: ‚Johannes Villani und Matthias, sein Bruder …usw’ Kein Leser wird denken, daß dieses Argument Hardouins das unbestrittene Zeugnis von G. Villani (L. IX, Kap. 135) schwächen könnte, das die Göttliche Komödie dem Dante Alighieri zuschreibt und seine Verdienste hervorhebt.

Anm. 15: ‚Wer die Dichtung des falschen Dante als epische oder Heldendichtung ansieht, wie es Castelvetro tut, usw. usw.’ Obgleich einige Kritiker die Göttliche Komödie fälschlich eine epische Dichtung genannt haben mögen, hat Dante doch keine Schuld daran. Glücklicherweise nannte er sie selbst eine Komödie, und wenige seiner Bewunderer sind mit dem Titel so zufrieden, daß sie nicht wünschen würden, er wäre dem Rat seines Ahnherrn Cacciaguida gefolgt und hätte sie „Die Vision“ genannt.

Mach deine ganze Vision offenbar!
(Par. 17, 128)

Anm. 16: ‚In allen Ausgaben heißt sie nur Komödie.’ Es gibt zwei italienische Ausnahmen: Die Vision, Dichtung von Dante, in Vicenza 1613. – Die Vision, Dichtung von Dante, in Padua 1629. M. Cary übernahm ebenfalls diesen Titel Vision in seiner englischen Übersetzung.

Anm. 17: ‚Im 7. Gesang des zweiten Teils befinden sich die Kinder, die ohne Taufe gestorben waren, an der Tür zum Fegefeuer…usw. usw.’ Dies ist ein irrtümliches Zitat. Die betreffende Passage befindet sich in Hölle 4, 30, wo das Zwischenreich der Hölle beschrieben wird. Kein Kommentator nimmt Dante diese Erfindung übel.

Anm. 18: ‚In Hölle, zehnter Gesang, sind die Seelen von Trajan usw.’ Dies stimmt nicht. Eine Lebensgeschichte Trajans wird in Fegef. 10 gezeigt, in Fels gehauen; aber die Seele Trajans kommt in Paradies 20, 44 vor, wo sie eine der „Glückseligen Himmelsherrscher“ ist.

Anm. 19: ‚Agathon, den niemand kennt.’ Agatho wird im Fegefeuer 22, 107 gezeigt. Volpi sagt uns, er sei ein griechischer Dichter gewesen, den Aristoteles in seiner ‚Dichtersammlung’ erwähnt.

Anm. 20: ‚Die Religion dieses Dichters ist mir, aus seiner Dichtung zu schließen, sehr verdächtig, um nicht mehr zu sagen.’ Kein Leser dieser Dichtung kann seinen Verdacht unterdrücken, daß Dante der Religion Roms feindliche Grundsätze entgegenstellt, und nach dem Auftreten Luthers war es für Protestanten selbstverständlich, daß sie ihn als ihren Vorboten feierten. Pater Hardouins Zweifel sind in dieser Hinsicht nicht unvernünftig. Seltsamerweise hat er keine Passagen zitiert, die noch viel stärker beweisen würden, wie wohlbegründet diese Ansicht ist. Die Bösartigkeit von Dantes Vorwürfen gegen den Heiligen Stuhl, „seine wiclifschen Äußerungen“, werden heftig abgelehnt und entsprechen einzigartigerweise denen von Wiclif in seinen ‚Homilien’, aber Wiclifs Ansichten von einer Reform gingen viel weiter als Dantes, und er nahm Luther um hundert Jahre vorweg, indem er die Verbreitung der Bibel in Volkssprachen befürwortete, gegen den Zölibat der Priesterschaft anging und nur eine teilweise Oberhoheit des Papstes anerkannte, besonders aber eine völlige Ablehnung der Transsubstantiation (Wandlung beim Abendmahl) aussprach (siehe: Leben des Wiclif von W. Lebas, London 1846).

Anm. 21: ‚Er scheint die Ewigkeit der Welt zu vertreten .. usw.’ Im Gegenteil, Dante schreibt im Par. 29, Vers 10 und folgende, die Schaffung von Geist, Materie und Bewegung des Universums dem Höchsten Wesen zu.

Anm. 22: ‚Die Gottheit, die der Dichter anbetet, ist nicht nur diejenige, die er anruft, das heißt sein eigener Geist, wie Pater Rapin ihm vorhält, usw. usw.’ Die Kritik scheint folgende Verse zu betreffen:

Jetzt, Musen, helft mir, hilf erhabner Geist,
Gedächtnis, das verzeichnet, was ich schaute,
hier möge sich dein Adel offenbaren!
(Hölle II,7)

Es wäre herauszufinden, was Pater Rapin an dieser dichterischen Vision anstößig finden könnte.

Anm. 23: ‚Ed io respondo, Io credo, usw.’ Alle Kommentatoren hielten Dantes Glaubensbekenntnis für richtig; darum ist sehr zu bedauern, daß Pater Hardouin nicht aufgezeigt hat, an welchen Stellen präzise er Anstoß nahm.

Anm. 24: ‚ Als Wahrheit hab ich fest dir eingeprägt,
daß nie ein seel’ger Geist vermag zu lügen,
weil stets er bei der ersten Wahrheit ist.‘

Auch hier scheint Pater Hardouin allein dazustehen, in diesem Gefühl etwas tadelnswertes zu sehen, wo es doch so oft, und immer ohne Venturis Verurteilung, in der Göttlichen Komödie vorkommt.

Anm. 25: ‚Im 32. Gesang lehrt er, daß der Glaube der Eltern die Kinder erlöst.’ Dantes Worte lauten so:
Per nullo proprio merito si siede
Ma per l’altrui.
Venturi sagt „L’altrui, das bedeutet: gerettet allein durch die unbegrenzte Gnade Jesu Christi.“ Weder Jesuiten noch Franziskaner sehen irgend etwas tadelnswert an dieser Passage.

Anm. 26: Wir möchten unsere Bemerkungen beenden mit dem Hinweis, daß die einzigen Verse der Göttlichen Komödie, die von den Autoritäten öffentlich verdammt wurden, folgende sind:
Hölle 11, 9: Anastagio Papa, io guardo etc.
19, 106-119: Di voi Pastor etc.
Paradies 9, 136 bis Ende: A questo intende etc.
Der Index der zu vernichtenden Texte von Madrid 1614 befiehlt, diese Verse auszutilgen in jeder Ausgabe der G. K., dazu alle diesbezüglichen Kommentare von Landino und Vellutello.
Ein strenger Katholik müßte von zahlreichen anderen nicht weniger harten Versen, als nur den oben genannten, verletzt sein und wird sich fragen, wie es M. Delécluze tat: „War Dante Ketzer?“ (Revue des Deux-Mondes, 1884, 1. 370.405)
Die Untersuchung ist von dem Schreiber dieser Anmerkungen etwas ausführlicher fortgesetzt worden in einem Essay mit dem Titel „Lo Spirito Cattolico die Dante“, am besten zu lesen in der italienischen Übersetzung des englischen Aufsatzes, bereichert um Anmerkungen von Signor Gaetano Polidori (London, Molini 1844).

Ende der Anmerkungen, S.46.

Gedruckt bei Paul Renouard, rue Garancière, n. 6

Ende des gesamten Traktates

Kommentar von Uwe Topper

Wie der Schreiber der Anmerkungen am Schluß zu erkennen gibt, ist es seine Aufgabe, Dante reinzuwaschen und als guten Katholiken darzustellen, weshalb seine Schrift auch ins Italienische übersetzt wurde, der Sprache Roms, was gewiß wichtiger war als ein englischer Essay in einem weitgehend antirömischen Milieu.
Immerhin verdanken wir dieser Anti-Ketzerschrift die Erhaltung und Verbreitung des Textes von Hardouin.
Einzelne Argumente Hardouins mögen widerlegbar sein, auch tatsächlich teilweise auf Mißverständnissen beruhen (wie etwa hinsichtlich der beiden königlichen Blutlinien), aber der Tenor ist für Hardouin klar: Die Zeitstellung der Göttlichen Komödie paßt nicht zu 1300, sie dürfte eher gegen 1500 liegen. Dabei „verrät“ sich der Dichter stellenweise, sagt Hardouin, indem er Ereignisse berichtet, die für ihn vermeintlich in der Zukunft liegen würden. Anachronismen sind das Werkzeug der Untersuchung.
Harduoin zitiert Raphael Volaterranus (Ende 15. Jh.); dieser sagt daß zu seiner Zeit diese Liedersammlung (“Ultima regna canam…”) existierte, und sonst nur noch ein kleines Büchlein. Er kannte die Göttliche Komödie also nicht, folgert Hardouin; und da wir heute die Liedersammlung nicht kennen, nimmt er sie als verloren an.  Der Anmerkungsschreiber geht auf den Punkt gar nicht ein.
In der offiziellen Danteforschung nimmt man an, diese genannte Liedersammlung sei die Göttliche Komödie, obwohl es offensichtlich keinen Vers darin gibt, der mit Ultima regna canam begänne; allerdings wird als Überlieferer nicht Volaterranus sondern Bocaccio genannt; man weist auch darauf hin daß der Vers – Ultima regna canam, fluvido contermina mundo, / spiritibus quae lata patent, quae praemia solvunt / pro meritis cuicunque suis – überhaupt nicht nach Dante klingt.

Wenn nach den Worten des Kommentators ein Argument Hardouins „der überlieferten Tatsache widerspricht“ (Anm. 12), dann ist es ja genau das, was Hardouin uns sagen will: die Überlieferung stimmt nicht. Hier müßte an den Quellen geforscht werden, was der Kommentator nur selten unternahm. Ein Rückgriff auf die allgemein verbreitete Version der Geschichte ist kein Argument.

Ich möchte folgende – von Hardouin nicht genannte aber ihm gewiß bekannte – Indizien hinzufügen: Die Papstliste im 27. Gesang des Fegefeuers, wo (Verse 40-45) Linus, (Ana)Kletus, Sixtus, Pius, Calixtus und Urban als Päpste und Märtyrer aufgezählt werden, ist zwar nicht vollständig und es sind auch nicht alle genannten Päpste Märtyrer gewesen (was der Text erfordern würde), aber sie stehen in der richtigen Reihenfolge; und eine solche Papstliste, die das ermöglichen würde, hat erst Papst Eugen IV aufgestellt, Mitte des 15. Jahrhunderts. Der zu früh datierte Dante hätte sie nicht kennen dürfen.
Oder der klare Hinweis auf die Geburt Jesu im Stall („Krippe“) im zitierten 20. Gesang des Fegefeuers, wo Rom als Wölfin bezeichnet wird und der Heilige Stuhl als Kloake; die wiclifsche (reformatorische) Welt ist eindeutig erst Luthers Zeit, wie auch der Schreiber der Anmerkungen feststellt, wenngleich er verbrannte Vorläufer bis ins 12. Jahrhundert zurück (Arnold von Brescia) anführt. Zeitlich unpassend ist die Stallgeburt Jesu, weil sie erst spät (im 15. Jahrhundert) in Italien auftaucht.
Ein starkes Argument ist auch Dantes genaue Angabe über die Länge des tropischen Jahres, die im 27. Gesang des Paradieses, Verse 142f ausgedrückt ist:

„weil das Hundertsteil ihr drunten
nicht rechnet, Jänner aus dem Winter austritt“,

wobei überrascht, daß er den Schaltfehler des Julianischen Jahres statt mit einem Dreihundertstel eines Tages, wie in der Zeit um 1300 bekannt (siehe Sacrobosco: 1/288), mit ein Hundertstel Tag ansetzt, was als runde Zahl der modernen Messung (1/128) entspricht, die erst nach 1450 im Abendland verbreitet wurde.

Die deutschen Verse der Göttlichen Komödie entnahm ich der Übersetzung von Karl Witte (Reclam Leipzig 1970)

Nachtrag 2017:
Zu den Anachronismen in Dantes „Göttlicher Komödie“ gibt es jetzt neu  Weitere Hinweise zur Zeitstellung Dantes
und weitere Beiträge:
Exkurs zur Datierung von Dantes Lebenszeit
Dantes Zeitstellung in einem Kommentar von 1546
Dante – eine neue Datierung

Hardouins Zweifel am Alter Dantes

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