Chronologiekritik im Westen angekommen

Die Franzosen haben Jahrzehnte verschlafen! fällt mir da als erstes ein. Plötzlich sind sie aufgewacht und haben die Chronologiekritik entdeckt. Warum so spät?

Die meisten Beteiligten behaupten, es wäre die Sprachbarriere gewesen, und das leuchtet insofern ein, als die beiden prominentesten Erwecker zweisprachig sind: François de Sarre und Pierre Dortiguier beherrschen neben anderen Sprachen Französisch und Deutsch. Die Unkenntnis der Sprache jenseits des Rheins hat ganz Frankreich dreißig Jahre schlummern lassen? Unglaublich, aber wahr.

Sieht man sich die augenblickliche geradezu tumultartige Aufnahme der Chronologiekritik in Frankreich näher an, fällt auf, daß Fomenko die erste Geige spielt. Das geht auf dessen ins Englische übersetzte Bücher zurück, denn Russisch kann man in Frankreich noch weniger als Deutsch.

Da nützt auch der Hinweis nichts, daß wir seit Februar 2005 – also seit fast 9 Jahren – auf unserer website auch Artikel in Französisch veröffentlichen. Fomenkos durchschlagender Erfolg in Sachen „Revisionismus“ ist nicht mit den akademischen Lorbeeren gekrönt, die er sich als Mathematiker erworben hat, sondern mit der enormen Menge an Büchern, die er mit seinen Freunden seit zwanzig Jahren hervorbringt, und die ihm begeisterte Leser eingebracht hat, eben auch im englisch-sprachigen Bereich.

Ich selbst habe ja – gefördert durch Eugen Gabowitsch – eine nicht geringe Leserschaft in Osteuropa gewonnen, besonders durch Übersetzungen meiner Bücher ins Russische, Ungarische und Bulgarische. Die Menschen sind dort offen für unsere neuen Ideen, was ich auf die Laifizierung durch die kommunistische Erziehung zurückführte. Die Hemmschwelle in katholischen Ländern dürfte entsprechend hoch liegen. An eine Sprachbarriere hatte ich nie gedacht, zumindest nicht bei Intellektuellen.

Irgendwann ist es eben soweit – Frankreich hat den Bazillus jetzt erwischt.

Den Ablauf unserer früheren Bemühungen um die westeuropäischen Leser möchte ich kurz noch einmal skizzieren an Hand meines Vortrags vom 20. März 2005 in Potsdam: „Geschichtsanalyse im romanischen Sprachbereich

Zuerst besprach ich die Arbeit eines auffällig selbstänhttp://romanischendigen Denkers, der nur in großen Zügen zu unserer Thematik paßte: Jacques Touchet aus Carcassonne, der seit Ende der 70-er Jahre die Zeitschrift „Mediterranea“ herausgibt, die aber schon während der Zeit meines Besuches bei ihm allmählich auslief. Heute dürften ihr Autor und einige seiner Mitarbeiter tot sein. Velikovsky spielte für diesen Kreis keine Rolle, eher war es der geheimnisumwobene Litauer Oscar Venzeslas de Lubicz-Milosz (1877–1939) mit seinen skurrilen Ansichten über die Offenbarung des Johannes, der als Uranstoß genannt werden muß. Touchets Buch „La Grande Mystification“ von 1992 hat als Manifest dieser modernen französischen Initiative zur Neuschreibung der Geschichte überlebt. Den Titel könnte man mit „Die Große Täuschung“ übersetzen, wobei jedoch weniger an Kammeier zu denken wäre, eher an Olagüe.

Eine Nähe zu meinem Atlantisbuch von 1977 ist spürbar, der alte Herr hielt es begeistert in der Hand, als ich sein Bibliothekszimmer betrat. Etwas erstaunt hat mich dennoch, daß unsere analytische Kritik an der herkömmlichen Geschichtsschreibung in einem Punkt durch Touchet keine Zustimmung fand, der gerade uns so wichtig erschien: in Sachen Chronologie.

Das änderte sich auch nach Jahren nicht, soweit ich die französischen Neuerscheinungen durchforstete. Der erste, der diese Schranke durchbrach, war der deutsch-saarländer-französische Biologe François de Sarre in Nizza, Herausgeber der mehrmals im Jahr erscheinenden kleinen Zeitschrift „Bipedia“, die neben biologischen Themen auch Geologie in der Nachfolge von Edgar Dacqué, Otto Muck und Horst Friedrich bearbeitet.

Sarres wichtiges Buch „Als das Mittelmer trocken war“ (1999) legt neue Maßstäbe fest: Statt der vielen Millionen Jahre, die in geologischer Sprache immer noch angewandt werden, wenn es um so drastische Vorgänge wie die Bildung des Mittelmeeres geht, zieht Sarre nun in Betracht, daß das alles in wenigen Jahrtausenden geschehen sein könnte. Diese chronologie-umstürzenden Ansätze sind folgerichtig vorgebracht und dürften den akademischen Geologen Schwierigkeiten bereiten. Da diese Gedanken auf unserer Linie liegen, haben wir Sarre als Mitarbeiter an unserer website aufgenommen, was zu fruchtbarer Arbeit führte.

Zum Zeitpunkt meines Besuches bei Sarre in Nizza im Mai 2005 hatte er gerade ein neues französisches Manuskript fertiggestellt, das ich sorgfältig mit ihm durchgesprochen habe. Der Verleger hat leider in letzter Minute die Arbeit abgelehnt, was vermutlich finanzielle Gründe hatte. Damit wurde der Versuch, auch die Franzosen endlich in die wichtige Arbeit an der Chronologie einzubeziehen, wieder einmal hinausgezögert.

Soweit mein Vortrag von 2005 zur französischen Barriere. Wie ich damals weiter ausführte, stand es in Italien und Spanien/Portugal nicht besser, obgleich wir (besonders mein Sohn Ilya und ich) wegen unserer guten Sprachkenntnisse gerade dort mehrere Vorstöße unternahmen. In England stießen wir ebenfalls auf Unverständnis und Ablehnung. Zur Herbsttagung von SIS (Society for Interdisciplinary Studies) am 7. November 1998 in London waren wir zu dritt angereist: Dr. Eugen Gabowitsch, Christoph Marx und ich, alle drei gute Englischsprecher, und hatten unsere Sache vorgestellt. Eingestiegen sind die britischen Kollegen nicht, auch nicht in Amerika, wo Heinsohn Vorträge hielt und Niemitz sein 30-Seiten-Papier herumschickte.

In Frankreich sieht besser aus:

Um die chronologische Reihenfolge einzuhalten, nenne ich zuerst die Kunsthistorikerin Dr. Sandrine Viollet, deren Manuskript „Sommes-nous en 2010 après la fondation de Rome?“ mich 2010 erreichte. Sie folgte zunächst Sarres Vorgaben und entwickelt dann eine eigene Idee, die in der Gleichsetzung der zwei Zeitrechnungen AD und AUC gipfelt, wodurch eine Anzahl Probleme aus dem Weg geräumt werden, indem einfach die 753 Jahre des Abstandes ausgeschaltet sind. Mir kommen solche Pauschalerklärungen nicht geheuer vor, das Problem liegt doch viel verzwickter. Darum hatte ich eine Veröffentlichung bei uns abgelehnt und um sorgfältigere Ausführung gebeten.

Da es tatsächlich am Sprachproblem zu hängen scheint, ob sich eine Idee in einem Nachbarland ausbreiten kann, muß hier auch die unermüdliche Arbeit von Karin Wagner erwähnt werden, die zwar bisher kaum gedruckt in Erscheinung getreten ist, aber elektronisch schon viele anregende Ideen verbreitet hat.

Im vorigen Jahr erschien als Sonderheft Nr. 9 der Revue „Top Secret“ der Essay von David Carrette „La plus grande falsification de l’histoire: L’Invention du Moyen Âge“ – spannend lesbar für jeden, der zum ersten Mal mit diesem Thema zusammenstößt, gut durchkomponiert und schön bebildert. Das Heft hat das Eis gebrochen, denke ich, zumal es in einer Reihe erschien – „Magazin der Rätsel der Wissenschaft und Geschichte“ – in der Archäoastronautik, Atlantis, Pyramiden und die Kultur der Riesen den Ton angeben, womit es eine große und junge Leserschaft erreicht.

Wer offen ist für Fantasien, kann auch so abwegige Ideen wie die Eliminierung von Jahrhunderten verkraften. Entsprechend wurde die Innovation von Leuten aufgegriffen, die nur entfernt in diese Sparte einzureihen sind: Vorkämpfer des Matriarchats und Revisionisten. Dieser schillernde zweite Begriff trifft bei uns einen bloßliegenden Nerv, während seine Herkunft – hier eindeutig aus Fomenkos Richtung – noch wertneutral war.

Darum finde ich den neuen Begriff, den Sarre geprägt hat, durchaus passend: „Récentisme“, was etwa mit dem Schlagwort „Jetztzeit-These“ zu umschreiben wäre. Gemeint ist die Vorstellung, daß unser Geschichtsbewußtsein in keine ferne Vergangenheit zurückreicht, sondern in der Neuzeit, frühestens seit 500 Jahren, geschaffen wurde.

Wann der Eintrag zu meinem Namen in der französischen Wikipedia erfolgt ist, habe ich nicht nachverfolgt, jedenfalls wurde mir ein längerer Artikel dort im Juli 2010 bekannt, in dem neben meinen neuen Büchern auch der Begriff récentisme schon vorkommt. Die Möglichkeit zur Information bestand.

Carrette stellt fast alle neuen Versuche, das Zeitmaß der Historie zurechtzurücken, mit Beispielen vor. Außer den russischen Bemühungen hat er vor allem die deutschen Bücher besprochen, deren Ideen von ihm weitgehend übernommen und mit Stoff gefüllt, ja stellenweise durch eigene Überlegungen bereichert werden. Im Grundtenor wird die Linie von Sarre eingehalten.

Nun zum frohen Ereignis der Geburtsankündigung:

François de Sarres Buch, das nun seit 2013 endlich auch gedruckt vorliegt, trägt den Begriff schon im Untertitel: „Mais où est donc passé le Moyen Age? Le récentisme“ (Hades éditions, Rouen) und hat damit die Weichen gestellt.

Einer seiner neuen Gedanken betrifft die Pest, die einmal unter Justinian im 6. Jahrhundert wütet, dann zum bekannten Zeitpunkt Mitte des 14. Jahrhunderts gehört. Legt man beide zusammen, werden 8 Jahrhunderte überflüssig, genau jene, aus denen ohnehin keine echten Zeugnisse vorliegen. Darum lohnt es nicht mehr, die numerierten Schulbuch-Jahrhunderte zu wiederholen, als Rezentist sollte man nur in Zeiträumen „vor heute“ rechnen, so: der Pestausbruch ereignete sich gegen 600 BP.

Die Vorstellung, die chaotische Chronologie des Mittelalters könnte aus Versehen entstanden sein, wird von ihm glatt verneint, denn man hätte es längst merken müssen (S. 152). Die Bücherzerstörung und Neuschreibung der Chroniken war ein Akt willentlicher Fälschung, die uns als Bildersturm und Konstantins (VII) Umschreibe-Aktion wohlbekannt sind. Am Ende kondensiert sich das Mittelalter auf hundert Jahre (600 bis 500 BP) statt einem Jahrtausend, das Christentum entstand im nachkatastrophischen Avignon und im Rhonetal. Allerdings ist für ihn die Katastrophe durch einen Kometen ausgelöst worden, was mir nicht beweisbar erscheint.

In großen Zügen sehe ich die Arbeit des Berliner Geschichtssalons durch Sarre schlüssig fortgesetzt, ohne jetzt Einzelheiten kritisieren zu wollen. (Nachtrag: In ZS 1-2017 erschien eine kritische Besprechung des Buches durch Robert Soisson.)

Der dritte Mann, der sich zum Rezentismus bekennt, ist der Philosoph Pierre Dortiguier, der in Frankreich vor allem durch seine Vebreitung der Gestaltphilosophie des Pragers Christian v. Ehrenfels (1859-1932) bekannt ist. Seine damit verbundene Beherrschung der deutschen Sprache ermöglichte ihm, Einblick in unsere Arbeit zu bekommen. Im Internet kann man ein Interview anhören, das er vor einiger Zeit einem französischen Fernsehsender gab. Da erfahren wir zwar nichts Neues, aber der unvorbereitete französische Zuschauer wird vermutlich erschreckt auffahren, wenn sein Schulwissen so gründlich umgekrempelt wird.

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© Uwe Topper, Dezember 2013

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