Priester oder Priesterinnen? Weder – noch!

Es geht hier nicht um das aktuelle Sprachproblem der Frauenbefreiung. Gemeint ist auch nicht die Besonderheit der Kybele-Priester, die sich zu Ehren ihrer Göttin selbst entmannten. Die Frage ist ernstgemeint: Wer schuf unseren Kalender und unser Maßsystem?
In meinem jüngsten Buch (Das Jahrkreuz, 2016) verwende ich viele altmodische Ausdrücke, die sich inzwischen englisch oder international sagen lassen. Auch ein Schriftsteller spricht (unreflektiert) Muttersprache, und die ist generationsgebunden.
Als ich mein Werkzeug (die deutsche Sprache) erlernte, antwortete eine Frau, die man nach ihrem Beruf fragte, „ich bin Lehrer.” Das war weder emanzipiert noch gedankenlos sondern einfach gängiger Sprachgebrauch. Im selben Sinne meinte ich das in meinem Buch, wenn ich Astronom oder Feldmesser schrieb, als Berufsbezeichnung im alten Stil.
So sage ich gleich im 1. Teil auf S. 21 (und dann folgend öfters): „der Bauer”, der auf seiner Tenne das Schattenspiel beobachtet und seine Schlüsse zieht … Warum steht hier nicht: „die Bäuerin”? Das wäre doch möglich. Ganz gewiß, sogar wahrscheinlicher, denn in jener Frühzeit (Großsteinzeit, frühes Metallzeitalter) war Zählen, Zeitmessung und Kalenderfestlegung die Beschäftigung der Frauen. Wer da – wie viele Autoren heute – durchweg von “Priestern” redet, deren Aufgabe es war, den Kalender zu berechnen, irrt doppelt. Erstens waren es meistens Frauen, und zweitens waren sie keine Priester(innen) sondern Sippen- und Stammesangehörige wie alle anderen, nicht herausgehoben durch ein Amt oder eine Weihe, sondern nur durch ihre Befähigung (wie auch als Heilerin oder Richterin).
Damals hatten das Zählen die Frauen in der Hand, wie ich aus einer Beobachtung bei Berbern im Hohen Atlas (Nordafrika) geschlossen habe. Hier ein kurzer Exkurs dieses Gedankens:

Wie die Berberin das Zählen entwickelte

Wenn eine Glucke ihre Kücken ausgebrütet hat, kollern die Kleinen zwar unter und neben ihr herum, entfernen sich aber mit der Zeit immer mehr von der Mutter und sind bald nicht mehr ihrem Schutz anvertraut, weshalb sich die Berberin selbst darum sorgen muß, vor allem am Abend, wenn sie die Hühner einschließt. Sie muß also feststellen, ob alle Kücken wieder zurückgekehrt sind. Das macht sie folgendermaßen: Wenn die Kleinen geschlüpft sind, klebt sie von jedem Ei den spitzen Teil in einen großen Dungfladen an der Stallwand, das wird die Kückenschule genannt. Am Abend vergleicht sie die Menge der Eispitzen mit der Menge der Kücken und sucht die vermißten, wenn mehr Eier als Hühnchen vorhanden sind. Zum schnelleren Überblick hat sie einen Merkspruch erfunden, der klingt etwa so: jän-sin-krat-kosd-smos-sdis-sad-tam-tsa-merau. Heute sind das die berberischen Zahlwörter von eins bis zehn. Zunächst war das nur ein Merkvers, Silben als Klang, deren Reihenfolge festlag. Sie sagte den Spruch auf, mit Blick auf die Eierschalen und dann auf die Kückenköpfchen. Wenn das letzte Wort gleich ist, sind alle Kleinen daheim angekommen. Wenn nicht, begann die Suche.
Dabei hätte die Berberin nicht sagen können, wieviele Kücken fehlten, denn die Merkwörter waren noch keine Zahlbegriffe. Das ist erst später daraus geworden, vielleicht beim Tauschhandel, vermutlich ebenfalls in der Lebenssphäre der Frau.

Deutsche Tradition

Das erinnert mich an das Hexeneinmaleins von Goethe im Faust (I).
Faust läßt sich von Mephisto in eine Hexenküche führen, wo er zuschaut, wie die Hexe ihm einen Verjüngungstrank braut, wobei sie das Hexeneinmaleins aufsagt, einen Zauberspruch, der die Zahlen von Eins bis Zehn aufzählt, allerdings in einer verwirrenden Einbettung:

Du mußt verstehn!
Aus Eins mach’ Zehn,
Und Zwei laß gehn,
Und Drei mach’ gleich,
So bist Du reich.
Verlier’ die Vier!
Aus Fünf und Sechs,
So sagt die Hex’,
Mach’ Sieben und Acht,
So ist’s vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmal-Eins!

Nun haben gewiß genug Leute dieses Rätsel lösen wollen oder sogar gelöst; ich halte es mit Goethe selbst, der hier eher Unsinn oder verstümmelte Überlieferung bringen wollte, kein Geheimnis, das aufzulösen wäre. Aber irgendwas ist dran! Es ist die Verbindung von Hexen mit unverständlich gewordenen Erinnerungen an eine frühe Zeit der Wissensbildung, dem Beginn des Zählens. So sind in diesem Merkspruch wiederum nur die ersten zehn Zahlen enthalten, eingefügt in eine Art Liedstrophe, die man sich leichter merken kann als die platte Hintereinanderreihung der Zahlwörter. So wie ich es für die ersten Schritte in der (fernen) Frühzeit annehme.

„Der Viehzüchter mußte erstmals das Zählen lernen, für ihn war es lebenswichtig. Er mußte die abgezählte Zahl auch aufzeichnen, möglichst übersichtlich. So simpel, wie die hühnerhaltende Berberin, die einfach die halben Eierschalen mit Mist an die Wand des Stalles klebt, wenn die Kücken geschlüpft sind, und dann an dieser sogenannten »Kückenschule« stets ablesen kann, wieviele ins Nest zurückkehren müssen, können es die Ziegenhirten nicht machen. Ein Zählsystem, das möglichst hohe Summen erfaßt, ist bei ihnen notwendig. Dessen Gebrauch führte zur Überlegenheit über andere Stämme, die diesen Schritt nicht geschafft hatten.” (aus “Horra” 2003, S. 53)

Monatskalender

Eine weitere Überlegung unterstützt die These, daß es die Frauen waren die sich zuerst um einen Kalender bemühten, und zwar aus Notwendigkeit: Es ging nicht um Abschätzen des Aussaatbeginns der Bauern oder die jahreszeitliche Wanderung der Viehzüchter; das konnte man am jeweiligen Wetter festmachen. Es ging um die monatliche Regelblutung, deren rhythmische Wiederholung ein wichtiger Faktor im Leben der Frau war. Dies dürfte der allererste Kalender überhaupt gewesen sein, allerdings mit individuellem Zeitmaß. Der starre Ablauf des Mondwechsels wird nur für wenige Frauen als Hilfsmaß verwendbar gewesen sein, ein genaues Abzählen der Tage zwischen den Blutungen war wichtig, um zu wissen, ob sie schwanger oder wann sie fruchtbar ist und konnte eventuell auch auf eine Krankheit hindeuten. Die Anzahl der Zyklen konnte durch Zeichen vermerkt werden, etwa als Fetzen an einem heiligen Baum, wie man sie von Nordafrika bis Zentralasien kennt. Aber für die exakte Tageszahl mußte ein Zählsystem geführt werden, um den Vergleich mit den vergangenen Zyklen zu ermöglichen, mithin ein Kalender. Die Gesamtzahl von 40 dürfte zunächst ausreichend gewesen sein, wie alte Bräuche und Schriften ahnen lassen.
Männer hatten diese Notwendigkeit nicht.

Vermutlich war es nicht zufällig, daß ausgerechnet die Hexen, mit denen der Beginn des Zählens verbunden wird, auch jene waren, die sich mit Frauenheilkunde und Geburtenbeschränkung befaßten, wie Heinsohn/Steiger unter Verwendung der Dokumente der Inquisition gezeigt haben; Menstruationsblut spielte eine wichtige Rolle in allen magischen Handlungen, deren die Hexen angeklagt wurden.

Also: Frauen zählten zuerst

Der Anthroposoph Frank Teichmann (1999, S. 204) schreibt über das Bewußtsein des keltischen Druidenpriesters, „man könnte auch sagen, des megalithischen Gelehrten (ein Priester im altorientalischen Sinn war er ja nicht)”. Soweit richtig, aber vor der Zeit der keltischen Druiden waren es vorzüglich Frauen, die mit Kalenderbestimmung und Himmelsereignissen befaßt waren.
Erst in der kriegerischen “Eisenzeit” lief diese Ordnung aus dem Ruder und mußte durch bestallte Priester und Richter erzwungen werden. Das meine ich (Jahrkreuz, S. 26): Den Jahresbeginn zu bestimmen war “priesterliche Aufgabe” (bei den Römern, wobei auch diese Überlieferung unsicher ist). Die römischen Vestalinnen hatten möglicherweise einen Anteil daran. Die Kalandhäuser, in denen in Deutschland der Kalender gepflegt wurde, standen Frauen und Laien offen.

Literaturhinweise

Goethe, Joh. Wolfg. (1790/1808): Faust (Teil I, Vers 2540 bis 2552)
Heinsohn, Gunnar / Steiger, Otto (1985): Die Vernichtung der weisen Frauen (München)
Teichmann, Frank (1983/1999): Der Mensch und sein Tempel. Megalithkultur (Urachhaus, Stuttgart)
Topper, Uwe (2003): horra. Die ersten Europäer (Grabert, Tübingen)
(2016): Das Jahrkreuz. Sprünge im Verlauf der Zeit (Hohenrain, Tübingen)
(2019): Die Kaland-Brüder : Hinweis auf die vorchristliche Religion (hier im Lesesaal)

Uwe und Ilya Topper 8. 3. 2020

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