Die Kaland-Bruderschaften

Im “Jahrkreuz” (2016, S. 26) schrieb ich:

“So erklärt man auch die Herkunft unseres Wortes Kalender von Hallen, Schallen, laut Ausrufen (schrieb Makrobius, Saturnalia I ). Entsprechend heißt der arabische Monat schahr, Ausrufen, denn sein Beginn wird durch Zurufe verkündet. Den ersten Monatstag bezeichneten die Lateiner mit dem unlateinischen Fremdwort Kalendas, und besonders den ersten Januar, den Beginn des Kalenders. Ihn zu bestimmen, war priesterliche Aufgabe, die sehr sorgfältig durchgeführt werden mußte. Bekannt sind noch die Kaland-Bruderschaften in Westeuropa um 1500, zum Beispiel das Kalandhaus in Lüneburg als Versammlungsort.”

Das Kalandhaus in Lüneburg | Foto: Uwe Topper

Anlaß zur Weiterforschung nach dem Ursprung des Wortes Kalender war der unerwartete Anblick des Kalandhauses in der wunderschönen Stadt Lüneburg (nach der die berühmte Heide benannt ist). Ursprünglich hieß die Hansestadt vielleicht Löwenburg und war als Salzlieferant mächtig. Unweit der Johanniskirche steht in der Kalandgasse das Kalandhaus, ein gotischer Bürgerbau mit schöner Fassade.
Der Name hatte mich aufmerksam gemacht. Wer waren diese geheimnisvollen Kaland-Brüder, die hier jahrhundertelang getagt und getafelt hatten?
Kalandern bedeutet ja unter anderem auch schwelgen und übermäßig feiern “(nach einer später entarteten religiösen Brüderschaft des späten MA)” (Brockhaus 1940).
Laut Duden wird das Wort Kaland auf der ersten Silbe betont. Es bezeichnet nur diese Bruderschaft. Die Herkunft des Namens wird mit dem Wort Kalender verbunden, weil die Bruderschaft immer am Monatsanfang zusammenkam, um ihre Geschäfte zu regeln und gemeinsam zu speisen; der Monatsanfang heißt lateinisch Kalendae.

Der beste Kenner frühneuzeitlicher Zustände und Personen ist immer noch Zedler. Ich zitiere den Eintrag in seinem berühmten Universallexikon (Zedler, Leipzig 1732-43; Nachdr. Graz 1962 Bd. V):

Calender, oder Calands, Kalands-Brüder, oder Calender-Herren, lat. Fratres Calendaries, wurden vor diesem in Teutschland diejenige genennet, welche sich in eine gewisse Societät begaben, und allezeit am ersten Tage eines iedweden Monaths, den die Lateiner Calendas nennen, zusammen kamen, und verordneten, was monathlich für Feste und Jahr-Gedächtnisse zubegehen, was für Allmosen auszugeben, was für Fasten zuhalten, wie viel Geld auszulehnen, wie viel Frucht einzunehmen und dergleichen. Scheraus in der Sprachen-Schule voc. Kaland leitet das Wort vom Griechischen Worte κὰλατα her, und soll es so viel als eine zum Wallfarthen und Closter-Gelübden vereinigte Gesellschafft heissen.
Polydorus II. 4. Matthesius in vita Luth. Thammii Chron. Coldic. apud Mencken. Tom. II. Rer. German. p. 696.

[Anmerkung Ilya Topper: Das griech. Wort κὰλατα ist übrigens in den mir zugänglichen Nachschlagewerken des klass. Griechisch nicht aufzufinden. Wahrscheinlich kannte es auch Zedler nicht, denn er sagt ja „soll“. Ich finde nur ein κὰλητησ als regionale Form des Wortes κηλητησ, der Bezaubernde, die Wurzel κηλ als bezaubern ist gut belegt, bringt uns aber nicht weiter. Überhaupt gibt es öfter Regionalformen mit κα statt κη oder κυ. So auch καλινδεω statt κυλινδεω, belegt als: “sich wälzen, sich drehen, herumtreiben”.]

Diese Calender-Brüderschafft hat sich an unterschiedenen Orten in Sachsen, Thüringen, Meissen, Pommern, Westphalen, ja gar in Franckreich und Ungern befunden. Die Zeit, wenn sie aufgekommen, ist ungewiß, doch wollen einige dafür halten, daß es ungefehr um die Zeit geschehen, da eine fast gleiche Gesellschafft des Rosen-Crantzes entstanden, welche von dem H. Dominico, von dem die Dominicaner ihre Benennung haben, wieder die Waldenser ist gestifftet worden. Paullini Chron. Ottberg. in Syntagm. Rer. German. p. 174. seq. erweiset, daß diese Calands-Gesellschafft ihren ersten Anfang ums Jahr 1220. in dem Closter Ottberg genommen. Knauth ad Schneiders Beschr. des Alt. Sachsen-Land. p. 105.

Ob sie nun zwar gewisse religiosi seyn wollen, so haben sie dennoch keinen eigenen ordinem ecclesiasticum, oder einen an gewisse Regeln verbundenen oder von Pabst confirmirten Orden ausgemachet, weil sie nicht nur aus geistlichen und der Clerisey, sondern auch aus weltlichen oder Layen Männlichen und Weiblichen Geschlechts bestanden, dannenhero weder eine gantz geistliche noch gantz weltliche sondern vermischte Gesellschafft gewesen.
du Fresne Glossar. voce Kalendae.

Doch hat eine jede Kalands-Brüderschafft, so etwa aus 6. 8. 10. bis 12 Priestern, ohne die aufgenommene Layen bestanden, ihre eigene Ordnungen, Statuta und Articel, welche von denen Bischöffen jeder Dioeces confirmiret worden, gehabt. So hatte auch jede ihren Dechant und Cämmerer, welche aus der Brüderschafft musten erwehlet werden, und derselben vorstunden, über Einnahme und Ausgabe Rechnung führeten, und die Statuta in Obacht nahmen. Leuckfeld Braunschweig. Kirch. Hist. I. 12. führet aus einem MSto die Articel des grossen Calandes zu St. Egidii in Osterrode zum Exempel an, so daselbst können nachgelesen werden, zumahln sie von der Beschaffenheit eines damahligen Kalandes gute Erleuterung geben.

Zu Lößnitz ist noch ietzo ein Kaland-Insiegel zu sehen.

[Anm. UT: Blumbergs Documente vom Kaland zu Lößnitz (Erzgebirge) bringen Abbildung der Kalands-Brüderschaft, siehe C. G. Dietmann, 1787, S. 260.]

Weil aber, indem sie in ihren Kalands-Häussern bey ihrer Zusammenkunfft am ersten Tage des Monaths eine Mahlzeit zuhalten pflegten, endlich grosse Unordnungen daraus erwuchsen, so, daß ein Sprichwort gesaget wurde, man hält einen grossen Kaland, ingleichen er kalendert die gantze Woche, haben nicht allein unterschiedene Theologi bey Anfang der Religions-Aenderung darüber geklaget, sondern es ist auch endlich diese Societät gantz aufgehoben worden.

In Sachsen und Thüringen sollen an einigen Orten der Obrigkeit von denen Unterthanen noch Zinsen gefodert werden, die unter dem Namen Kaland-Zinsen bekannt sind.

Matthesius vit. Luth. Thammii Chron. Coldic. apud Menck. l. c. Joannis de Indagine de Societate Kalendarum in MSt. Felleri Orat. de Frat. Calend. & Paullini ad eum. Tentzelius in Unterred. An. 1692. mens. Mart. Blumberg von Caland. Leuckfeld Antiq. Groening. 9. Rethmeyers Braunschweig. Kirch. Hist. I. 12. Keysler Antiq. Sept. & Celt. p. 359. seq. Beckmanns Anhält. Hist. VI. 4.

Ende des Eintrags im Zedler.

Viele Lexika und Wörterbücher wissen nichts über die Kalandbrüder, hier und da findet man kurze Hinweise.
Die Kalander gelten als eine Art Laien-Orden, Männer und Frauen, aus allen Berufsschichten, auch kirchliche Personen, mit bischöflicher Billigung. Sie sollen schon vom 13. Jh. an bestanden haben und verschwanden erst im 16. und 17. Jh.; mancherorts hielten sie sich noch länger. In Brilon (Diözese Köln) bestand eine Bruderschaft noch Anfang des 19. Jhs.
Das Kalandhaus in Lüneburg sei 1491 gegründet worden. Bei den Festen der Kalandbrüder und -Schwestern in Lüneburg ging es nicht immer gesittet zu: “Gerüchten zufolge sollen im Jahre 1504 über 100 Personen drei ganze Tage lang gefeiert haben.” (Irene Lange im Februar 2015 für “Lüneburg”). Das kann man sich gut vorstellen, wenn es sich um einen bedeutenden Orden handelte, vergleichbar den Begharden und Beghinen (in Norddeutschland bis Brabant) oder den Brüdern vom Freien Geiste (in Süddeutschland). Gemeinsam ist ihnen allen die Pflege der Bildung (Schulen), Fürsorge für Waisenkinder und Alte, Ahnenverehrung (Totengedenkfest), Handhabung und Überwachung des Kalenders sowie finanzielle Ordnung.
Betont wird auch immer wieder, daß es sich um unchristliche oder vorchristliche Gilden handelt, die von den Christen örtlich gebilligt oder nachträglich eingemeindet wurden, spätestens gegen 1600. In der Reformationszeit wurden die Kalandbruderschaften in protestantischen Ländern meist aufgelöst und deren oft beträchtliches Vermögen anderen wohltätigen Stiftungen übertragen. In katholischen Gebieten hielten sie sich länger. Die zahlreichen Kalandhäuser in Mitteleuropa (fünfzig oder mehr findet man aufgelistet, einige sind bis heute vorhanden) bezeugen die ehemalige Bedeutung der Gilden.

kalandhaus lueneburg
Kalandhaus in Lüneburg | Foto: Uwe Topper

In den Lexika gibt es außerdem ein Arbeitsgerät namens Kalander. Es dient zum Glätten und Rollen bei der Papier- und Tuchherstellung und ist wohl von derselben Grundbedeutung κυλινδεω benannt worden, wie Zylinder, also etwas, das rollt.
Das paßt ebenfalls zum Kalender, der ja rotiert, einmal ganz herumläuft vom 1. Januar (Kalendas Ianuarii) bis Silvester.
Kalendas (bei der Datumsangabe, abgekürzt KAL) ist nicht lateinisch (es gibt kein K im Latein), müßte also Griechisch sein und hätte dann die Grundbedeutung “kreisen, rollen”.
Dagegen spricht die lateinische Nähe von calare (Ausrufen), unsere Wörter hallen und schallen dürften dazugehören. Im Lateinischen wäre auch clamare = ausrufen (und clamor = Widerhall), im Griechischen καλɛώ = rufen, zu erwähnen. Wir haben demnach zwei Möglichkeiten, die Wortwurzel für unser Wort Kalender zu finden.

Und nun etwas seltsames:
Eigenartigeweise gibt es in Asien ebenfalls einen Orden, der Qalander genannt wird. Ich sah im Iran einzelne wandernde Derwische, die ähnlich den Malamati kein Ordenshaus haben und sich nicht an die islamischen Vorschriften halten, aber dennoch geduldet werden. Man kann sie mit den Haidari vergleichen, auch mit den Heddaui in Marokko (siehe Topper, Sufis und Heilige im Maghreb, 1991, S. 228 ff), die mit Ziege und Pfeifchen herumtollen, immer auf der Walze, niemandem verpflichtet und vom Volk verehrt.

Soviel möchte ich für die asiatischen Qalander-Derwische festhalten, die frei herumziehen und volksnah sind: Es handelt sich um eine ungewöhnliche Bruderschaft, die sich nicht in den Rahmen der herrschenden Religion einfügt, aber dennoch die Mission der Staatsreligion überstanden hat.
Im indischen Subkontinent sollen Qalander-Derwische häufig anzutreffen sein; außerdem wird eine Volksgruppe von Tiergauklern mit diesem Namen benannt.

[Anm. Ilya Topper: Der nordamerikanische Akademiker Joseph C. Berland, der in Pakistan geforscht hat und in Harvard publiziert, hat in einer online-Enyzyklopädie einen ausführlichen Beitrag über die Qalander Indiens veröffentlicht: „Qalandar are a widely dispersed, endogamous population of nomadic entertainers found throughout South Asia. Practicing a variety of entertainment strategies, their name and ethnic identity are based on their skill in handling, training, and entertaining with bears and monkeys.“]

Übrigens: Die Kalenderhane-Moschee in Istanbul ist eine ehemalige byzantinische Kirche, sie wurde später lange von den Qalandern benützt. Seit dem 18. Jh. ist sie als Moschee eingerichtet (Foto UT Istanbul 2018).

Kalenderhane-Moschee in Istanbul | Foto: Uwe Topper

Was hat sich aus unserem Exkurs für die Herkunft des Wortes Kalender ergeben?

Das Wort Kalender als Zeitmaß ist abgeleitet von Kalendae, Beginn eines Monats, und dies glaubten die Römer abgeleitet von calare, ausrufen, da der Monat öffentlich vom Calator, einem Priester, ausgerufen wurde. Hier haben wir wahrscheinlich eine typisch römische etymologische Rückerfindung, die sehr gut paßt, aber aufgesetzt ist über ein Wort, das im Griechischen zu Kalandros = das-sich-Herumdrehende, der Umlauf, führte und als Bezeichnung des als Erdumlauf verstandenen Sonnenjahres verstanden wurde. Daß es das Wort Kalandros = Rolle, im Mittelalter tatsächlich als solches gab, belegt das französische Wort calendre = Rollpresse, seit dem 14. Jh. belegt.

Beim Übergang vom Lichtglauben (Gerechtigkeitsreligion, Heidentum) in Mitteleuropa zum Christentum, wie ich es für das ausgehende 15. und das ganze 16. Jh. vor mir sehe und an Hand von Kirchenbauten und “romanischer” Figuren vielfach gezeigt habe (ZeitFälschung 2003), sind die ehemaligen Orden und Gilden mit ihren vielseitigen Aufgaben der Nächstenhilfe, Bildung und Ahnenfeiern aufgelöst oder stillschweigend in andere Gruppierungen übernommen worden, wie die Beghinen und Begharden oder die Brüder vom freien Geiste, so auch die Kaland. An den Gemälden von Hieronymus Bosch wurde der Übergang besonders auffällig sichtbar, etwa im Gemälde “Hochzeit zu Kana”, wo ein Schwan aufgetragen wird, dem typischen (heidnischen) Festmahl dieser Bruderschaften. (Siehe dazu mein vorletztes Buch “Kalendersprung” 2006).

Uwe Topper & Ilya U. Topper, Januar 2019

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