Zur Authentizität der Annalen und Historien des Tacitus

In seinem Beitrag Die Carmina Burana – ein Gelehrtenulk? bemerkte Uwe Topper:

„Unter diesem Blickpunkt rücken auch andere Veröffentlichungen jener Zeit eher aus dem Dunstbereich von Fehldatierungen in den Bereich bewußter Fälschungen der Romantiker, wie die Ossian-Dichtung von MacPherson, das russische Igorlied oder die bretonischen Triaden und die Uralinda-Chronik (die auf Papier, das das Wasserzeichen einer holländischen Firma nach 1860 trägt, geschrieben ist). Das nimmt den Texten weder ihren künstlerischen Wert noch ihre Stellung innerhalb der Historiographie, sollte aber hinsichtlich von Behauptungen über tatsächliche Geschichte berücksichtigt werden.”

Und kürzlich schrieb er mir in einer Mail: „Was nützt es uns zu wissen, daß der Heliand oder der Ossian gefälscht sind. Es handelt sich um geniale Schöpfungen, die zu unserem Geistesgut gehören. Ich möchte sie nicht missen.“

Einen derartigen Zwiespalt in der Einschätzung finden wir auch in einer  Besprechung der Werke Polydore Hocharts, die Jacques François-Marie Vieilh de Boisjoslin 1893 in der Revue de la Société des études historiques veröffentlichte. Neben dem Brief von Hocharts Freund Paul Tannery die einzige zeitgenössische Kritik, die ich bislang fand.

Boisjoslin, geboren am 29. Juli 1760 in Alençon und gestorben am 27. März 1841 in Auteuil, war ein französischer Dichter und Historiker. Mit 17 Jahren schrieb er sein erstes Theaterstück. Seine Gedichte wie das Poème sur le printemps wurden in die zeitgenössischen Sammlungen aufgenommen, und einige Veröffentlichungen verhalfen ihm zu einem ehrenvollen Platz unter den Literaten. Zeitweilig war er als Treuhänder und Advokat am Pariser Parlament tätig, und als begeisterter Anhänger der Revolution war er ab 1796 Professor für Geschichte an der École centrale du Panthéon. Die von den revolutionären Republikanern geschaffenen Écoles centrales sollten als moderne Schulen mit starker naturwissenschaftlicher Ausrichtung die  Collèges des Ancien Régime ablösen, wurden aber 1802 wieder abgeschafft.

Obwohl Boisjoslin dem umtriebigen Renaissance-Gelehrten Poggio Bracciolini durchaus eine Fälschung des Tacitus zutraut, so mag er dennoch auf dieses wertvolle Kulturerbe nicht verzichten, und sucht deshalb im zweiten Teil seiner Kritik nach Gründen, warum sich Hochart vielleicht doch geirrt haben könnte.  Hier allerdings glaube ich, dass er Poggio letztlich doch unterschätzt, denn der hat schließlich – davon bin ich zumindest völlig überzeugt – u.a. auch Lukrez’ Werk „Über die Natur der Dinge“ (De rerum natura) wenn nicht selbst fabriziert, so doch zumindest ‚im Geiste der Antike’ vervollständigt. Und dafür braucht man schon eine poetische Ader.

Es folgt leicht gekürzzt die deutsche Übersetzung des “Rapports” von Boisjolin. Der volständige Text steht als PDF zum Download bereit.

Jacques François-Marie Vieilh de Boisjoslin

Zur Authentizität der Annalen und Historien des Tacitus

I

ENTDECKUNG VON TACITUS – SEINE GESTALT IN DEN AUGEN DER MODERNE

Die Veröffentlichung der Historien und der letzten sechs Bücher der Annalen des Tacitus durch Poggio Bracciolini wurde in Italien mit großem Jubel begrüßt, was ganz natürlich war in diesem Milieu der Fälschungen und Mystifikationen, die das Verlagswesen des 15. Jahrhunderts darstellte. Diese Zeit, die uns als eine so schöne Einheit erscheint, war unruhig und verwirrend; es war nicht klar, ob die Renaissance der Tempel der wahrheitsgetreuen Sibylle sein würde, die die Neugier mit den wahren Werken des vergessenen Genies belohnte, oder im Gegenteil die Stadt der Lügen, eine große, schwebende und doch dunkle Kulisse, die ihre Labyrinthe in unheimlichen Landschaften errichtete. Sollten die frommen Betrügereien der Mönche, die das Altertum so entstellt hatten, von den Fälschungen der Humanisten übertroffen werden? Es waren sehr niederträchtige Gemüter, eher unedle Geister. Die Fürsten und Städte bezahlten sie zu gut, und wie es immer geschieht, wenn ein Beruf lukrativ ist, wurde die Gelehrsamkeit zu einer Industrie.

Poggio Bracciolini, der Pogge, war einer der schamlosesten. Er war der Autor unanständiger Bücher, selbst ein Lüstling, ein Intrigant, ein Habgieriger, der sein Elend in seinen glücklichen Gärten beklagte, und er erweckte kein Vertrauen. Weder Cosimo de’ Medici noch Leonello d’Este wollten die Ergänzung zu Titus Livius, die er angeblich bei einem Schweden entdeckt hatte. Sein Bücherhandel galt als Betrugswerkstatt; man liest heute seine Korrespondenz mit dem Buchhändler Niccoli; sie täuschten sich gegenseitig und der Tacitus, der 1425 angekündigt und 1429 ans Licht gebracht wurde, wurde in diesen vier Jahren zwischen den beiden Gefährten als ein dunkles Werk geplant. Es ist bekannt, dass der reiche Kaufmann Lamberto di Bernardo Lamberteschi ihm bereits 1422 eine hohe Summe für eine römische Geschichte versprochen hatte. Er drückte sich in verschleierten Worten aus, sagte, er werde seinen Wohnsitz verbergen, angeblich in England sein und nach Ungarn gehen, um zu arbeiten. Glaubte Niccoli ihm, als er ihm 1425 erzählte, dass er zusammen mit einem anderen Sekretär von Papst Johannes XXII, Bartholomeo de Montepulciano, im Kloster St. Gallen in einem Turm, in den man „keinen zum Tode Verurteilten geworfen hätte“, die Institutio oratoria von Quintilian gefunden habe? Tacitus – das Buch wollte ein Mönch aus Herschfeld ihm zeigen, doch er wollte es ihm nicht verkaufen. Er kam nach Florenz, dieser Mönch, er reiste nach Deutschland zurück, und man hörte nie wieder etwas von ihm. Dennoch kündigt der Pogge monatelang eine bedeutende Arbeit an, die ihm Ruhm und Gewinn einbringen soll. Es war immer der Norden, aus dem sie kamen, diese Mönche, die die Handschriften enthüllten. Als Angelo Arcambaldo ein Jahrhundert später Leo X. die ersten sechs Bücher der Annalen brachte und der Papst ihm dafür 6000 Goldfranken zahlte, wo fand er sie? In der Abtei Corvei in Westfalen, in der Nähe des Teutoburger Waldes, wo Varus seine Legionen verloren hatte. Und es war Poggios Sohn, Jean François Bracciolini, der nicht weniger verrufen war als sein Vater und mit seinen weißen Haaren die Festessen von Leo X. mit deftigen Geschichten unterhielt, der Arcambaldo das Manuskript übergab, über das zu verhandeln Poggio in seinem Reichtum keinen Gedanken verschwendet hatte. Für den Pogge umfasste des Herschfelders Fund im selben Codex neben Tacitus auch den Goldenen Esel des Apuleius, eine einzigartige Begegnung für diesen Liebhaber schlüpfriger Darstellungen.

Danach gerieten die Unstimmigkeiten in Vergessenheit, die Zweifel verschwanden. Die große Pracht des Werks wirkte auf die Vorstellungskraft ein. Die politische Renaissance erkannte in dem Senator und Chronisten ihren Lehrer und Propheten. Er wurde zum Lehrbuch, zum Orakel, das in der Dunkelheit seiner sentenzartigen Kürze eine ganze Lehre enthielt, die von zahlreichen Schriftstellern, den niederen Ministern dieser Höhle des Trophonius, in verstreuten Blättern der Gier der Berater, der Prinzen und der Völker, übergeben wurde.

Doch Machiavelli geht an ihm vorbei, ohne ihn zu kennen; er sucht alle seine Beispiele bei Livius. Tacitus bleibt der Augur der moralischen, strengen Schule, der Republikaner in England, der Protestanten in Frankreich, der Jansenisten. Er gilt als genialer Historiker; er hat die Epoche, die er beschrieben hat, mit einem Fluch belegt. Racine folgte ihm als wunderbarer Sittenmaler; er fand in ihm seine eigene Neigung, egoistische Motive zu durchschauen. Montesquieu kommt nicht aus seiner Tiefe zurück; er sieht sich selbst darin, mit seiner Metrik der kleinen, unerwarteten Sprünge; er stellt sich vor, dass Tacitus alles abkürzt, weil er alles kennt.

Es gibt da ein wundervolles Buch, dessen Stil unangemessen und temperamentvoll ist, das oft kaum verständlich geschrieben ist, aber sehr vulgär und die ganze Zeit im Tonfall der entsetzten Empörung. Es ist der Essai sur les règnes de Claude et de Néron, den Diderot als Nachwort zu Lagranges Übersetzung des Seneca schrieb; es ist der siebte und letzte Band dieses schönen Werks, ein Denkmal, das der Baron d’Holbach dem Ruhm des römischen Philosophen gesetzt hat, der der nachweislich größte Vorläufer des 15. Jahrhunderts war. Die Erzählung, die aus Fragmenten von Tacitus besteht, unterbrochen von Gedanken Diderots, gibt Tacitus, Seneca, den Kaisern und Kaiserinnen und Rom eine Shakespeare’sche Vision, nicht durch die Tiefe oder die unwiderlegbare Evidenz, sondern durch die äußere Darstellung und das Leben dieser so leidenschaftlichen Wesen. Wir sehen die Paläste Roms, den unvergleichlichen Luxus, die Regierungen, die immer zu Tisch sitzen, und die Todesbefehle, die aus den Festessen kommen; Claudius, der erfährt, dass er geschieden ist und seine Frau Silius heiratet, und Messalina, die in den Gärten des Lucullus auf den Tod wartet, ihre Mutter an ihrer Seite, die mit ihr zerstritten war und in den letzten Momenten zu ihr zurückkehrte; ihr Lauf zum Palast, zur möglichen Gnade, und die Rückkehr in die Gärten, und Claudius, ein perfektes Modell der Abgestumpftheit. Ein Absatz über Nero beginnt wie folgt: „Die Augen des Tigers funkeln vor Zorn.“ Er hat ihn gesehen und weiß, was in ihm vorgeht, wenn er den Heldentod dieser großen Persönlichkeiten, Philosophen und Konsularbeamten, den rührenden Tod der Frauen und die unheiligen Schauspiele dieser den Furien geweihten Herrschaft dekretiert.

D’Alembert wählte die Stücke, die er aus Tacitus übersetzte, wunderbar aus, und seine trockene, aber präzise und getreue Übersetzung, die dem Text nichts hinzufügte (diese Art von Übersetzung ist eine verlorene Kunst), ist noch immer das Buch, das die wahrste Vorstellung des großen Malers vermittelt.

Doch Voltaire, der sich von keinem Ruhm einschüchtern ließ, eröffnete die Reihe der Kritiker, die Tacitus anzweifelten. Nicht an seiner Authentizität, sondern an seiner Wahrhaftigkeit, seiner Durchdringung und seinem gesunden Menschenverstand. All diese Geschichten erschienen ihm unbewiesen, voller Widersprüche, Stadtgeplänkel, wie er es nannte, die ihn nichts über das Römische Reich lehrten. Dennoch glauben die Schriftsteller weiterhin daran, dass es einen Maler der Tyrannen geben muss; die gesamte französische Revolution ist von Tacitus, ebenso wie von Plutarch, geprägt. (…)

Die Weisheit spricht durch die Stimme der Universität. In seiner Histoire de la Littérature romaine zerlegt Alexis Pierron Tacitus in seine Bestandteile: großer Charaktermaler, bewundernswerter Schriftsteller; schlecht informierter, engstirniger Historiker, der sich mit frivolen Ursachen zufrieden gibt. Gleichzeitig erklärte Amédée Thierry, dass die unparteiische und aufmerksame Verwaltung der Cäsaren für die Welt besser sei als die theatralische Anarchie der Republik. Im Übrigen hatte Tacitus dies selbst in seinem Dialog der Redner gesagt (wenn er von ihm ist, aber mit Sicherheit ist er eher von ihm als von Quintilian). Um 1858 besuchten wir die Vorlesungen von Professor Berger, der nichts Schriftliches hinterlassen hat, und er zeigte auch, wie Tacitus das kaiserliche Regime akzeptierte, wie so ziemlich alle seine Zeitgenossen, sogar der Senat und die großen Familien. Er erinnert sich in Agricola an die Abstimmungen, durch die Rusticus und Senecio aus dem Senat geholt wurden, und spricht davon als jemand, der ohne Protest zusah und vielleicht sogar mit dem Tod in der Seele abstimmte. Unter Trajan findet er den Staat recht gut organisiert; er ist Konsul.

1859 erschien das skandalöse Buch „Tacitus und sein Jahrhundert“ von Richter Dubois Guchan, in dem die römische Kaiserherrschaft und die Kaiser selbst systematisch rehabilitiert werden, wovon Nero profitiert. Man muss sich daran erinnern, dass die Dinge in Frankreich damals so geregelt waren, dass jede Zustimmung zum Römischen Reich als ein Akt der Niedertracht und jedes Epigramm gegen Nero als ein sehr bösartiger und sehr mutiger Angriff auf die Macht erschien. Die Polemik war entfesselt und es gab einige interessante Polemiken. Das Buch war interessant, gut gemacht, gelehrt, ernst und gemäßigt in den grundlegenden Urteilen, nur durch die Anklänge einer Anklageschrift und einen hochmütigen Ton beeinträchtigt, der das Kennzeichen von Werken war, die vom konservativen Geist beseelt waren. Der ganze Lärm hat sich gelegt, als man das Römische Reich besser kennenlernte. Doch nun stellt der gelehrte Kollege Hochart nicht mehr nur den Wert von Tacitus, sondern Tacitus selbst in Frage.

II

KRITIK VON M. HOCHART

Der erste Gedanke, der sich aufdrängt, ist, dass, wenn der Pogge die Annalen und Historien geschrieben hat, dies sein bestes Werk ist, und dass an seiner Stelle ein kühnerer Fälscher, weit davon entfernt, seine Werke unter den Namen Tacitus zu stellen, lieber die Werke des Tacitus unter seinen Namen gestellt hätte. Doch Poggio Bracciolini könnte seine Gründe gehabt haben. Erstens musste er Tacitus’ Werken, wenn er sie erfunden hatte, weniger Beachtung schenken als denen, in denen er in seinem Namen sprach. Zweitens hätte er, wenn er die Annalen und die Historien als von ihm selbst stammend angegeben hätte, weniger Geld damit verdient.

Herr Hochart ließ die Anfangsseiten der Manuskripte fotografieren. Das älteste Manuskript der Annalen (L. XI XVII) und der Historien (L. I-V) ist das der Biblioteca Medico Laurentiana; von ihm stammen alle Manuskripte bis zum Druck in Venedig 1470. Das Manuskript im British Museum ist von 1440 oder 1450; es enthält die von Guarini von Verona erfundenen Diphthonge, das von Wolfenbüttel ist von 1464. Das Medici-MS. ist in den so oft gefälschten lombardischen Buchstaben geschrieben, mit Kleinbuchstaben aus dem 15. Jahrhundert. Dort steht, dass die Kopie unter den Konsuln Olibius (Kaiser Olybrius) und Probinus angefertigt wurde. Die vatikanische Handschrift, die die ersten sechs Bücher der Annalen in lombardischen Buchstaben enthält, erhielt der Papst im Jahr 1510. Angeblich gab es in Monte Cassino ein anderes Manuskript, das Pogge verächtlich erwähnt. Könnte man es nicht finden? Das alles ist natürlich verwirrend, aber was kann man aus all dem schließen?

Die moralischen Beweise sind stärker oder zumindest auffälliger.

Es ist wahr, dass Nero in einem so gesetzestreuen Volk wie den Römern nicht das Recht hatte, Christen zum Tode zu verurteilen, die beschuldigt wurden, die Stadt angezündet zu haben; während es vor allem unter Nero keine Christen in Rom gab, Juden zweifellos, und man nannte die neue Sekte, die sich kaum von ihnen unterschied, Jessäer oder Nazarener. Aber weder Orosius noch Tertullian, die Tacitus gelesen haben, zitieren ihn bezüglich der Verfolgung durch Nero. Der erste Autor, der von diesen Grausamkeiten berichtet, ist der Christ Sulpicius Severus; damals stellten sich die Christen Nero als den Antichristen vor, und sie hatten ein politisches Interesse daran, die Kirche von Rom an den heiligen Petrus und den heiligen Paulus zu binden. Die Passage von Sulpicius Severus, die denselben Wortlaut hat wie die von Tacitus, kann von diesem entlehnt worden sein, sie kann aber auch in ihn eingeführt worden sein. Das zehnte Buch der Briefe von Plinius dem Jüngeren, in dem der Statthalter von Bithynien an Trajan  (also von Jurist zu Jurist), so unwahrscheinliche über die den Christen auferlegten Widerrufen schreibt, wurde es nicht als apokryph eingestuft? So auch die Passage von Tacitus. Als Herr Hochart auf diese Interpolation hinwies (1884), zweifelte er nicht grundsätzlich an der Authentizität des Tacitus. Als er dann das Buch des Engländers Ross, Tacitus and Bracciolini, kennenlernte, sah er darin ein Schlaglicht auf die Täuschungen des Pogge und nahm daraufhin die Forschungen des englischen Autors wieder auf, mit Ausdauer, Beharrlichkeit und Scharfsinn.

Bereits in seinem Buch über Seneca hatte Hochart zahlreiche Fehler und moralische Unmöglichkeiten in den Zeugnissen des Tacitus aufgedeckt.

Tacitus überträgt das Kolorit seiner Zeit auf die ersten Cäsaren. Er hält sie für Imperatoren; er sieht nicht, dass das Amt des Ersten, des Senatspräsidenten, nur auf parlamentarischem Wege ausgeübt wurde; er hält dieses Gremiums für subaltern, wo es doch den gesamten zivilisierten Occident repräsentierte und aus so vielen aufgeklärten Männern bestand, die unabhängig waren und unaufhörlich in die Verwaltung der großen Angelegenheiten verwickelt wurden. Er ahnt nicht, dass Senecas Autorität über die Mehrheit des Senats mindestens genauso stark war wie die des Präsidenten der Versammlung. Er bescheinigt Seneca eine besondere Ungeschicklichkeit bei der Rechtfertigung von Agrippinas Tod. Er glaubte, dass Nero nach dem Brand Zeit und Raum hatte, inmitten der bevölkerungsreichen Stadtviertel einen mit Gold überzogenen Palast inmitten von Gärten mit Seen und Wäldern zu errichten. Er glaubt an die Ehe von Silius und Messalina, bei diesem Volk von Rechtsgelehrten, er überschlägt sich mit Irrtümern über militärische Bewegungen, er, der natürlich wie jeder Römer gedient hatte, und über nautische Konstuktionen, als er den Onkel seines Freundes Plinius, den Kommandanten des Geschwaders, befragen konnte. Er schreibt der Flotte des Germanicus Ruder mit Querrudern und vertikaler Bewegung um ihre Achse zu, deren Erfindung aus dem 15. Jahrhundert stammt. Herr Hochart, der selbst Reeder war, erklärt, dass er mit dem Mechanismus von Agrippinas Boot nicht zurechtkommt. Was ist mit der Seeschlacht, die Claudius als Schauspiel auf dem See Lucrin aufführen ließ? Nicht ein einziges Manöver ist möglich. Tacitus kennt die Grenzen des Reiches in Ägypten nicht; er lässt Claudius eine unvernünftige Rede halten, um die Gallier in den Senat aufzunehmen, in dem sie seit Cäsar vertreten waren, eine Rede, die ganz anders ist als die auf den Bronzetafeln des Museums von Lyon, die 1528 in Saint-Sébastien bei Lyon entdeckt wurden. Aber auch diese Entdeckung ist sehr merkwürdig. Auch drei Buchstaben, die Claudius dem Alphabet hinzugefügt hatte, sind unter den Schriftzeichen nicht zu sehen, so dass wir ebenso gut an beiden Reden zweifeln können. Dazu kommen noch so viele Fehler im Detail: Tacitus weiß nicht, wann der Tempel der reitenden Fortuna errichtet wurde; er weiß nicht, wie sich die Stadtmauer der antiken Stadt verändert hat; er versteht nichts von der Abhaltung der Comitien. Wenn er die Bücher geschrieben hat, die unter seinem Namen geführt werden, dann ist er ein unbedeutender Historiker, ein obskurer Schriftsteller, ein Moralist, der überall das Böse sieht und in den Römern des Reiches Menschen der Renaissance, die korrupt und geschickt, hinterlistig, grausam und verdorben sind. Im Gegensatz dazu sagen uns alle Zeugnisse der Zeit, dass Caius Cornelius Tacitus, ein angesehener Konsul, der von den ersten Staatsmännern und Literaten seiner Zeit respektiert wurde, eine ernste, gebildete und erfahrene Persönlichkeit war: Seine Werke sind offensichtlich verloren gegangen, und der Betrug des Pogge bestand darin, dass er alle Berichte von Dion Cassius, Philostorgus, von Herodian, Sueton, Josephus, Tertullian, Orosus und Sulpicius Severus, die sich auf die Zeit bezogen, deren Geschichte er schrieb, geschickt exzerpierte und zusammenstellte. Das ist der Grund, warum die Annalen des Tacitus Lücken aufweisen, wenn die Historiker schweigen, und warum die Manuskripte selbst ohne Titel sind. Die Antike hatte uns in dieser Hinsicht nicht aufgeklärt; man wusste nur, dass es Annalen und Historien gab, aber man sagte auch, dass Tacitus Berichte von berühmten Toten geschrieben hatte, und in der Tat erscheint sein Werk an vielen Stellen wie eine Geschichte der Französischen Revolution, in der es nur um die Hinrichtungen geht. Für so viele Irrtümer und so falsches Kolorit ist also nicht der edle Römer verantwortlich, sondern der Autor, dem er folgt, in erster Linie sein Hauptgewährsmann, Dion, der sich aber irrt, weil er Grieche ist und weil er nach den Antoninern kommt, kann er kaum die Zeit verstehen, die noch sehr römisch und sehr wenig monarchisch war, in der Christen keinen Platz hatten und die das Senatorenalter par excellence war.

Wir laden hier junge Talente ein, im Vergleich der antiken Historiker des Kaiserreichs nach Stellen zu suchen, die sich tatsächlich in Tacitus oder dem Pseudo-Tacitus wiederfinden. Wenn es solche gibt, die sich nur auf Ereignisse beziehen, die niemand außer Tacitus erwähnt hätte, dann müsste das Werk von Tacitus selbst stammen, und die anderen hätten aus ihm geschöpft, denn um zuzugeben, dass der Pogge diese Passagen erfunden hat, müsste man ihm zu viel Phantasie unterstellen, und man sieht ja, dass er vor Lücken nicht zurückschreckte. Seine Frechheit war die eines Kopisten und nicht die eines Erfinders.

In Erwartung der Beweise für die Gelehrsamkeit möchten wir hier einen einzigen Einwand gegen die These unseres gelehrten und eloquenten Kollegen vorbringen. Sollte Tacitus nicht einen Stil haben, der wenn nicht unnachahmlich (wir gehen davon aus, dass die Renaissance-Schriftsteller sehr geschickt waren), so doch zumindest ein vierbändiges Pastiche herausfordern würde? Herr Ross, der von Herrn Hochart zitiert wird, sagt, dass es offensichtlich nicht der Stil von Pogges Witz und Korrespondenz ist, den man als Vergleich mit den Annalen heranziehen sollte. Tatsächlich hat Herr Hochart im Anhang Pogges Briefe an Niccoli und andere veröffentlicht; sie sind in ciceronischem Latein des 20. Jahrhunderts und keineswegs cornelianisch. Aber Herr Ross fügt hinzu, dass das Tacitus zugeschriebene Geschichtswerk eine gewisse stilistische Analogie zu Pogges ernsthaften Produktionen aufweist, und das ist es, was kaum der Fall zu sein scheint. Wir alle kennen Pogges wunderschöne Prosopopöie über die Ruinen Roms aus Gibbon; sie ist von majestätischer, diffuser Weite und moderner Melancholie. Tacitus schreibt ganz anders. Es sei denn, Pogge hat sich absichtlich einen Stil zugelegt, als er Tacitus sein wollte. Aber dann muss man betrachten, was diesen Stil ausmacht, ob er die Merkmale einer Persönlichkeit aufweist. Es ist die Art zu fühlen, mehr noch als zu denken, noch viel mehr als zu wollen oder zu handeln, die den Unterschied zwischen den Individuen ausmacht. Zeigt der Stil der Annalen und Historien eine Person, die tatsächlich gelebt hat, oder ein Wesen, das man sich nur einbildet?

Ill

GENIUS DES STILS VON TACITUS

Zugegeben, Tacitus ist ein prädestinierter Name für einen Mann, dessen Stil für geheimnisvolle Kürze und kalkulierte Dunkelheit steht. Aus ihm ist eine Schule hervorgegangen, deren Aufgabe es ist, in möglichst wenigen Worten möglichst viel zu sagen. – Die geheimen Triebfedern zu kennen, sich von niemandem täuschen zu lassen, mit einem Ton verächtlicher Leichtigkeit aus der Tiefe zu berichten, wird eine Methode sein, an der man sofort das politische Genie oder etwas dergleichen erkennen wird. Montesquieu triumphiert hier, ohne auf gewisse Heiterkeiten zu verzichten, die den Provinzmagistraten begleiten. – Toqueville geht tapfer voran und bewahrt so gut er kann die Allüren der meisterhaften Definitionen und die Affektiertheit der Zurückhaltung. Von dort bis zur Parodie wäre es nur ein kurzer Weg. Diejenigen, die ihn hinuntergehen, glauben vielleicht, dass sie hinaufgehen. Bei dem Erfinder hat das Prinzip des kleinen, aber gehaltvollen Wortes neue Formen hervorgebracht, die so individuell sind, dass frühere Schriftsteller sie weder in gleicher noch in ähnlicher Weise verwendet haben.

So etwa die nummerierten Aufzählungen (in den Historien die Präambel, in der die Unglücke, Unruhen und Katastrophen der Revolutionszeit zusammengefasst werden: Judäa, seine Geografie, Botanik, Fauna, Geschichte, Institution, Religion auf drei Seiten mit nebeneinander gesetzten Strichen); – die beiläufige Erwähnung von vermuteten Motiven, – die Antithesen in zwei Worten, – die aufeinanderfolgenden Phasen von Leidenschaften oder Ereignissen, die nicht durch Übergänge, sondern durch Fortschreiten herbeigeführt werden, – und dieser indirekte Stil, der so genau die unzusammenhängenden Äußerungen der Massen, die Obsessionen der Intrigen, die Sorgen der warnenden Stimmen, die vorsichtigen Andeutungen in offiziellen Ansprachen oder Diskussionen wiedergibt (Gespräche der Schaulustigen beim Tod des Augustus, Klagen von Germanicus’ Soldaten, Agrippinas Beschuldigungen, Narcissus’ voreilige Ratschläge an Claudius, Neros Rede zum Tod des Britannicus, die Diskussion von Eprius Marcellus und Helvidius Priscus im Senat etc.).

Die Vorgehensweise ist offensichtlich, aber sie fordert die Arglist der Nachahmer heraus, die nicht die Seele des Tacitus von den Sternen empfangen haben, eine verschwenderisch seltene Seele, die stärker war als die Ansprüche seines Talents und die von der Höhe vieler Aufrichtigkeiten herab schwebte: Verachtung für die Niedrigkeit und doch die Überzeugung, dass sie das Los der gesamten Gattung ist, und Mitleid für diese Masse und eine begründete Sympathie für die höheren Wesen, die daraus hervorgehen. Keine Philanthropie im modernen Sinne, kein Glaube an die Reform der Welt, sondern das Vorurteil der Alten, dass es eine sehr vornehme Aufgabe der Fürsten, Senate und Lehrer gibt, da die Gesellschaften das sind, was die Regierungen aus ihnen machen. Ein sehr geradliniger, sehr sicherer, vor lauter Natürlichkeit fast kindlicher Moralsinn, der Gut und Böse an zwei sicheren Zeichen unterscheidet: dem Abscheu, Leid zu verursachen, und der Scham, sich zu erniedrigen. Kein Üben, der Wille nicht mitreißender als der Stil, der Adel des Charakters sichtbar gemacht durch die Würde der Kleidung. Er ist weniger ein großer Maler des menschlichen Herzens als vielmehr einer bestimmten Gesellschaft; er teilt die Menschen leicht in drei Kategorien ein: die hochstehenden und unverdorbenen Gemüter, die schwankenden Schwachen, die niedrigen und grausamen Charaktere. Seneca, Burrhus und Thraseas sind eher resignierte Adlige als große Männer. Die beiden starken kriminellen Charaktere, Tiberius’ erbarmungslose Menschenfeindlichkeit und Sejans hartnäckige Hinterhältigkeit, sind geprägt von Rücksichtslosigkeit. Auch in dem bösartigen und scherzenden Nero und dem hinterhältigen und bleichen Domitian findet man keine Stärke. Er malte eine Gesellschaft, die schwächer wurde: Die großen, chimärischen Geister des Triumvirats waren ohne Nachfolger gestorben, und man ging allmählich zur bürgerlichen Ehrlichkeit der Antoninen über. In den Historien bringt die Revolution ein wenig Bewegung und Phantasie in die Gemüter. Aber die Männer der römischen Schreckensherrschaft, Massa Bebius, Othon, Cecina und Vitellius, sind nur Marionetten, sogar inkonsequenter als die der unsrigen. Die Römer gelten als Wunder an politischem Scharfsinn. Sie waren jedoch nie in der Lage, sich aus den einfachsten Situationen zu befreien.

Da sie die Menschenrechte nicht kannten, mussten sie immer auf Notlösungen zurückgreifen. Eine der ungeschicktesten Methoden war das Tribunat, aus dem die absolute Monarchie hervorgehen sollte. Mithilfe dieses Tribunats schüttelten sie das Joch des Patriziats nur ab, um unter das Joch des Adels zu fallen, das nichts anderes als die Herrschaft des Geldes war. Das Kaiserreich, so wie es beschrieben wurde, wurde nur teilweise erklärt. (…) Wie konnte der Senat von zwanzig Nationen, von denen die Mehrheit legal über alles verfügte, eine Tyrannei ertragen, die der einer kleinen griechischen Stadt glich? Das Prinzipat muss praktisch mit erbrechtlichen Voraussetzungen verknüpft gewesen sein, die die Modernen nicht sehen wollen und die Tacitus ständig anzunehmen scheint, oder die Verbrechen der Cäsaren wurden von den Zeitgenossen als private Verbrechen angesehen, denn jeder römische Herrscher war sein eigener Kaiser. Die Römer hatten eine schlechte Politik, weil sie eine Gesellschaft mit niedriger Ordnung hatten.

Tacitus lebte, wie er selbst sagt, in einer viel besser geordneten Zeit als der, die er in den Annalen und in den ersten Büchern der Historien beschreibt. Die Provinzialen dominierten den Senat und hatten ihn moralisiert; die allgemeinen Sitten waren einfacher; mit Nerva wurde die Rechtsordnung gesichert. In der Tat, wie auch immer die Zeiten gewesen sein mögen, Tacitus hatte die begründete oder eingebildete Überzeugung, dass er in seiner Jugend unter ziemlich niedrigen Seelen und in seinen mittleren Jahren unter ehrlichen Menschen ohne Größe lebte. Daher hatte er immer den Eindruck, dass er und seine unmittelbare Umgebung sich stark von den anderen unterschieden.

Sein Freund Plinius der Jüngere verwendet ein griechisches Wort, Σεμνώς, um seine Beredsamkeit zu charakterisieren. Im Lateinischen gibt es das Wort nicht, daher ist es ein Fehler, es mit Majestät zu übersetzen, wie es einige getan haben. Σεμνώς ist die religiöse Ernsthaftigkeit, ein imposantes und doktrinäres Flair, das wir als Orakelton bezeichnen.

Die Deutschen lehren uns (Reçue des Deux-Mondes, 1891), dass es nie eine lateinische Literatursprache gegeben hat, sondern lediglich eine Volkssprache, die von den Legionen gesprochen wurde und aus der unsere romanischen Sprachen hervorgegangen sind (mit Ausnahme des Italienischen, das sich an Ort und Stelle aus den Dialekten des alten Italien entwickelt hat). Die Literatursprache machte jeder Schriftsteller für sich selbst, und deshalb findet man von einem Schriftsteller zum anderen solche Unterschiede in Syntax und Wortschatz, wie man sie weder im Griechischen noch im Französischen zwischen den entferntesten Autoren sieht.

Victor Hugo liebte die Sitzungen des Dictionnaire in der Académie sehr. Er selbst erzählte dies M. de Goncourt (Journal des Goncourt, Bd. V, 1875, S. 246). „Ich weiß nicht, warum Cousin sich mir gegenüber seit meiner Ankunft als Antagonist aufspielte. Eines Tages kommt das Wort Intempérie. – Die Etymologie, fragt man? – ‚Unwetter’, antwortet jemand. – ‚Meine Herren’, rief Cousin, ‚wir müssen bei der Wahl der Wörter, die wir die Ehre haben zu definieren, eine gewisse Zurückhaltung an den Tag legen. – Intemperies ist kein Latein, das gibt es in keinem Autor mit guter Latinität; es ist Küchenlatein.’ Alle schwiegen. Also verwarf ich das Wort „Intemperies“ und fügte hinzu: „Tacitus“. – ‚Tacitus, aber das ist kein Latein’, sagte Cousin, ‚das ist Latein für die Romantik, nicht wahr, Patin, Sie, der Sie Latein können?’ – Doch bevor Patin das Wort ergriffen hatte, hörte man aus Royer-Collards hoher Krawatte mit einer näselnden und verächtlich spöttischen Intonation: – ‚Meine Herren, Cousin und Patin sind Herren, die Latein können.’ Man lachte, und die Etymologie wurde akzeptiert.“

Cousin hatte im Übrigen recht. Tacitus ist ein Romantiker. Er ist es aufgrund seiner Zeit, seiner Vorstellungskraft und seines Stils. Er kam nach den philosophischen Eruptionen von Seneca und Plinius dem Älteren; er zog sich von diesen Ideologen zurück; seine Metaphysik war platonisch.[1] Wie die Romantiker ist er religiös gefärbt, er hat Respekt vor den Traditionen. Er hat eine Vorliebe für das Exotische, einen Sinn für Landschaft, einen konkreten und malerischen Ausdruck und wie sie vielleicht mehr Skepsis, als er erkennen lässt. Die Kühnheit des Ausdrucks steht im Gegensatz zur erklärten Schüchternheit der Meinungen, sei es, dass man die Schwierigkeit spürt, zwei Waghalsigkeiten gleichzeitig durchzusetzen, sei es, dass in einer Gesellschaft, die sich regulieren will, das Bedürfnis nach Propaganda weniger zwingend ist. Tacitus besitzt weniger eine hohe Kunst des Stils als vielmehr eine Manier. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf seine Ausdrucksweise, er schreibt mehr wie ein Künstler als wie ein Schriftsteller. Er meidet die Umschreibung, die den Zufall unter den Ideen der Gattung und der Art verschleiert, und sucht die Metapher, die den Ideen das Relief des Zufalls verleiht. Die Romantik verkündete zwar die Überlegenheit der Inspiration über die Regel und wies viele Nuancen der Diktion, des Geschmacks und der Euphorie als akademische Kindereien zurück, war aber dennoch ein Sklave des Effekts, ersetzte diskrete Stiluntersuchungen durch auffällige Einfälle, vernachlässigte die allgemeinen Qualitäten zugunsten der besonderen; es ging weniger darum, Ideen zu verbreiten, als die Einbildungskraft zu beeindrucken.

Es ist offensichtlich, dass Cicero versucht, besser als alle anderen in der Sprache aller anderen zu schreiben, aber Tacitus will nicht, dass man auch nur einen Moment daran zweifelt, dass er wie alle anderen schreibt. Man fragt, ob der Pogge, der in einer Zeit latinisiert, in der die Latinität massenhaft angebetet wird, sich dieser Unterschiede, die uns erst seit der Anwendung der historischen Kritik auf die literarische Entwicklung klar geworden sind, bewusst war und sich in einer Fälschung in einundzwanzig Büchern daran gehalten hat.

Tacitus verwendet in seinem Satzbau gerne jene Modi der Dauer, die Unbestimmtheit und damit Poesie mit sich bringen, jene Zeiten des Verbs, die Grammatiker als Infinitive, Präteritum, Indefinitum oder Imperfekt bezeichnen und die den Eindruck verlängern, indem sie Zweifel einfließen lassen und eine Nuance der anderen unterordnen. Er vermehrt die Einschübe, die die Elemente einer Situation oder die Phasen einer Bewegung voneinander trennen und die Berührungen desselben Aspekts nebeneinander stellen. Aber immer schafft er es, dass jeder Eindruck unmittelbar ist, dass man keinen Kreislauf durchlaufen muss, um den Knoten des Satzes zu entwirren: Der Hauptbegriff, wo auch immer er steht und welchem „Teil der Oration“ er auch entnommen sein mag, ist immer sichtbar. Das ist es, was den Schriftsteller grammatikalisch klar macht und was ihm erlaubt, um des künstlerischen Effekts willen ungestraft alle Kombinationen der Dunkelheit zu wagen. Denn die Dunkelheit großer Schriftsteller ist die Tiefe ihrer Gedanken, und die Dunkelheit mittelmäßiger Schriftsteller ist die Falschheit ihrer Sprache. Tacitus streicht die verbindenden Begriffe, die den Satz wie einen Argumentationsapparat aufbauen würden, und ordnet die Wörter wie Abstufungen der Wirkung an. Es ist verständlich, dass man hier nichts zitieren kann, um diese Methode zu belegen, denn das wäre eine analytische Arbeit, die jeder leichter allein mit dem Buch machen kann.

Es ist ein großer Irrtum, anzunehmen, dass, wenn der Gedanke stark ist, auch der Stil stark sei, und dass große Denker notwendigerweise große Schriftsteller sind. (…)  Tacitus’ falsche Tiefe amüsiert einen Moment lang, sein pittoresker Stil hält lange an, aber was ihn dominieren lässt, ist seine wunderbare Beschwörungsformel. Musik, die mehr aus Klängen als aus Schwung besteht, schneller und regelmäßiger Rhythmus. Weniger melodisch als vielmehr eine gehaltvolle, tragende Melodie, die sich wie Erz anhört, in assonanten Finalen verlängert. Die Klassiker suchten die Euphonie durch die Vermeidung von Zusammenstößen, durch den Fluss, die Politur und die Modellierung der Klanglinie und durch die Anzahl der Pausen (die Anzahl!, dieses Maß, das sich so sehr vom poetischen Rhythmus unterscheidet). Tacitus suchte die Harmonie in Mitteln, die dem Versmaß und der Musik selbst näher standen; es ist nicht mehr verwunderlich, dass die lateinische Sprache, die auf diese Weise bearbeitet wurde, zu den Strophen der gereimten Prosa des Mittelalters geführt hat. Der Akzent (die persönliche Schwingung, die jeder Schriftsteller von den Dingen empfängt) ist bei ihm eine tiefe, gesammelte, monotone und volltönende Klangfarbe. Das liegt daran, dass seine Seele sowohl für den Grad der Überraschung offen ist, der die Quelle der Poesie ist, als auch für die anhaltende Aufmerksamkeit, die sich an einem endgültigen und kurzen Ausdruck erfreut. Seine Stimme ist voll, hart, ohne Spiel und Modulation, keineswegs klagend, sondern pathetisch, und was die Kritiker bei ihm die Empörung des ehrlichen Mannes genannt haben, ist eher ein verhaltener und verächtlicher Zorn, ein Erstaunen darüber, dass die Menschheit so niedrig sein kann, da er doch weiß, dass die Natur unempfindlich ist. Er ist keiner dieser Geister, die das Blaue lieben, sondern blickt geradewegs in den großen, universellen Schrecken. Seine misanthropische Poesie ist in der römischen Kunst eine der drei Gestalten der Traurigkeit. Lucrez, Seneca und Tacitus haben die Tränen der Dinge tiefer als die anderen großen lateinischen Dichter zum Ausdruck gebracht. Der eine gibt der Verzweiflung der Lebewesen in der blendenden und grausamen Natur eine Stimme des Grolls; der andere vertieft die bittere Trauer des Gewissens, das den erneuten Ansturm der Schwächen nicht überwinden kann; und der dritte hat aus dem gesellschaftlichen Abgrund die schwarzen Dämpfe der Verbrechen und des Elends als Gespenster aufsteigen lassen.

Das Alter und die Themen veränderten Tacitus’ Stil. Wenn es stimmt, dass der Dialog der Redner von ihm stammt, schrieb er ihn mit 22 Jahren, im Jahr 831 n. Chr., und in den noch ciceronianischen Formen dieser Periode; die Ausdrücke, die später bei ihm reichlich vorhanden sein und alles abdecken sollten, heben sich bereits ab, um die Individualität zu bezeugen. Er war 42 Jahre alt, als er die Germania und das Leben des Agricola schrieb, das klare und kraftvolle Bild der nördlichen Sitten, die zärtliche und melancholische Grabrede, die jedoch durch das Glück des Familienlebens und den zunehmenden Erfolg in den Ämtern gemildert wird, und der Stil folgt in seiner etwas schleppenden Anmut den Erinnerungen an das Prokunsulat Britannien (831). Die Historien stammen aus dem Jahr 855; er schrieb sie im Alter von 46 Jahren; Er entwarf sie auf breiter Ebene, mit lockeren Entwicklungen. Es war das Werk, auf das er sich gestützt hat. Die Annalen, die später kamen, waren nur eine Einführung. Die Historien gingen verloren, nur fünf Bücher blieben erhalten. Dort quellen die Geheimnisse über, die Politiker werden von ihren unsicheren Koalitionen mitgerissen; das Genie der Revolution wirft das Volk und die Jahre auf die Straße; die Provinzen werden erschüttert und der Orient erhebt sich in fantastischen Gestalten. Der Historiker spricht noch immer eine recht freie, weniger konzertierte Sprache, er erweitet seinen Horizont, er reist, er sieht die beweglicheren Charaktere klarer, die flüchtigeren Landschaften in neuen Farben. Die Annalen sind das typische Werk, komplex, die Klinik der Tyrannei. Er war 59 Jahre alt im Jahr 868. Er konzentrierte sich, sammelte seinen Stil, wie man es tut, wenn man nicht mehr viel Zeit hat. Hier sind die effektvollen Worte, die feurigen Erzählungen, die erschreckenden Szenen, die Maximen der schrecklichen Wahrheit. Hier wird vor allem zitiert, das höchste Werk, in dem das Genie ganz und gar steckt.

IV

WUNDERBARE BEISPIELE

Die Schönheit dieses eigenartigen Stils ist die Einheitlichkeit des Eindrucks, die durch kalkulierte Schnitte und einprägsame Wörter organisiert wird; Zitate sind ein unfehlbarer Beweis dafür. Man braucht nur Montesquieu oder Mably aufzuschlagen und sich die Fußnoten anzuschauen, dann braucht man den Namen des zitierten Autors nicht mehr zu lesen, wenn es heißt: „Die Beratungen des Senats folgten der Entscheidung der Soldaten.“ (Annalen, XII, 69.) – „Zwei Legionäre unternahmen es, die Regierung des römischen Volkes zu verlegen, und verlegten sie.“ (Historien, I, 25.) – „Von denen, die sich selbst entschieden, wurden die Leichen begraben, die Testamente vollstreckt, eine Ermutigung, um den Stillstand zu verhindern.“ (Annalen, VI, 29.) – „Und je mehr sich ein Mann als Denunziant auszeichnete, desto mehr stieg er zu Ehren auf und wurde gleichsam heilig.“ (Annalen IV,36.) – „Es wurde das Geheimnis des Reiches enthüllt, dass ein Kaiser außerhalb Roms hervorgebracht werden konnte.“ (Historien, I, 4)[2]

Was man bei Tacitus am häufigsten sucht, sind halbwegs aufschlussreiche Wörter, die das Vergnügen bereiten, Lügen, Gegensätze in der Situation oder im Charakter und innere Gewissenskämpfe zu erkennen; und in der Tat sind es diese unsicheren Familien- oder Milieuzustände, die ein Faktor für die Authentizität sind. Ist es möglich, dass eine Fälschung eine so naive Ironie wie diese in den offiziellen Stil eingebracht hat?

„Nero rechtfertigte sich in einem Edikt dafür, dass er die Beerdigung von Britannicus beschleunigt hatte, und erklärte, es sei der Brauch der Vorfahren gewesen, tragische Tote aus dem Blickfeld zu nehmen und sie nicht durch eine Lobrede oder einen Leichenschmaus in Erinnerung zu rufen. Er fügte hinzu, dass er, nachdem er die Hilfe eines Bruders verloren hatte, seine letzten Hoffnungen auf die Republik setzte; dass der Senat und das Volk ihr Interesse an einem Prinzen, dem einzigen Überrest einer Familie, die zu den größten Ehren bestimmt war, verdoppeln sollten.“ (Annalen, XIII)

Die Ausdrucksweise des betroffenen Zweifels lässt das Epigramm deutlich erkennen; es ist Augustus, der rät, die Grenze des Reiches nicht zu verschieben, sei es aus Vorsicht oder aus Neid auf seinen Nachfolger (Annalen, I, II). Es ist Agrippina, die in einem Augenblick verlassen wurde; niemand tröstete sie, niemand sah sie, außer einigen Frauen, sei es aus Anhänglichkeit oder aus Hass. Aber hier ist ein Beispiel für eine Dunkelheit, die ein Pastiche sicherlich durchsichtiger gemacht hätte. In der Anklage des Cossulianus gegen Thraseas heißt es: „Dieser Magistrat, der früher so unermüdlich und fleißig war und in den unbedeutendsten Sitzungen mit Wärme Partei ergriff, hatte sich seit drei Jahren nicht mehr bei den Versammlungen blicken lassen. Zuletzt hatte er es vorgezogen, seine Klienten zu beraten, da alle eifrig darauf bedacht waren, Silanus und Vetus zu verurteilen (…) Früher wurden Cäsar und Cato verglichen, heute sind es bei Nero Du und Thraseas. In derselben nach Zwietracht gierenden Stadt hat er Anhänger, die es noch nicht wagen, die Anmaßung seiner Reden nachzuahmen, ihn aber wenigstens in seinem Äußeren nachahmen, um Ihnen Ihre Vergnügungen vorzuwerfen. Er missachtet Eide und hebt Gesetze auf. Die Aufzeichnungen des römischen Volkes, die in den Provinzen und in den Armeen so weit verbreitet sind, sind die Geschichte der Enthaltsamkeit des Thraseas.“ (Annalen, XVI, 22).

(…)

Tacitus’ Darstellungen sind nicht nur eindringliche Bilder: Sie lassen sich nicht von den Gefühlen der Figuren trennen, sie sind wie deren Brechung, und das Geschenk des Lebens geht vom Menschen zur Natur über. An dem Tag, an dem die sterblichen Überreste von Germanicus in das Grab des Augustus getragen werden, lässt er ein ausgedehntes Schweigen (ein Ausdruck, den La Fontaine übernommen hat) mit den trauernden Sorgen abwechseln. Man sieht die Straßen, die sich füllen, die Trauerfackeln, die sich über das Marsfeld bewegen. Von den Soldaten unter Waffen, den Magistraten ohne Abzeichen und dem nach Stämmen geordneten Volk ertönen die Klagen; der heftige und offenkundige Schmerz scheint die Herrschaften vergessen zu haben. Man hört, wie sie dieses karge Begräbnis mit der Pracht vergleichen, die Augustus für Drusus veranstaltet hatte, und dann schmiegt sich der Stil des Historikers in gleichen Sätzen und mit identischer Kadenz an die Erwiderungen der Menschen, die abwechselnd sprechen, um eine Tatsache in Erinnerung zu rufen: „Man hatte die Bilder der Claudius und Julius um das Totenbett herum verteilt; – man hatte auf der Tribüne die Grabrede verlesen; – all diese Riten, die von den Vorfahren erfunden wurden, – oder von der neueren Frömmigkeit erdacht wurden.“ – Und es folgt ein Wechselspiel von anklagenden Aufzählungen: „Wo waren diese antiken Institutionen? – Das Bild auf einem ausgebreiteten Bett; die Verse, die die Tugenden des Verstorbenen wiederholten, – und die Lobpreisungen und die Tränen, – und alles, was zumindest zum Schmerz einlud.“ (Annalen, III, 4)

Der Sinn des Schauspiels bei Tacitus ähnelt weit weniger der dramatischen Kunst der Lateiner und Franzosen, die eine Handlung aufdeckt, verknüpft und auflöst, als vielmehr dem Fortschreiten der Szenen, die bei den Griechen und Shakespeare jede Figur genau zu dem Zeitpunkt bringen, an dem das Schicksal ineinandergreift. Der Tod der Messalina ist wie ein Shakespeare-Drama. Zuerst kommen die beiden von Narziss gesandten Denunzianten zu Claudius; es sind zwei Kurtisanen, von denen die eine, Calpurnia, sich dem Kaiser zu Füßen wirft und ihm zuruft: Messalina hat Silius geheiratet, und die andere, Kleopatra, die im Hintergrund steht, fragt: Ist das nicht bekannt? Claudius will, dass Narzissus herbeigeholt wird. Nun ist es Narziss, der die Bühne betritt und spricht. Aber der Kaiser ist ein Mann, der Rat braucht, und er ruft den Landwirtschaftsminister Turraninus und dann Lucius Geta, den Anführer der Prätorianer. Sie bestätigen es, und es kommen noch weitere Beamte, die wollen, dass der Kaiser unter den Soldaten Zuflucht sucht. Claudius ist entsetzt. – Dann ein verrücktes Intermezzo: Es ist Messalina, wie sie die Bacchanalien in in mythischer Verkleidung zelebriert; und in diesem Tanztheater klettert ein Statist auf einen Baum und wird gefragt, was er in der Ferne sieht: „Ein Sturm, der von Ostia kommt“, ohne dass man sieht, ob der Dichter einen Effekt des Himmels oder ein Omen darstellen will. Von überall her erreicht die Prinzessin die Nachricht, dass Claudius alles weiß, und die Schuldigen fliehen, Messalina in die Gärten des Lucullus, Silius in die Festungsanlagen. Messalina schickt ihre Kinder zu Claudius, um ihn zu besänftigen. Auch die älteste aller Vestalinnen wird herangezogen, die ganz natürlich um die Gnade des Kaisers bittet, da er ja Pontifex ist. Vitellius, der zukünftige Kaiser, eine ohnehin unsympathische Figur, versucht, Claudius daran zu hindern, nach Rom zu kommen, und sagt die ganze Zeit nur: Was für ein Verbrechen, was für ein Frevel! Messalina selbst schreit: „Hört auf die Mutter von Britannicus und Octavia“ Aber Narcissus ist immer noch da; er hält die Kinder fern, er entfernt Messalina aus Claudius’ Blickfeld; er wagt es nicht, die Vestalin wegzuschicken, bevor sie ihre Rede gehalten hat, aber sobald sie fertig ist, soll sie gehen um ihre Gebete zu sprechen.

Claudius ist erschreckend still. Narcissus befiehlt alles, einige Menschen werden geächtet und getötet. Der einzige Minister, ein Freigelassener Messalinas, zerreißt seine Kleider und schreit für seine Herrin. Er ist es, der auf ihrem Scheiterhaufen verbrannt wird. Es werden noch mehr Menschen getötet. Zweite Szene mit Messalina in den Gärten des Lucullus. Ihre versöhnte Mutter ermahnt sie, nicht auf das Todesurteil zu warten. „Aber diese durch Ausschweifungen verdorbene Seele hat nichts Ehrenhaftes mehr“.

Nichts als Tränen und Schluchzen vor den beiden Todesministern, dem Tribun, der anständig bleibt, und einem Freigelassenen, der Schmähungen ausspuckt. Sie nimmt das Eisen, kann nicht; man tötet sie, überlässt den Leichnam ihrer Mutter. Claudius sitzt bei Tisch und fragt nicht nach Einzelheiten; das Wichtigste für ihn ist das Trinken. In den folgenden Tagen kein Hass, keine Freude, kein Zorn, keine Trauer, kein menschliches Gefühl. (Annalen, XI, 29-38).

Es sind immer noch Shakespeare-Dramen, die diese Aufstände in der Bretagne darstellen. Was für Szenen sind die Verwünschungen, die schrecklichen Gebete der Prophetinnen der Insel Mona. (Annalen, XIV, 30 ff) An der Front der keltischen Armee, die in gedrängten Reihen am Ufer steht, sieht man mit wilden Pelzen bekleidete Frauen ankommen mit zerzaustem Haar und im Gefolge Furien, die Fackeln tragen; die Druiden laufen herum, heben die Hände zum Himmel und stimmen Verwünschungen an. Die römischen Soldaten wehren sich nicht gegen dieses Schauspiel, sie lassen sich schlagen und verletzen. Die Aufregung erreicht ihren Höhepunkt, als die tragische Prinzessin Boadicea, Königin der Icener, eintrifft und erzählt, wie die Zenturien ihr Königreich erobert haben und römische Sklaven ihre Töchter vergewaltigt haben; sie selbst ausgepeitscht wurde, die führenden Männer der Icener enteignet und die Verwandten des Königs in die Sklaverei verschleppt. Der Stamm greift zu den Waffen und ruft die Stadt der Trinobantes zum Aufstand auf. Sie zerstören den Tempel des göttlichen Claudius, der wie eine Zitadelle der ewigen Herrschaft stand. Durch welches Wunder wird plötzlich die Siegesstatue von ihrem Sockel heruntergeholt und kehrt den Rücken, als würde sie sich den Feinden beugen? Das ist die Stunde der Ausrottung!

Andere Wunder: Um den Senat der römischen Kolonie herum hört man das Zittern des Himmels; das Theater hallt von Schreien wider; in der Mündung der Themse sieht man das Bild der umgestürzten Stadt. Wenn sich das Wasser zurückzieht, bleiben Leichen im Flussbett zurück. (Annalen, XIV, 32). London ist bereits eine reiche und bevölkerungsreiche Stadt, ein liebliches Land zum Wohnen -, die Briten verwüsten es. Die gleiche Katastrophe ereignete sich in Verulam, wo siebzigtausend Bürger und Verbündete umkamen. (Annalen, XIV, 33) Boadicea erschien auf ihrem Wagen, ihre Töchter an ihrer Seite, und hielt eine Rede an jede aufständische Sippe. „Sie bezeugte, dass es bei den Briten üblich war, von Frauen in den Krieg geführt zu werden; sie kam jedoch nicht als Königin, für ihr Königreich und ihre Schätze, sondern als Frau des Volkes, um ihre Freiheit zu rächen, ihr Körper von Schlägen zerfetzt und ihre Töchter vergewaltigt. So weit haben es die Leidenschaften der Römer gebracht: Sie müssen alles beflecken, den Körper, das Alter, die Jungfräulichkeit. Aber die Götter der gerechten Rache sind anwesend: Eine Legion wurde ausgelöscht; die anderen verschanzen sich oder versuchen zu fliehen. Hier gilt es zu siegen oder zu sterben, zumindest wenn man eine Frau ist. Was die Männer betrifft, so sollen sie dienen und leben.“ Nach dem Sieg der Römer vergiftete sich die edle und unglückliche Frau.

Tacitus liebte die aufbrausenden Charaktere der nördlichen Barbaren, ihr aufrechtes und leicht erhobenes Gewissen und die mystischen Erleuchtungen ihrer Frauen. Er war es, der die Prophetinnen Aurinia und Velleda bekannt machte; er malte eine andere Barbarei, die des Orients; er erzählte die romanhaften Tragödien des Mithridates und der Pharasmanen, des Rhadamistes und der Zenobia mit jenem Sinn für Bewegung, Unvorhergesehenes und Abenteuer, den die Moderne erst im 18. Jahrhundert wiedergefunden hat. Eine düstere Vorahnung veranlasste ihn, die Völker zu analysieren, durch die Rom untergehen wird. So malt er Vitellius’ Leutnant Cecina, der so tut, als trage er die gallische Saia, und seine Frau in einem purpurnen Kleid, die an der Front der Legionen aufmarschiert; Die Infanterie des Galegacos, die auf den kaledonischen Hügeln steht, und die Streitwagen, die durch die Ebene rollen, wie wir es später von Ossian sehen werden; die Flucht der Prinzessinnen entlang der großen Flüsse Armeniens und Persiens, die Morde an den königlichen Familien; und das ursprüngliche, einfache, keusche und kriegerische Leben der germanischen Stämme in ihren Waldrevieren. Die melancholische Vorstellung von der Nähe der Grenzen der Welt wirft ein fahles Licht auf die Heldentaten des Agricola auf der Insel Britannien. Denn das Ende der Hebriden grenzt dort an die polare Klarheit. „Die Tage sind dort länger als auf unserem Kontinent. Die Nacht ist klar und so kurz, dass man zwischen dem Beginn und dem Ende des Tages kaum einen schwachen Zwischenraum erkennen kann. Sie behaupten sogar, dass bei wolkenlosem Himmel die Sonne auch in der Nacht noch scheint und weder untergeht noch aufgeht, sondern nur vorübergeht. Zweifellos kann die ebene Gestalt der Erde an ihren Enden, die nur einen sehr kleinen Schatten wirft, die Finsternis nicht erhöhen, und dann stürzt die Nacht unter dem Himmel und den Gestirnen heran.“ Des Renades, der 1810 diese elegante Übersetzung von Agricola gibt, gesteht, dass er nicht nach einer Erklärung sucht, aber es ist offensichtlich, dass es sich um die Neigung der Sonne von nur sechs Grad unter dem Horizont am Wendekreis des Sommers handelt. Der von Tacitus angegebene phantastische Grund überrascht den Historiker nicht, der die Germania wie folgt schließt: „Was man hinzufügt, ist fabelhaft, man geht so weit zu sagen, dass die Hellusen und die Oxionen den Kopf und das Gesicht eines Menschen, den Körper und die Glieder des Tieres haben. Ich werde mich nicht zu diesen Tatsachen äußern, die keinen Anspruch auf Gewissheit haben.“

Wo Tacitus’ Persönlichkeit jedoch unwiderlegbar hervortritt, ist in der Erzählung über die berühmten Toten. Die Hoheit seines Denkens, die Traurigkeit seines Empfindens für das Schicksal und die Bitterkeit seiner Lebensauffassung sind dort in unnachahmlichen Ausdrücken zu finden. Senecas Tod ist wohlbekannt, und darin mischt sich eine Paradephilosophie, die gut zu seiner Person passt und auch den Historiker nicht überrascht; das Porträt von Pauline, das den Tod abschließt, ist ein Wunder an Anmut. Hier sind zwei weitere, weniger oft zitierte Todesfälle: „Man versicherte, dass Subrius Flavius in einem geheimen Rat mit den Zenturien, wie Seneca zugab, beschlossen habe, dass sie, nachdem sie Nero durch die Hände Pisons losgeworden seien, Pison selbst loswerden und das Reich dem Philosophen geben würden, der allein durch den Glanz seiner Tugenden zur höchsten Macht bestimmt worden sei. Und da Nero die Harfe spielte und Pison die Tragödie, beschied man Flavius, dass der Staat entehrt würde, wenn er einen Flötenspieler verjagen und einen Komödianten nehmen würde. Flavius verteidigte sich zunächst und sagte, dass ein Kriegsmann wie er feige und verweichlichte Männer, deren Sitten seinen eigenen zu sehr widersprachen, nicht als Komplizen für ein so gefährliches Unternehmen gewollt hätte; als er sich unter Druck gesetzt sah, nahm er die ehrenvolle Partei des Geständnisses an. Nero fragte ihn, warum er seine Schwüre verraten habe: Ich habe dich gehasst“, sagte er. Kein Soldat war dir treuer, solange du es verdient hast, geliebt zu werden; ich begann dich zu hassen, als ich sah, dass du Vatermord an deiner Mutter und deiner Frau begangen hast, dass du ein Kutscher, Gaukler und Brandstifter warst. Ich gebe diese Worte wieder, weil sie nicht so bekannt sind wie die von Seneca und weil die ungeordnete, aber mutige Rede dieses Kriegsmannes es wert ist, bewahrt zu werden. Nichts in der ganzen Angelegenheit war für Nero unangenehmer, da er ebenso gewohnt war, Verbrechen zu begehen, wie er es nicht gewohnt war, dass man ihm diese vorwarf. Der Tribun Veranius Niger wurde mit der Hinrichtung des Flavius beauftragt. Dieser ließ auf dem benachbarten Feld eine Grube ausheben, die Flavius als zu klein und zu eng verspottete. „Man macht nicht einmal mehr eine Grube nach den Regeln“, sagte er zu den Soldaten, die ihn umringten, und als der Scharfrichter ihn aufforderte, seinen Kopf mutig zu präsentieren, antwortete er: „Schlage ebenso.“ (Annalen, XV, 67)

Hier ist das eigentliche Meisterstück:

„Lucius Vetus starb ebenfalls sehr tapfer, zusammen mit Sextia, seiner Stiefmutter, und Pollutia, seiner Tochter. Nero hasste sie, weil ihr Leben ihm die Schuld am Tod des Rubellius Plautus, des Schwiegersohns des Vetus, zu geben schien. Sie wurden von Fortunatus, einem Freigelassenen, denunziert. Nachdem er seinen Herrn ruiniert hatte, lieferte er die Mittel, um ihn zu verlieren. Zu ihm gesellte sich Claudius Decimus, den Vetus als Prokonsul von Asien wegen seiner Verbrechen hatte festnehmen lassen und den Nero als Preis für die Anklage freiließ. Als Vetus davon erfuhr und sah, dass man ihn nicht von einem Freigelassenen unterscheiden konnte, zog er sich in sein Land in Formia zurück, wo Soldaten heimlich das Haus umstellten. Er hatte seine Tochter bei sich, die von der gegenwärtigen Gefahr und der grausamen Erinnerung an ihren Mann Plautus gequält wurde; sie glaubte, ihre Mörder noch zu sehen und sein blutiges Haupt zu küssen. Sie behielt ihre blutbefleckten Kleider an, weinte unaufhörlich und nahm keine Nahrung zu sich, nur um nicht zu sterben. Auf den Rat ihres Vaters hin reiste sie nach Neapel. Da sie nicht bis zu Nero vordringen konnte, belagerte sie ihn, sobald er herauskam, und rief ihm teils schluchzend, teils mit einer Kühnheit, die über ihr Geschlecht hinausging, zu, er solle auf die Unschuld hören und seinen ehemaligen Kollegen im Konsulat nicht einem Freigelassenen opfern; aber Nero war gleichermaßen taub für ihre Gebete und Vorwürfe.

„Sie erklärte ihrem Vater, dass sie die Hoffnung aufgeben und sterben müsse. Gleichzeitig erfuhr Vetus, dass der Senat ein hartes Urteil über ihn fällen wollte. Man riet ihm, einen großen Teil seines Besitzes dem Kaiser zu überlassen, um den Rest seinen Enkeln zu erhalten; er wollte nicht sterben, um sein glorreiches und freies Leben durch diese Niedrigkeit zu entehren. Er gab seinen Sklaven, was er an Geld hatte, und sagte ihnen, sie sollten teilen und alles mitnehmen, was sie könnten, und nur drei Betten reservieren, um mit seiner Familie zu sterben. Dann wurden alle drei im selben Zimmer mit demselben Eisen die Pulsadern geöffnet und sie wurden in angemessener Weise bedeckt und zusammen in das Bad getragen, wobei der Vater seine Tochter ansah, die Ahnin ihre Enkelin und diese die eine und die andere, und jeder wartete sehnlichst auf den letzten Atemzug, um nicht zu sehen, wie das, was er liebte, starb. Die Ordnung der Natur wurde eingehalten, und die Ältesten starben zuerst. Sie wurden nach ihrer Beerdigung angeklagt und zur letzten Folter verurteilt. Nero widersetzte sich dem und überließ ihnen die Wahl des Todes. So beleidigte er nach so vielen Morden immer noch die Opfer seiner Grausamkeit“. (Annalen, XVI, 10 und 11)

Hätte ein Fälscher, der die Untugenden des Herzens und des Geistes eingebüßt hatte, die man Pogge allzu wahrscheinlich zuschreibt, all diese so römischen, so naiv aristokratisch, so zahlreich und in der Liebe zum Leben unter Bürgerstolz und in der völligen Abwesenheit jeglicher Religion außer der Familie? Hätte ein Mann, der diese tiefen Saiten zu rühren vermochte, so wenig Stolz auf sein Werk gehabt, dass er es in einem literarischen Schwindel vergraben hätte? Und wenn man es nicht wagt, in seinem Namen zu sprechen, erfindet man dann zum Beispiel Dinge wie die folgenden über die Meinungsfreiheit: „Cremutius Cordus sagte zu den Senatoren: Wenn ihr mich verurteilt, wird man sich auch an Brutus und Cassius erinnern; man wird sich auch an mich erinnern. – Anschließend verließ er den Senat und hungerte sich zu Tode. Die Senatoren ordneten an, dass seine Bücher von den Stadtverordneten verbrannt werden sollten, aber man versteckte sie und las sie. Es ist lächerlich, sich vorzustellen, dass die Mächte des Tages  in zukünftigen Jahrhunderten die Erinnerung an die Vergangenheit auslöschen könnten. Im Gegenteil, die Verurteilung verleiht den Schriftstellern Autorität; die Könige, die sie verfolgten, und bei uns diejenigen, die ihre Strenge nachahmten, haben sie nur berühmt gemacht und sich selbst entehrt.“ (Annales, IV, 3) Hätte ein literarischer Fälscher diese Geistesrevolte verspürt?

Jacques de BOISJOSLIN

Quelle:  Revue de la Société des études historiques. Paris 1893, Rapport de M. de Boisjolin sur l’étude de M. Hochart,  S. 155-179

Übersetzung aus dem Französischen: Rainer Schmidt

Hier der vollständige Text als PDF-Download auf Französisch und in deutscher Übersetzung.

siehe hierzu auf unserer Seite:

Uwe Topper: Hocharts Untersuchung des Tacitus
Rainer Schmidt: Polydore Hochart – eine Spurensuche
Paul Tannery: La Question de Tacite. Lettre à M. Hochart (übersetzt von Rainer Schmidt)

Anmerkungen

[1] Vgl. die Studie über die Philosophie de Tacite, in der Revue de l’Instruction publique, 29 jauvier 1876, zitiert am Ende von Anhang II zur Übersetzung von Schopenhauers Abhandlung über den freien Willen, 2. Aufl., Paris, Alca II, 1880.

[2] Wir verbieten uns hier, Tacitus auf Latein zu zitieren, da wir befürchten, die Überzeugung des Lesers durch den Klang der souveränen Sprache zu erzwingen, und um allein durch die Treue des Sinns die Individualität des Stils erkennen zu lassen. In der Regel hat man sich der Übersetzung von D’Alembert bedient, die am wenigsten vom Text abweicht, und sie dorthin zurückgeführt, wenn sie davon abwich.

 

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