Johnson: Aufstieg der englischen Kultur  

Der englische Gelehrte Edwin Johnson (1842 — 1901) hinterließ bei seinem Tode ein unveröffentlichtes Buch, um 1891 vollendet, das zwei Jahre später durch den Buchhändler Edward A. Petherick unter dem Titel The Rise of English Culture herausgegeben wurde (hier im Internet in Englisch). Eine deutsche Übersetzung wurde 2020 durch Wolf Odinson erstellt (hier zu lesen).

Grunderkenntnis: Mindestens 600 Jahre in unserem Zeitstrahl sind falsch, zwischen 4. und 11. Jh. verging keine Zeit. Die Kirche wurde in Europa gegründet, das lateinische Christentum ist jünger als der Islam.

Häufig wird der krasse Bruch zwischen Antike und Renaissance erkannt und zeitlos überbrückt. Zwar ist von einer Katastrophe, die den Bruch verursacht haben müßte, nirgends die Rede, aber der Zeitsprung ist so deutlich, daß eine solche zwingend angenommen werden muß, auch wenn man keine Kenntnis davon hätte.

Dazu im Wortlaut Edwin Johnson S. 63 (IV): „…dass das 15. Zeitalter beziehungsweise Jahrhundert das dunkelste ist. Verglichen mit diesem sind die Eindrücke, die wir vom 16. Jahrhundert haben, von außerordentlicher Klarheit.”

Dabei ist sein Hauptanreger ein gewisser Polydor Vergil, De inventoribus Rerum, auf den er besonders zu Anfang des Buchs über die Paulsbriefe eingeht.

Johnson schreibt einige Sätze fast wie ich in “Die Große Aktion” (1998). Damals kannte ich Johnsons Werk der Paulinischen Episteln noch nicht. Und dieses Buch Johnsons über die Entstehung der englischen Kultur lerne ich gerade erst kennen und staune über die weitgehende Überseinstimmung. Da viele Aussagen (von denen ich hier nur einige zitiere, man lese das Buch lieber selbst und im Ganzen) mehrfach in unserer gemeinsamen Chronologiearbeit gleich oder ähnlich klingen, fühle ich meine Anstrengung bekräftigt und belohnt (siehe auch meine Besprechung von Johnsons Werk hier)

S. 73:
„Vor etwa 400 Jahren (also gegen 1500) begannen sie (die Benediktinerorden) die hebräischen Schriften ins Lateinische zu übersetzen, wobei wir immer bedenken müssen, dass die Entdeckung der vollständigen Bibel für Martin Luther (angeblich um das Jahr 1503) der Bergung eines Schatzes glich, der in einem Acker verborgen war.”

S. 74 f.:
„Die Regel des heiligen Benedikt sollte in enger Verbindung mit dem Neuen Testament studiert werden, wobei beide Schriften als Literatur betrachtet werden müssen, die erst zwischen 1480 und 1520 herausgegeben und der Welt bekannt gemacht wurde.”

S. 84:
„Luther ist der wiedererstandene Augustinus; Wyclif ist eine Erfindung.”

Letzteres sagt er in Anlehnung an die Studien von Thorold Rogers (S. 174 ff; S. 250 geht er nochmal darauf ein).

S. 134 f (und nochmal S. 370) wird auch Dante erwähnt, und zwar in Verbindung mit Thomas von Aquin und seiner angeblichen Ermordung, worauf Dante in seinem Epos anspielt. Nach Johnsons Schema wird dies ebenfalls erst gegen 1500 geschrieben sein.

S. 168:
„Die verfügbaren Beweismittel zeigen deutlich genug, dass die Kultur des Lateinischen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wiederbelebt wurde und gewisse Zeit später die Kultur des Griechischen, jeweils unter einer begrenzten Anzahl von Gelehrten. Der epochale Trithemius … ist eventuell sogar der erste Abt, der sich unter der Anleitung eines jüdischen Konvertiten des Hebräischen annimmt.”

Besonders lehrreich ist dann Kap. VI (ab S. 169): “Das benediktinische System der Chronologie”
Darin bespricht er auch ausführlich Sacrobosco (ab S. 179), mit Bezug auf John Leland (um 1540), wobei erkennbar wird, daß Sacrobosco im 15./16. Jh. geschrieben sein muß (wie ich in “Jahrkreuz” 2016, S. 265 schreibe).
Für den angeblich im 13. Jh. wirkenden Roger Bacon findet Johnson mit Hilfe von Leland ähnliche Verschiebungen heraus (ebendort) und zitiert dazu den schrafsinnigen Thomas Fuller. Ähnlich trifft es Robert Greathead (Grossteste, S. 186). Johnson schließt S. 188:

„Am Ende des 15. Jahrhunderts kann das Studium der Astronomie in den Klöstern gerade erst begonnen haben. Die frühen astronomischen Fehler der Benediktiner offenbaren sich nirgends deutlicher als im “Opus Majus” (von Bacon)”.

Kap. VIII beschreibt Johnson humorvoll die im Kloster Bobbio (Italien) geschriebene Legende der Christianisierung Irlands, die sich aber vor 1500 nicht ereignet haben kann, also ein Jahrtausend später als erfunden. S. 243: “Es wurde ernsthaft behauptet, die runden Türme seien vor der englischen Eroberung errichtete Glockentürme von Kathedralen und Abteien gewesen.” (sehr ähnlich dazu Topper 2006, Teil 2).

Nun werden bezüglich der französischen Erfindungen Johannes Launoius (Jean de Launoy, 1672; siehe auch Topper 1998, S. 260) und unser allseits verehrter Jean Hardouin genannt, dessen Schrift Prolegomena Johnson ins Englische übertrug (erschienen postum 1909, siehe hier).

S. 283: Während Erasmus von Rotterdam mit der Schöpfung der Bibel tätig war, halfen einige Zeitgenossen mit. “Wir erleben wie Colet aus Italien kommt, um einem erregten und neugierigen englischen Publikum den Apostel Paulus und dessen Schriften darzubringen.” (John Colet wird schon S. 272 erwähnt).

Als einen wichtigen Beitrag zum Problem der italienischen Jahreszahlen (hier in gedruckten Büchern) möchte ich Johnson (S. 280) zitieren:

„In einer vor 50 Jahren gehaltenen Vorlesung macht Edgar Quinet die dahingehende Beobachtung, dass das 18. Jahrhundert für die Franzosen das war, was für die italienischen Gelehrten das 16. Jahrhundert war. Er nennt einige der herausragendsten Humanisten dieser Zeit und sagt, dass ihnen die von der Kirche beanspruchten 1500 oder 1600 Jahre wie ein »subtiler Traum« erschienen. Dass Quinet nicht die ganze Tragweite dieser Aussage begriff, macht sie nur umso bemerkenswerter. Es ist an der Zeit, eindringlich zu verkünden, dass die Humanisten guten Grund dafür hatten, die Rückschau der mönchischen Historiker faktisch als künstliches Produkt in Form eines subtilen Traums zu betrachten.”

Hinsichtlich Beda Venerabilis, dem ehrwürdigsten Kichenschriftsteller Englands („8.Jh.”) befindet Johnson,
„zeigt sich, dass das Werk unmöglich älter als die letzten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts sein kann. Außerhalb der Klöster war es bis zur Regierungszeit Heinrichs VIII. völlig unbekannt. Erstmals gedruckt wurde es erst 1643.”

Es ist damit einer der frühesten Versuche, eine Kirchengeschichte Englands zu erstellen.

Das Buch über die Paulusbriefe ist äußerst detailgenau verfaßt und bringt klare Ergebnisse, die aus den allgemeinen Kenntnissen abgeleitet sind (S. 474):

„In diesem unmöglichen Geschichtssystem klafft nun eine immense Lücke von 600 bis 700 Jahren, während welcher man geringfügig am Text herumgebastelt haben soll. Die nächste Absurdität, mit der wir konfrontiert werden, ist jedoch die, dass im sogenannten »16. Jahrhundert« beziehungsweise dem »Zeitalter der Veröffentlichungen«, wie ich diese Zeit nenne, das Basteln und Korrigieren wieder von vorne begonnen haben soll.”

Ich zitiere nur wenige Sätze, um die Lektüre des ganzen Buches anzuregen und zu zeigen, wie aktuell die Ergebnisse heute noch sind. Das Überspringen von 600 bis 700 ereignislosen Jahren zwischen Antike und Neuzeit wird von mir ja häufig angesprochen.

Was die wahre Entwicklung der Bibelschriften und Drucke angeht, so macht Johnson deutlich, daß sie in der Renaissance keineswegs 1400 Jahre alt sind, wie angenommen wird, sondern gerade erst geschrieben wurden. Wir müssen also zweierlei Sprünge unterscheiden: den Zeitsprung über 700 Jahre erfundene Geschichte und die Fälschung der Herstellung der Schriften der Kirche, einen doppelt so langen fiktiven Zeitsprung.

Übrigens war Johnson keineswegs vergessen, als er starb, siehe die Besprechung seines postumen Buches in der New York Times vom 14. Mai 1904.

 

Inhalt des Buches von Johnson:
(nach dem Vorwort zur Übersetzung durch Wolf Odinson):

Edwin Johnson und seine Schriften (von Edward A. Petherick, Streatham, Juni 1903) Seite 19

Allgemeine Einführung Seite 61
Kapitel 1 Der Aufstieg des Ordens des heiligen Benedikt Seite 105
Kapitel 2 Die benediktinische Architektur Seite 115
Kapitel 3 Der Aufstieg der benediktinischen Literatur Seite 123
Kapitel 4 Fabeln über benediktinische Schulen Seite 131
Kapitel 5 Das Schema der benediktinischen Literatur Seite 141
Kapitel 6 Das benediktinische System der Chronologie Seite 169
Kapitel 7 Das benediktinische System der Reisenden,
Geographen und Naturhistoriker Seite 189
Kapitel 8 Fabeln über Schulen + Das Kloster von Poggio
und die Fabeln über frühe irische Kultur Seite 241
Kapitel 9 Bibliotheken in Florenz und Rom Seite 267
Kapitel 10 Das benediktinische System der englischen Historiker Seite 289

Die Paulusbriefe

Kapitel 1 Einleitung Seite 319
Kapitel 2 Polydor über den Ursprung des Christentums Seite 331
Kapitel 3 Die Anfänge der Paulus-Legende Seite 345
Kapitel 4 Paulus der “Berühmte Mann” Seite 375
Kapitel 5 Die Struktur der Paulusbriefe, wie sie uns im Missal begegnet Seite 387
Kapitel 6 Die Analyse der Paulusbriefe mittels Cassianus Seite 401
Kapitel 7 Fingierte Zeugnisse über Paulus Seite 417
Kapitel 8 Hieronymus und Augustinus, die “Berühmten” biblischen Gelehrten S. 439
Kapitel 9 John Leland über britische Schreiber Seite 459
Kapitel 10 Die Vulgata beziehungsweise die lateinische Bibel Seite 471
Kapitel 11 Paulus als katholischer Apostel Seite 487
Kapitel 12 Luther und Paulus Seite 499
Kapitel 13 Die Autoren von “Verisimilia” und ihre Analyse der Episteln Seite 519
Kapitel 14 Paulus als hebräischer Gelehrter Seite 531
Kapitel 15 Fazit Seite 543
Nachtrag Seite 551

Ein Kommentar

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    Rainer Schmidt

    Da ich durch meine Arbeit an der Hardouin-Übersetzung zwangsläufig mit Edwin Johnson in Berührung kam, bin ich da doch ein wenig skeptisch geworden. Ich halte es für das bleibende Verdienst Johnsons – oder besser seines Entdeckers und “Nachlassverwalters”, des bibliophilen Australiers Edward A. Petherick, der Johnsons Übersetzung veröffentlichte – Hardouin aus der Schmuddelecke, in die ihn die Geschichtswissenschaft gestellt hatte, herauszuholen. Ohne Petherick wüssten wir vermutlich heute nicht einmal, dass es Johnson je gegeben hat. Er verlegte, damals federführend beim Londoner Verlagshaus Tübner & Cie., Johnsons Frühwerk, und blieb seinem Autor auch nach dessen Tod treu.

    Für mich bleibt ein fader Nachgeschmack, wenn ich an Johnsons Hardouin-Übersetzung denke. Sorgfalt und Detailtreue waren anscheinend nicht so sehr sein Ding. Er hat gravierende Fehler gemacht, und was er nicht begriff, ließ er auch schon mal kurzerhand ganz weg. Gut, sein Hardouin war ja vielleicht auch nie zur Veröffentlichung gedacht, doch ich halte auch seine zu Lebzeiten veröffentlichten Bücher wie “Antiqua mater”, “The Rise of Christendome” oder sein letztes Werk “The Pauline Epistles” für eine zwar durchaus anregende Lektüre, aber nicht für wissenschaftlichen Standards genügende Studien. Zudem schreibt hier, so sehe ich das zumindest, kein Historiker oder gar Chronologiekritiker namens Johnson gegen den Historiker-Mainstream an, sondern ganz im Gegenteil verfolgt der Theologe Johnson hier das Ziel, Ungereimtheiten der frühen christlichen Schriften auf den Grund zu gehen. Mit Details der Textkritik oder gar der Datierung frühchristlicher Schriften hielt er sich allerdings gar nicht erst auf. Seine Diktion ist da eindeutig: er wusste es sowieso von vornherein besser, da er seine Schlüsse aus den religiösen Grabenkämpfen vergangener Jahrhunderte gezogen hatte, indem er auf seine Weise Partei ergriff für Hardouins und Germons Position. Oder wie das der verstorbene Hermann Detering ausdrückte: “Ihm ging es immer um die Erkenntnis des Ganzen. Mit Kleinigkeiten hat er sich niemals abgegeben. Er betrieb alles im großen Stil, dort wo er Wahrheiten entdeckten, aber auch dort, wo er irrte.” (Vorwort zu Fabris Übersetzung von Johnsons “Antiqua mater”, S. 19)

    Und ich wäre auch sehr vorsichtig, die Schriften Johnsons, vom posthum veröffentlichten Buch “The Rise of English Culture” vielleicht mal abgesehen, frank und frei der Chronologiekritik zuzuschlagen. Denn man kann es gar nicht genug betonen: Die These von den erfundenen 700 Jahren stammt vom Johnson-Verleger Edward Augustus Petherick, der es sowohl bei Hardouins “Prolegomena” (s. meine Übersetzung S. 59-64) wie auch in diesem Band (S. 19-60) gut versteht, den Leser entsprechend “einzunorden”, damit er den Verfasser auch “richtig versteht”. Johnson ging es demgegenüber nicht um die Etablierung einer neuen Chronologie, sondern vielmehr darum, das Alter aller frühchristlichen Schriften anzuzweifeln und diese großangelegten Fälschungen hinter benediktinischen Klostermauern zuzuschreiben. Dabei versteigt er sich sogar zu heute leicht zu widerlegenden Behauptungen wie etwa, dass es schier unmöglich sei, dass Gutenberg und Fust bereits 1455 die berühmte 42-zeilige oder Mazarin-Bibel gedruckt haben können. (Paulus-Briefe, S. 475)

    Diesbezügliche Vorbehalte scheinen mir leider auch für den Übersetzer Wolf Odinson (ein Pseudonym?), der allerdings, wenn überhaupt, wohl nur für Teil 2, die Paulus-Briefe, verantwortlich zeichnet, zu gelten. Die oft hölzernen, z.T. auch schlicht falschen und von Anglizismen durchsetzten Übersetzungen aus dem Englischen rechtfertigen aus meiner Sicht ebenso wenig wie der Inhalt der beiden Schriften die Bewertung als epochale Leistung. Bei dem posthum veröffentlichten Buch “Rise of English Culture” ist nicht mal geklärt, wieviel davon O-Ton Johnson ist und wieviel Petherick. Das betrifft vor allem den ersten Teil des Buches, dessen Übersetzung hier als Torso vorgelegt wird. Die restlichen über 300 Seiten, der Hauptteil des Buches, der den Schriften des im 16. Jahrhundert in England wirkenden italienischen Humanisten Polydor Vergil gewidmet ist, wurden gar nicht erst übersetzt. (s. archive.org: Edwin Johnson – The Rise of English Culture)

    Dafür erwartet den Leser aber eine Einleitung Odinsons in unfreiwilliger Komik:
    “Den von Johnson abgelegten Staffelstab greife ich mit dieser Übersetzung auf, um ihn den Menschen zu überreichen, in der Hoffnung, das Werk leiste einen Beitrag, ihnen wieder die Befähigung zu geben, den lieblichen Klang der Wahrheit von der schrillen Kakophonie der Lüge zu scheiden.” (Einleitung, S. 9)

    Himmel, geht es nicht eine Nummer kleiner! Ich muss gestehen, dass ich mehrmals laut lachen musste, als ich das – man möge mir den Ausdruck verzeihen – verschwurbelte Vorwort las. Wer derart unkritisch und mit so viel Pathos an die Sache herangeht, der leistet dem von ihm angepriesenen Autor einen Bärendienst, weil jeder nüchterne Leser an der Glaubwürdigkeit zu zweifeln beginnt.
    Schade, das hat Edwin Johnson wirklich nicht verdient!

    (Ende des Kommentars von Rainer Schmidt)

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