Heinsohn gefragt
Das erste Jahrtausend u. Ztr. ist 700 Jahre kürzer
Gunnar Heinsohns Methode, die er seit seinem Sumererbuch (1988) anwendet und in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zu unübertrefflicher Schärfe vervollkommnet hat, ist die stratigrafische Chronologie.
Heinsohns Methode zur Revision der Geschichtsschreibung entspringt aus der Erkenntnis, daß Zeiträume in der Frühgeschichte Mesopotamiens mit ihren Ereignissen und Personen von der modernen Archäologie doppelt dargestellt wurden. Dieser Fehler beruhte darauf, daß die europäischen Ausgräber des 19. Jh die in der Bibel festgelegte Chronologie, mit ihren weit überhöhten Zahlen (aufgebaut auf die unvorstellbar langen Lebensjahre der Patriarchen) ernst nahmen und „Abraham“ um 2100 v. Ztr einordneten. Beim Ausgraben der Schichten die in etwa der in der Bibel beschriebenen Kultur zuzuordnen waren, wurde diese Kultur dann in diese viel zu frühe Zeit datiert, wodurch ganz neue Reiche postuliert werden mußten, wie Akkader und Sumerer, wobei man eigentlich nur Assyrer und Babylonier vor sich hatte: Wo man Funde von vier aufeinanderfolgenden Großreichen vor sich hatte, wurden acht dargestellt, Die gemachten Funde mußten nun statt auf Jahrhunderte auf zwei Jahrtausende verteilt werden. Heinsohns Untersuchungen („Die Sumerer gab es nicht“, 1988) stellen nun fest, daß nirgendwo eine Schichtenfolge dieser acht Epochen nachzuweisen ist, auch keine Ablagerungen, die wenigstens einen zeitlichen Abstand belegen könnten.
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Auf dieser Erkenntnis aufbauend, hat Heinsohn dieselbe Methode auf das europäische Mittelalter angewandt und festgestellt, daß auch hier die Stratigraphie nirgendwo das erste Jahrtausend chr. Ztr. abdeckt: nur einige wenige Jahrhunderte sind aus den Schichten herauszulesen. Etwa 700 Jahre sind durch Historiker hinzugefügt worden. Sie mußten Reiche erstellen, zu denen es keine Bodenfunde gibt, oder ihnen Funde anderer Epochen zuordnen.
Nicht von stratigraphischen sondern von literarischen, das heißt durch Schrift überlieferten geschichtlichen, astronomischen und kalendarischen Dokumenten, ausgehend, haben auch wir (Topper) eine künstliche Verlängerung des Zeitraums zwischen Römerkaisern und Renaissance um etwa 700 Jahre festgestellt.
Ist es Zufall oder gegenseitige Bestätigung aus verschiedenen Blickwinkeln?
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Durch die archäologisch erarbeitete Schichtenfolge-Datierung hat Heinsohn 700 Jahre als überzählig erkannt. Die Archäologen sind also schuld an dieser grotesken Fehleinschätzung. Heinsohn beweist es ihnen: Sie haben schlampig gearbeitet.
Aber die Archäologen könnten sich verteidigen: Wir haben den Fehler nicht verursacht, wir sind ihm aufgesessen, indem wir der allgemeinen Geschichtsschreibung gefolgt sind. Der Fehler lag bereits vor. Nach der Klarstellung durch Heinsohn können wir die Datierung des Schichtenablaufs korrigieren. Verursacher müßten demnach die Geschichtsschreiber sein.
Da stellt sich die Frage: Was sollte die Geschichtsschreiber (wer ist das?) veranlaßt haben, die ersten Jahrhunderte christlicher Zeitrechnung um 700 Jahre zu vermehren? Wußten sie es nicht besser oder stand eine erklärte Absicht dahinter?
Eine allgemeine Vermutung lautet: Sie taten es, um das Ereignis „Jesus Christus“ weit genug in die Vergangenheit zu verschieben, denn hohes Alter erhöht die Glaubwürdigkeit (so schon Topper 1998). Aber war dies eine bewußte Verfälschung einer bereits bekannten Zeitskala oder handelte es sich um einen vielleicht gutgemeinten Versuch, erstmals eine historische Rückdatierung zu schaffen, wo noch keine vorlag?
Vor dreißig Jahren stellten Illig und Niemitz fest, daß im Mittelalter 300 bis 500 Jahre zuviel seien, woraus dann Illigs These von den 297 zuviel gezählten Mittelalter-Jahren entstand, die bis heute verfochten wird. Dabei wurde eine schon bekannte Skala vorausgesetzt, die nachträglich um einen genau festgelegten Einschub vergrößert worden war. Das Ende der Lücke liegt sowohl bei Illig wie bei Heinsohn Anfang des zehnten Jahrhunderts: 911 bzw. 930 AD. Aber im Gegensatz zu Illig hat Heinsohn am Ende seiner Lücke, also gegen 930 AD, eine Katastrophe wahrgenommen, die die Antike zum Ende bringt. Einige Kollegen, z.B. Christoph Marx, sehen schon seit langem diese Katastrophe sehr viel später, erst gegen 1260 oder 1350, was aber Heinsohn nicht zur Kenntnis nimmt. Ein so spätes Datum als Ende der unsicheren Zeit und Anfang gesicherter Geschichte würde natürlich noch mehrere Reiche, Könige und Kulturen in Frage stellen oder jedenfalls zu ganz neuen Untersuchungen zwingen, und ungeheuer viel Umdenken erfordern.
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Das Einfügen von Jahrhunderten in den Geschichtsablauf, die Erfindung von Kaisern oder Gesetzbüchern – wer macht solchen Unfug? Das korrigierende Hin- und Herschieben der Helden und Dynastien würde bedeuten, daß sie ursprünglich irgendwo anders standen als jetzt und (willkürlich oder begründet) an die neue Stelle versetzt worden waren. Behauptetermaßen an die falsche Stelle. Heinsohn glaubt, sie wieder zurechtzurücken. Etwa am Beispiel von Kaiser Augustus, der vor 2000 Jahren regiert haben soll. Er müßte ursprünglich an Position 700 AD gestanden haben, bevor er durch die Fälscher um 700 Jahre rückwärts versetzt wurde, was Heinsohn nun wieder zurechtrückt. Denn das ist sein Arbeitsprinzip: Datierte Schichten werden mit den bekannten Funden verglichen und dann nach der gängigen Zeitrechnung datiert.
Was macht Heinsohn mit den zuviel bezeugten Kaisern und Helden? Sie werden nun als „Alter-Egos“ realer Personen an anderer Stelle geführt.
Wichtig ist uns beiden, daß keine Verschwörung suggeriert wird. Kammeiers Begriff ‘Große Aktion’ für die Geschichtsschöpfung durch Humanisten und Kleriker am Beginn der Neuzeit verleitet zu dem Gedanken an eine Absprache, Verschwörung gar, die heimlich im Hintergrund gewirkt hätte. “Dagegen habe ich gezeigt, daß der Vorgang eher wie ein Tanz aussah, mit Piruetten und Zickzack-Läufen, mit Vor- und Rückschritten, mit Gegnern und Verbündeten. Ich möchte sogar soweit gehen zu behaupten, daß viele der schreibenden Mönche sich der Tragweite ihrer Fälschung nicht bewußt waren und vor allem keinen Überblick über das Gesamtgefüge der Aktion hatten. Aber auch die Herren in leitenden Positionen waren nicht alle vom Kaliber eines Piccolomini. Statt Aktion sollte ein anderer Ausdruck geprägt werden: Schöpfung, Neuschöpfung der Geschichte, Geschichtsschöpfung.” (Die Große Aktion 1998, S. 268)
Heinsohn geht realistischer vor als sein Vorgänger Heribert Illig, der eine Absprache zwischen Kaiser Otto (III) und Papst Silvester (II) annahm.
Folgender Passus von Heinsohn (im Original in Englisch) bekräftigt das:
“Die Inhalte dieser leeren Jahrhunderte sind nicht mit der Absicht zu Täuschen erfunden, sie beruhen wohl auf realer Geschichte. Es gab massenweise Verunstaltungen, aber wenige absichtliche Fäschungen bei der Herstellung einer Chronologie des 1. Jt. “AD”. Nach dem Zusammenbruch im 10. Jh. AD gab es keine Vorlagen, nach denen eine Chronologie hätte aufgestellt werden können. Es gab keine Absprachen, keine Verschwörung. Es ging um das Heil. Bis zu den Ausgrabungen im 19. und 20. Jh. gab es sehr wenige Menschen, die einen Grund hatten, diese fromme Chronologie anzuzweifeln. Als man die Lücken entdeckte, wurden sie gewöhnlich übergangen oder linkisch gefüllt. Aber all dies muß Gegenstand einer unabhängigen Untersuchung sein.” (Siehe Gunnar Heinsohn: Polish Origins, S. 53 letzter Abs.)
Hier wird auch der Grund für die Geschichtsschöpfung angesprochen: das Heil. Das hatte auch Illig schon betont: Ziel war die Festlegung des Jahres 1000 AD als Beginn der letzten Zeitspanne, einer Friedenszeit. Weniger direkt sieht Topper das Ergebnis: “Die Zählung der vergangenen Jahre enthielt offen oder versteckt immer den Gedanken an die kommende Katastrophe, das „Jüngste Gericht“. Dadurch wurde der gedachte Zeitablauf zu einem an beiden Enden begrenzten Zeitstrahl, einer Meßlatte, auf der man die Position angeben konnte, wo man sich gerade befindet und an welcher Stelle ein früheres Ereignis liegt.” (Jahrkreuz 2016, S. 11) Ziel war es demnach, den Zeitpunkt für das Jüngste Gericht festzulegen oder gar herbeizuzwingen.
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Heinsohn glaubt, eine Übereinstimmung zwischen Schicht (Evidenz) und Geschichtsschreibung herstellen zu können. Er irrt aber zuweilen, denn die Schichtenbeschreibung und ihre Datierung unterliegt der jeweiligen Interpretation (Stilvergleiche, Münzen etc). So ist das Mosaik aus Damaskus (Umayaden-Moschee, 8. Jh.) sicher dem von der Villa Arianna (Boscoreale, 1. Jh.) sehr ähnlich, aber wohl, weil beide die Fluchtpunktperspektive zeigen, die erst in der Renaissance aufkam.
Die von Johnson, Kammeier u.a. beschriebene “Große Aktion” der Kirche zwecks Herstellung einer zur Heilserwartung passenden Geschichtsabfolge ging nicht von archäologischer Voraussetzung aus. Wir glauben, ohne es schlüssig beweisen zu können, nur aus vielen Anzeichen folgernd, daß die Geschichtsabfolge, wie sie durch die Große Aktion aufgestellt und bis heute weiter ausgebaut wurde, ein reines Kunstwerk ist, aus Fetzen und Bruchstücken erstellt, aber auch voller Fantasie, jedenfalls ohne Kenntnis der tatsächlichen Ereignisse, aber wohl auch mit einem politischen, religiösen und gesellschaftlichen Machtanspruch verbunden.
Im Unterschied zu Heinsohns Methode glaubt Topper, daß eine realistische Historiografie mit unseren Mitteln, ohne eine grundlegende Neuuntersuchung aller geschichtlichen Figuren und Chroniken vor etwa 1500 AD, nicht möglich ist, und darum bringt ein Hin- und Herschieben von Alter-Egos und Phantomzeiten keine verläßliche Realität, schon gar nicht genaue Jahreszahlen.
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Heinsohn hat für sein Vorgehen der Verkürzung ein reales Muster vorzuweisen: Es sind weit weniger archäologische Fundschichten vorhanden als im Katalog der Geschichtsschreibung verzeichnet.
Topper hat ebenfalls ein handgreifliches Argument, die Zeitangaben der Geschichtsschreiber zu verringern: Grundlage für ihre fiktiven Zeiträume waren durchweg Rückwärtsberechnungen mittels der Präzession (Trithemius, Scaliger, Petavius, Isaac Newton), und da die Präzessionsrate ausnahmslos Vorwärts-Sprünge gemacht hatte, müßten die Zeitangaben zwecks realistischer Betrachtung wieder verkürzt werden.
Nach Feststellung der neuen kosmischen Werte (Jahreslänge, Präzessionsrhythmus) nach der Katastrophe, also zu Beginn der Einführung der AD-Zählung, hatte man festgestellt, daß der Abstand zu Jesus etwa 700 Jahre länger sein müßte als angenommen, und darum diese Menge eingefügt. Dieser Vorgang lief chaotisch ab, durch einzelne geniale Männer wie Trithemius, Scaliger, Kalwitz. .. , bis man sich nach und nach auf ein Modell einigte, das dann durch Konzilien usw. durchgesetzt wurde.
Der Unterschied liegt demnach in der Methode.
Heinsohn versucht, aus der manipulierten Chronologie einen kohärenten Rest zu retten, Topper betrachtet die Vorgänge bei Erstellung dieser Chronologie und erkennt ihre Willkür, die außer über die Gemütsverfassung der Hauptakteure keine weiteren Schlüsse zuläßt.
Herr Heinsohn, wie sah das damals aus? Gab es eine ursprünglich echte Jahreszählung, die später manipuliert wurde, bis sie die gewünschte Menge an Jahren enthielt? Wovon war diese Jahreszählung abhängig?
siehe hierzu auf unserer Seite:
Uwe Topper: Heinsohns neue These
Gunnar Heinsohn: Rom im 1. Jt. u. Ztr.
derselbe: Heinsohn an Illig zum 70. Geburtstag
Peter Winzeler: Heinsohns und Toppers Theorien im Vergleich
Ps.: Wer es vergessen haben sollte: 2013 besprach und übersetzte ich Pethericks Meinung zu Hardouins Prolegomena. Da ist mehrmals von einer künstlichen Verlängerung der christlichen Zeitrechnung um 700 Jahre die Rede, was (außer dem Ausrutscher 1 = 753 a.U.C.) nun seit Jahren immer mehr Sinn macht, verstärkt durch die Schichtenrealität, wie Heinsohn herausfand.