Einführung in die Chronologiekritik: ein Zwischenergebnis
Unter Verwendung der Bücher, die darüber in den letzten Jahrzehnten geschrieben wurden, fasse ich hier noch einmal die wichtigsten Punkte der Chronologiekritik zusammen.
Die Menschheitsgeschichte ist zerstückelt durch immer wieder hereinbrechende kosmische Katastrophen, die die jeweilige Zivilisationsstufe zerstören und die Menschheit um ganze Zeitepochen zurückwerfen. So ein Einbruch des Kosmos, ein „Ruck“ im Sonnensystem, wird zwar oft berichtet, aber auch vielfach vertuscht und damit zum unverarbeiteten Trauma. Nach dem Zusammenbruch vor etwa 650 Jahren versuchten viele Forscher und Philosophen, aus den überkommenen Bruchstücken sinnvolle Geschichtsstränge zusammenzusetzen, was nicht gelang. Dennoch ist dieses Mosaik allgemein gültig geworden, auch wenn die unendlich vielen Ungereimtheiten durchaus bekannt geworden sind. Die Nachfahren der damaligen Forscher und Pioniere der Geschichtsschreibung („Renaissance“) verteidigen – auch gegen besseres Wissen – das Gebilde, das zum selbständigen Gebäude wurde. Dabei sind die Grundlagen, auf denen dieses Gebäude ruht, gar zu schwach, ja eigentlich nur Mutmaßungen.
Unsere neuen Theorien zur Weltgeschichtsschreibung sind nach langen Erwägungen, Diskussionen und widersprüchlichen Veröffentlichungen in Jahrzehnten gereift. Dabei hat sich die Sicht auf unseren Forschungsgegenstand gewandelt. Einen festen Rahmen gibt es nun nicht mehr.
Der Rückgriff auf die Geburt Jesu als Anker, an dem die gesamte Zeitschiene festgemacht wurde, hat sich als unhaltbar erwiesen.
Die Annahme einer Katastrophe vor etwa 650 Jahren, genannt „großer Ruck”, der auch die Erde und ihre Stellung im Planetensystem änderte, ist nötig, um die anschließende Neubesiedlung, Eroberungszüge und Entdeckung neuer Küsten und Inseln durch die Seefahrer (Portugiesen, Spanier …) zu erklären. Die Missionstätigkeit der Kirche tat ein Übriges, um die Katastrophen zu verwischen.
Aus den Vorgängen der Chronologie-Herstellung ab Ende des 15. Jh.s bis ins 18. Jh. zeigt sich, daß aus den immer mehr sich annähernden Jahreszahlen eine Übereinkunft herausgekommen ist, was keineswegs zu erwarten gewesen war, so daß heute alle gebildeten Bewohner des Erdballs eine einheitliche Geschichtsvorstellung übernommen haben, die grosso modo auf die Phantasien des Alten Testaments zurückgeht.
Nach allgemeiner Ansicht ist unsere Jahreszählung durch den Mönch Dionysius Exiguus vor rund 1500 Jahren geschaffen worden, für den das Jahr 1 von Christi Geburt 532 Jahre zurücklag.
Nach meiner Ansicht ist diese Zählweise nicht viel älter als 500 Jahre. Sie wurde 1519 begonnen (zur Krönung von Kaiser Karl V) und erst gegen 1700 Allgemeingut in Europa.
Nach katholischer Auffassung verwendete der Vatikan schon seit etwa 1443 die spanische Provinz-ERA, aber hierbei handelt es sich um eine Rückkonstruktion ohne Wahrheitsgehalt.
Die gesamte Geschichtsschreibung der Zeiträume vor 1500 AD präsentiert sich als erfundener Roman, besonders die Heldenfiguren Moses, Jesus, Paulus, Mohammed sind sämtlich erdacht. Will man aus diesen Konstrukten fehlende Jahrhunderte ableiten, so ist das schon von der Anlage her unmöglich. Ob 300 oder 700 odere gar tausend Jahre übersprungen wurden bei der Neukonstruktion, steht beziehungslos im Raum. Derartige Arbeit gehört zur Literaturkritik, nicht zur Historiographie.
Nach der Gregorianischen Kalenderreform 1582 festigte sich das Zahlengerüst, das zwischen dem Friedenskaiser Augustus (fiktiver Geburtszeitpunkt für Jesus) und dem »Cinquecento« rund 1500 Jahre ansetzte. In der frühen Renaissance hatte man noch andere Vorstellungen gehabt, wie aus den Comentarii von Lorenzo Ghiberti (1378-1455) und Leonardo Bruni aus Arezzo (1370-1444), aber auch anderer Schriftsteller wie Petrarca, Alberti und Vasari, hervorgeht: Man glaubte, daß zwischen dem Untergang Roms (meist gilt 410 AD als Fixpunkt) und dem Wiedererwachen der Antike (also etwa 1400) nur rund 700 Jahre vergangen seien, d.h. rund 300 Jahre weniger als heute angenommen (pointiert dargestellt durch Siepe 1998).
Man bemühte sich, auf jede erdenkliche Art Hinweise auf eine wirklichkeitsnahe Chronologie zu finden. Einer der Autoren, die versuchten, das Generationenregister des Alten Testaments mit astronomischen Rückberechnungen in Einklang zu bringen, war der provenzalische Katholik Nostradamus (1503-66), der im Brief an seinen Sohn die Zeitangaben des Heiden Varro rundweg als falsch erklärte und mit eigener Methode einen Beginn der Jahreszählung festlegte: 4173 v. Chr. sei das erste Jahr Adams.
Der protestantische Theologe Joseph Scaliger (1540-1609), Sohn des berühmten Philologen Julius Scaliger, verfaßte als Antwort auf Papst Gregors Reform ein Werk De emendatione temporum (zu Deutsch etwa: Verbesserung der Zeitrechnung; Frankfurt am Main 1583), in dem er eine neue Chronologie einführte, die nur minimal von den katholischen Vorstellungen abwich und sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte auch durchsetzte. Sein abschließendes Werk, Thesaurus temporum von 1606, das fünfzig Jahre später Allgemeingut der Geschichtsschreibung wurde, legte unsere heutige Vorstellung fest und ist nur noch in winzigen Details verbesserungsmöglich. Die Tabellen am Schluß des Buches werden praktisch heute noch in den Schulen gelehrt.
Seitdem gilt Scaliger als Vater der neuen Chronologie.
Und wie paßte die griechische Geschichtsvorstellung dazu?
Eine große Schwierigkeit ergab der Versuch, biblische und griechische Geschichte miteinander zu verbinden, denn diese zwei getrennt geschriebenen Romanserien waren schwer miteinander vereinbar. Zunächst einmal mußte ein Datengerüst für die griechische Geschichte erstellt werden, das man dem der biblischen Erzväter gegenüberstellen konnte. Zu diesem Zweck fand Scaligers Freund Casaubonus, der schon andere antike Manuskripte »entdeckt« hatte, 1605 in Paris eine in Kupfer gravierte Liste, auf der alle Sieger von Olympia von Anbeginn bis zur 249. Olympiade verzeichnet waren, was einen Zeitraum von praktisch genau 1000 Jahren überspannte. Eine so lange Liste müßte ausreichend sein, zumal man das Ende an eine entsprechende Konsuln-Liste der Römer anschließen konnte. Zu diesen Olympioniken ordnete Scaliger nun noch die Königslisten der Peloponnes, Attikas und Makedoniens, daran anschließend die bei Euseb (eigentlich Synkellos) enthaltene Königsliste des Manetho sowie weitere Herrscherlisten des Orients. Inwieweit man sich dabei orientalischer Vorlagen, etwa armenischer oder syrischer Texte, bediente oder diese erst später durch die Kirche dort eingeschleust wurden, wäre eine Untersuchung für Kriminalisten. Die Inhalte sind jedenfalls so naiv erfunden, daß heute kein Zweifel mehr über diese phantasievolle Literatur besteht. Dennoch: Das Gesamtgerüst der Chronologie der Weltgeschichte beruht auf diesen Erfindungen und ist insgesamt nicht mehr umstürzbar, solange nicht ein neues verläßliches Gerüst an dessen Stelle errichtet werden kann.
Damals waren keineswegs alle Zeitgenossen mit diesem Zeitmonstrum einverstanden. Einer der klardenkendsten Männer des Aufklärungszeitalters, Isaac Newton (1643-1727), wehrte sich jahrzehntelang gegen diese Zeitrechnung und behauptete mit theologischen Erwägungen, daß die damals erarbeiteten Geschichtsdaten um mehrere Jahrhunderte zu hoch lägen. Die wichtigsten Daten der klassischen griechischen Geschichte müßten seiner Meinung nach um mindestens 300 Jahre näher an uns herangerückt werden, vielleicht gar um 500 Jahre.
Da Newtons Argumente so fantastisch wie haltlos waren, sind sie zu Recht nicht zur Geltung gekommen. Anders die ebenso künstlichen Daten seiner Gegner.
Aus der öffentlichen Diskussion im 18. Jahrhundert geht hervor, daß die von Scaliger und Pétau aufgestellten Daten reine Kunstprodukte waren. Daß sie heute geglaubt werden, mutet wie eine Groteske an.
Die Arbeit der Computisten (ERA): Das Jüngste Gericht
Eine Zwischenstufe auf halbem Wege zwischen fabulierter Geschichte und gezielter Erstellung eines Zahlensystems für den Geschichtsablauf ist in der Arbeit der Computisten erhalten. Der zentrale Punkt, der in den christlichen Bemühungen um eine eigene Chronologie die Hauptrolle spielte, war die Errechnung des Weltendes. Die Frage, wieviel Zeit vergangen sein mag, seit die Welt erschaffen wurde, stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage, wie lange die Welt noch bestehen wird: Wann tritt das Jüngeste Gericht ein? Auch Isaac Newton war von dieser Fragestellung ausgegangen. Die Methoden waren neben Kenntnis der Bibel (Newton hatte zu diesem Zweck Hebräisch gelernt) vor allem astronomische Berechnungen.
Natürlich brauchen wir uns mit dieser müßigen Frage heute nicht mehr abzugeben – wenngleich der kürzlich veranstaltete Rummel um das Jahr 2000 oder 2001 nicht ganz frei von derartig irrationalem Gedankengut war. Dennoch müssen wir als Maßstab für die Bemühungen der spätmittelalterlichen Chronisten diesen religiösen Beweggrund immer mit einbeziehen, weil das Ergebnis – eben unsere heutige Jahrzählung – von der damaligen Ideenwelt in diesem Sinne geprägt wurde.
Die Motivierung für die Christen, eine durchgehende Zählweise einzuführen, leitete sich von der iranischen Weltalterberechnung ab: 6000 Jahre nach der Erschaffung der Welt sollte das Weltende durch den Saoshyant, den Heiland, eintreten. Die Juden hatten diese Zwangsvorstellung von den Persern übernommen und in ihren apokalyptischen Schriften weiter ausgebaut. Und auf diesem Wege war die Zukunftserwartung in die christliche Glaubenswelt eingedrungen, zuerst banal als »Naherwartung«, dann als kryptischer Zug und theologische Spitzfindigkeit, die auch in Newtons Zeit noch vorrangig war.
Computisten nannte man die Mönche, die mit der Berechnung der Heilsgeschichte beschäftigt waren. Sie schufen schematische Zeittafeln, in denen Jahrespakete auftraten, die einen tieferen symbolträchtigen Sinn hatten. Das alles dürfte heute nur noch als Kuriosum erscheinen, wenn nicht die daraus entwickelten Jahreszahlen immer noch in unseren Zeittafeln stecken würden.
Es scheint, daß dieses Herstellen der eigenen Geschichte oder der des Gegners damals — ich meine in der Renaissance — ein weitverbreitetes Spiel war. Für Spanien möchte ich drei Namen nennen, die stellvertretend für den weltlichen Teil der „Aktion“ stehen können: Pedro de Medina, Juan de Viterbo und Gerónimo de la Concepción. Sie schrieben Geschichtsbücher und Geographiewerke, die so echt wirken und so gut durchdacht sind, daß ich ihnen einige Jahre hindurch auf den Leim ging (1977, Kap. 22). Die von ihnen verwendeten Quellen müssen außergewöhnlich gut sein, denn viele ihrer Behauptungen lassen sich heute archäologisch im Gelände nachweisen. Doch dadurch werden die „Chroniken” nicht echt. Die Königslisten der iberischen Vorgeschichte sind so erfunden wie die der griechischen oder römischen oder chaldäischen Könige. Jene hatten ja auch erstaunliches Wissen der Antike bewahrt und viele Volltreffer zu verzeichnen. Dennoch: Die Reihenfolge, alle Jahresangaben und Eigennamen dieser „Herrscher” sind pure Phantasien.
Was von diesem bunt gewobenen Teppich (so hatte Klemens von Alexandria sein Geschichtswerk genannt) übrig bleibt, wenn wir den geschichtlichen Hintergrund als unbrauchbar erkennen? Ein phantastisches Bild der Renaissance, eine überschwengliche Schöpfungskraft, die in vielfältiger Weise sich ein Selbstbewußtsein schuf, das unsere heutige Kulturhöhe erst ermöglichte. Mit anderen Worten: Nach der ersten Enttäuschung — eben einer Ent-Täuschung — sehe ich keinen Grund, die Große Aktion der Geschichtsneuschreibung zu verdammen oder zu verachten. Nur sehen muß ich, wie das alles zustande kam und wie es uns bis heute formte.
Christianisierung
Damit ist der unbegreifliche Vorgang: daß in wenigen Generationen, vielleicht hundert Jahren, so viele Stämme und Völker das Christentum übernahmen und sogar zur einzigen Religion erhoben (wie etwa in Spanien) nur angerissen, nicht erklärt. Unsere chronologiekritische Arbeitsweise, bei der die geschriebene Geschichte nur als religiöse Literatur betrachtet wird, besagt: Jede Geschichtsschreibung, die sich nur auf „heilige Bücher” oder davon abhängige Schriften stützt, entbehrt jeglicher Grundlage, sofern sie nicht mithilfe von Inschriften oder ähnlich einwandfreien Zeugnissen aufwarten kann. Damit dürfte sie über die 1500-Marke nicht zurückreichen.
Die unzähligen Manuskripte in Hebräisch und all den anderen Sprachen des Nahen Orients werden hiermit nicht vom Tisch gewischt, nur ihre Bedeutung für reale Geschichte wird auf das gehörige Maß zurückgeschraubt. Wenn Lot mit seinen Töchtern, nachdem die Städte vernichtet waren, zwei neue Stämme zeugt, ist das ein Schema, wie es in vielen Legendensammlungen vorkommt, aber keinen geschichtlichen Vorgang beschreibt. Und schon gar nicht einen für unsere Herkunft wesentlichen Vorgang.
Wir leben in einem aufgeklärten Zeitalter und wissen das längst. Dennoch ist da ein Widerspruch zwischen dem Wissen der Gebildeten und dem Bewußtsein der großen Menge. Die „story”, die zur Einführung der Jahreszählung „nach Christi Geburt” in den Lexika steht, ist irrelevant. Dionysius mag irgendwann gelebt haben, doch ist es nicht dessen Berechnung, der wir heute folgen, sondern eine Erfindung, die tausend gedachte Jahre später, im 16. Jh., durchgesetzt wurde, nämlich bei der Einführung des Gregorianischen Kalenders im 17. bis 20. Jahrhundert.
Was bleibt ?
Dennoch, die Frage bleibt im Raum: Wie lang ist der Abstand zwischen dem Untergang des Römischen Reiches und dem Wiedererstehen der Zivilisation („Renaissance”) ? Wenn schon die Philosophen der Neuzeit sich nicht darüber einig waren, – nicht einmal vor 500 Jahren – weil kein Zeitabstand bekannt war, wie sollten wir oder andere das herausfinden?
Das Almagest des Ptolemäus (2. Jh. n. Chr.) hat schon christliche Zahlensymbolik in seiner Zeitrechnung verarbeitet. Damit rückt es zeitlich in die Nähe der Renaissance. Und so haben die Araber, die diese Texte und Tabellen verwendeten und übersetzten (wie z.B. Battani), diese nicht als 800 Jahre zurückliegende Beobachtungen sondern als für ihre Zeit relevante Angaben betrachtet (siehe Jahrkreuz, Teil 8). Da ergab sich etwas seltsames: Die Präzession war im Laufe der Zeit unterschiedlich ausgefallen, der Himmel hatte sich sprunghaft bewegt. Aus den wechselnden Präzessionsdaten und den unbegreiflichen Trepidationswerten („das Zittern”) wurde deutlich, daß mit einem stetigen Ablauf der Erdbewegung nicht zu rechnen sei. Zwischen Eudoxus und den Eintragungen in seinem Sternatlas lagen mehr als 700 Jahre, ein undenkbarer Zeitabstand, der nur als Sprung erklärbar ist. Wenn die Erde springt, was aus vielen anderen astronomischen und kalendarischen Daten ebenfalls hervorgeht, scheidet auch das letzte aller Hilfsmittel zur Zeitbestimmung aus. Newtons Werte sind so spekulativ wie seine ganze “Berechnung”, die 500 Jahre kürzer ausfällt als aus den sagenhaften Überlieferungen zu schließen war.
Es bleibt dann nur übrig festzustellen, daß eine verläßliche Rückberechnung der Zeitläufe nicht möglich ist, weil Präzessionssprünge das Bild verzerren. Trotzdem möchte ich ein Schema vorstellen, das in übersichtlicher Weise eine ungefähre Vorstellung dieser Zeiträume ermöglicht.
Außer der Erkenntnis, daß die Ursache der Präzessionssprünge (noch) nicht gefunden ist – und für unsere Überlegungen auch keine Rolle spielt – sind dies die Wesenszüge der letzten Sprünge :
Sie erfolgten stets in der Richtung der stetigen Präzession, nicht ihr entgegen; es wurden einige Kalendertage übersprungen.
Die Sprünge verursachten unermeßliche Schäden auf der Erdoberfläche.
Die Zerstörungen der menschlichen Zivilisation sind der Grund für unsere Unfähigkeit, die Länge der Zeit abzuschätzen, die zwischen dern Sprüngen vergangen sind, und das nicht einmal im Bereich von 300 oder 500 oder 700 Jahren, ja häufig eines ganzen Jahrtausends.
Die Entstehung der monotheistischen Religionen ist eng verknüpft mit diesen Sprüngen. Das könnte in der Vergangenheit eine ernsthafte Beschäftigung mit den rein mathematischen Aspekten der Sprünge behindert haben. Dies wird in der chronologiekritischen Arbeit ausgeklammert.
Ich zitiere aus Jahrkreuz, S. 445): „Wenn wir unsere Geschichte als tatsächlichen Zeitablauf beschreiben wollen, können wir die Zählung nicht bei einem mythischen Anfang beginnen, wie es früher üblich war, etwa mit der Weltschöpfung oder dem Neubeginn nach der Sintflut, der ersten Olympiade oder der Gründung Roms, beim Tod von Alexander oder bei der Geburt von Jesus Christus. Wir können nur von heute aus rückwärts schreiten und schauen, wie weit wir damit kommen. Alle Dokumente müssen kritisch untersucht werden um aufzuspüren, wann unsere ältesten Aufzeichnungen verläßliche Datierungen tragen. Soweit es unsere Jahreszählung angeht, ist das gegen 1500 AD (plus minus 20 Jahre). Alles, was davor liegt, ist im Sinne der Definition „Vorgeschichte“, und da müssen wir diejenigen Fachleute reden lassen, die archäologisch gearbeitet und ohne historiografische Vorgaben ihre Funde datiert haben. Diese Arbeitsweise ist bisher selten.”
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Literaturhinweise
Grotefend, H.: Zeitrechnung des Deutschen Mittelalters und der Neuzeit (Hannover 1891–1892/98)
Siepe, Ursula und Franz (1998): „Wußte Ghiberti von der ‚Phantomzeit‘? Beobachtungen zur Geschichtsschreibung der frühen Renaissance“ in: Zeitensprünge 2, 1998, Mantis-Verlag, Gräfelfing bei München, S. 305-319
Topper, Uwe (1998): Die Große Aktion (Tübingen) (hier online als pdf)
Topper, Uwe: Kalendersprung (Tübingen 2006, S. 370)
Topper, Uwe (2016) : Jahrkreuz (Tübingen)
[24.11.23]
12 Kommentare
Jan Beaufort
Der hier vorgestellte chronologiekritische Ansatz beruht auf umfangreicher Forschung und ist unbedingt ernstzunehmen, denn der Zweifel an unserer historischen Überlieferung nimmt immer mehr zu, und es ist klar, dass die Einwände gegen sie nicht unberechtigt sind. Gleichwohl erscheint mir der Ansatz aus mehreren Gründen problematisch. Ich möchte zwei Punkte herausgreifen:
1. Alles, was vor dem Jahr 1500 AD liegt, “ist im Sinne der Definition ‚Vorgeschichte‘.”
Vorgeschichte verweist aber gemäß Definition auf eine Zeit, in der es noch gar keine schriftlichen Zeugnisse gab. Das aber wird wohl niemand für die ganze Zeit bis 1500 AD behaupten wollen? Wie auch dem Jahrkreuz-Text zu entnehmen ist, tragen viele dieser Schriftquellen lediglich noch kein verlässliches AD-Datum: Das ist aber etwas anderes.
2. “Alle Dokumente müssen kritisch untersucht werden um aufzuspüren, wann unsere ältesten Aufzeichnungen verläßliche Datierungen tragen.”
So weit, so gut. Aber Dokumente sind nicht nur datierbar durch das Datum, das sie selbst tragen. Der Historiker kennt viele Methoden um Texte zu datieren. Deren Ergebnisse ließen sich freilich alle in Zweifel ziehen, aber dann wäre zu fragen, warum man die /nach/ 1500 AD verfassten Dokumente nicht genauso anzweifeln sollte wie die früheren? Warum eine Grenze bei 1500 AD? Warum AD-Datierungen ab 1500 AD für verlässlich halten, Datierungen davor aber nicht?
Fragt man so, drängt sich der Verdacht auf, dass /vor/ 1500 AD datierte Dokumente aus ganz anderen Gründen angezweifelt werden als nur deshalb, weil sie kein AD-Datum tragen. Beziehungsweise zu klären wäre, warum AD-datierte Dokumente /nach/ 1500 AD für sicher datiert gehalten werden. Meine Vermutung: Viel wichtiger als das AD-Datum auf dem Dokument ist die dichte Vernetzung von Dokumenten, die seit dem Aufkommen der Buchdruckkunst entstand.
Sollte diese Vermutung zutreffen, wird der Unterschied zwischen Dokumenten vor und nach 1500 AD ein gradueller: Denn dann ginge es lediglich darum, dass das Dokumentennetz /vor/ 1500 AD viel weitmaschiger geknüpft war als nachher. Ein Netz gäbe es aber so oder so, und ihm wäre mit denselben Methoden und mit derselben Skepsis zu begegnen wie dem Dokumentennetz nach 1500 AD.
Ilya U. Topper
Sehr berechtigte Frage: warum 1500 AD? Natürlich ist diese Zahl nur grob gemeint, ich würde eher “Mitte des 15. Jh”, vielleicht irgendwo ab dem Jahrzehnt 1460-1470, andere vielleicht erst ab 1510-1520. Warum aber dieser Zeitstreifen? Weil man danach viele Dokumente (Bücher, Schriften usw) findet, die nach herkömmlichem Wissen echt sind, das heißt Originaldokumente, die so erhalten sind, wie sie geschrieben wurde. Vor der Mitte des 15. Jh gibt es zwar viele Schriften, aber wenn man die Überlieferungsgeschichte genau betrachtet, sind es fast immer Abschriften, die später hergestellt wurden; das wird oft gar nicht erwähnt, wenn solch ein Mansukript als Quelle zitiert wird, und man muß schon in ganz speziellen Werken unter “Überlieferungsgeschichte” nachschlagen. Der Schatz an wirklich original erhaltenen Texten vor etwa 1450 AD ist durchaus überschaubar, und sehr oft wurde um diese Werke heftig polemisiert, ob es sich nicht um Fälschungen handele; viele davon, die bei Entdeckung als Fälschung angezweifelt wurden, gelten heute als echt, müssen aber es aber nicht unbedingt sein. Andere dürften echt sein, sind aber sehr fragmentarische Stücke (ich denke an gewissen koptische Papyri) die man trotz Datierung nicht unbedingt an die AD-Rechnung anschließen kann. Nach etwa 1500 wird die Masse an echten Dokumenten so groß, daß mir kein Zweifel mehr bleibt, vor frühestens 1400 ist sie so klein, daß mir nur noch Zweifel bleibt. Daher dieser grobe Anhaltspunkt “1500 AD”.
Uwe Topper
Richtig,
Schriftzeugnisse ohne Daten sind nicht gleich wertlos, sondern müssen ein Datum bekommen, sei es von Archäologen oder Geschichtsschreibern. Die Verläßlichkeit der eruierten Daten muß nachgeprüft werden. Vielleicht wäre der Ausdruck “Frühgeschichte” besser gewesen.
Sodann: 1500 AD ist nur eine ungefähre Marke, die um einige Jahrzehnte schwimmen kann. Also ein gradueller Vorgang. Die Problematik der mit eigenwilliger Datierung versehenen italienisch-französischen Texte ist dabei noch nicht besprochen, ein sehr schwieriges Thema, das ich nie gelöst habe.
Vernetzung ist ein schönes Kriterium, es ist hier ganz brauchbar und sollte ausgenützt werden. Beispiel: Die deutschen Bibeln vor Luther.
Volker Dübbers
Noch bis vor kurzem hätte ich vielem zugestimmt, was in dem Beitrag angesprochen wird. Insbesondere lässt die stratigraphische Analyse der Zeit von Alexander dem Großen bis etwa 1500 die Vermutung zu, dass der Zeitraum um bis zu 700 Jahre gekürzt werden könnte. Die Vernichtung originaler Handschriften und die vielen Fälschungen lassen ebenfalls den Verdacht aufkommen, dass mit unserer Chronologie und Geschichtsschreibung etwas nicht stimmt.
Bezüglich der Chronologie haben meine Nachforschungen allerdings ergeben, dass diese stimmt.
Zeugnisse dafür sind die Inschrift des Muawya von Gadara, aus der sich eindeutig das Datum “Montag, 5.12.662” ermitteln lässt oder der Papyrus Carlsberg 9, dessen Angaben zu 1. Thot = Neumond im ägyptischen Zivilkalender in Verbindung mit den bis dato abgelaufenen Herrscherjahren der darin genannten römischen Kaiser 1:1 mit unserer Chronologie übereinstimmen.
Ein weiteres Problem stellt “Montag, der 5.4.532, Vollmond, Schaltjahr” dar, der im JK zweifelsfrei, von jedem beliebigen Datum von 0 bis heute nachrechenbar, den komputistischen Beginn eines großen Osterzyklus markiert, der von Dionysius um einen vorhergehenden Osterzyklus von 532 Jahren auf den 5.4.0 rückdatiert und zum Beginn des XK im JK gemacht wurde.
Das Kanopus Dekret lässt sich sinnvoll und ohne Komplikationen nur in das Jahr -237 legen.
Die antiken und spätantiken Horoskope auf Papyri zeigen Konstellationen im Verbund mit darin erwähnten römischen Kaisern und Kalenderdaten, die sich am besten in die herrschende Chronologie einfügen lassen.
Ich könnte Dutzende weitere Beispiele nennen, die ich eruiert habe.
Wenn die Chronologie folglich stimmt, weil sie nicht ausgehebelt werden kann, bleibt nur ein “System Hardouin” übrig, der diese ebenfalls akzeptiert hat, aber von unzähligen Fäschungen ausging, die den wahren Katholizismus desavouiert haben. In ähnlicher Weise wurden Teile der säkularen Geschichte gefälscht oder erfunden, vermutlich von Leuten, die Vorteile daraus zogen.
Rainer Schmidt
Ilya Topper schreibt: “Der Schatz an wirklich original erhaltenen Texten vor etwa 1450 AD ist durchaus überschaubar (…) Nach etwa 1500 wird die Masse an echten Dokumenten so groß, daß mir kein Zweifel mehr bleibt, vor frühestens 1400 ist sie so klein, daß mir nur noch Zweifel bleibt.”
Das möchte ich wiederum bezweifeln. Denn allein die Bayerische Staatsbibliothek besitzt rund 17.000 mittelalterliche Handschriften. Der Schwerpunkt liegt eindeutig im Bereich der lateinischen Handschriften (Codices latini monacenses – Clm) mit rund 14.000 mittelalterlichen Textzeugen. “Nur” 14 000 deshalb, weil die Sammlungsgruppe 3000 und mehr Fragmente umfasst, die überwiegend aus Pergamenthandschriften stammen. Die deutschsprachigen Handschriften (Codices germanici monacenses – Cgm) bilden mit über 1600 Einheiten die zweitgrößte mittelalterliche Sammlungsgruppe. Demgegenüber sind orientalische und asiatische Handschriften im Vergleich deutlich seltener. Sie sind insgesamt mit etwa 1.000 Exemplaren vertreten. Aber wie gesagt, dies ist nur eine Bibliothek von vielen und bei weitem nicht die größte. Von “überschaubar” kann also keine Rede sein.
Es stimmt natürlich, dass es sich überwiegend um Kopien von Kopien etc. handelt. Aber das bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass die Manuskript- und Buchproduktion ab dem 16. Jahrhundert viel anderes beinhaltete. Es waren ja auch im 16. Jahrhundert und darüber hinaus weiterhin vor allem die Textzeugen früherer Jahrhunderte, die veröffentlicht wurden. Geändert hatte sich vor allem der Effizienzgrad und die Kostenstruktur der Buchproduktion. Und auch die Tatsache, dass es mehr und mehr solvente Käuferschichten gab, die als Abnehmer fungierten.
Zur Datierung von Carlsberg 9 und der Mu’awiya-Inschrift hat sich ja Volker Dübbers schon geäußert. (s. dazu auch meinen Artikel auf academia.edu: M wie μαγιστριανοΰ – Zur Übersetzung einer griechischen Inschrift für den Ummayaden-Kalifen Mu’awiya in Hammat Gader im 7. Jahrhundert)
Jan Beaufort
Die Antworten von Ilya und Uwe Topper bestätigen meine Vermutung, dass es bei der Grenze 1500 AD nicht um Dokumente mit oder ohne AD-Datum geht. Wichtig sind vielmehr einmal die nach 1500 stark zugenommene Masse der Dokumente sowie zweitens der Umstand, dass Dokumente vor 1500 häufig nur Kopien von Originalen sind, eine sichere Datierung folglich viel schwieriger ist. Beide Faktoren dürften mit der Erfindung des Buchdrucks zusammenhängen, weil der Buchdruck die Produktion einer viel größeren Anzahl von Originalen als zuvor ermöglichte.
Dass das Datieren vor 1500 schwieriger wird und traditionelle Datierungen vor 1500 folglich unsicherer sind, ist also zuzugeben. Quer zu dieser Feststellung größerer Unsicherheit älterer Datierungen stehen nun aber mit großer Bestimmtheit gemachte Behauptungen über frühere Zeiten wie etwa: „Die gesamte Geschichtsschreibung der Zeiträume vor 1500 präsentiert sich als erfundener Roman“, oder: „… besonders die Heldenfiguren Moses, Jesus, Paulus, Mohammed sind sämtlich erdacht“.
Was berechtigt zu solch starken Behauptungen, wenn nicht zugleich ein sicheres eigenes, alternatives Datieren von Personen, Ereignissen und Dokumenten vor 1500 für möglich gehalten wird? Hier scheint die Argumentation einen Sprung zu machen: von einer zunächst (m. A. n. zurecht) hervorgehobenen größeren Schwierigkeit, Dokumente vor 1500 AD zu datieren, zu einer nicht weiter begründeten Gewissheit, ein solches Datieren sei unmöglich oder zumindest anders vorzunehmen als traditionell üblich.
Uwe Topper
Jan:
“Ein alternatives Datieren von Personen, Ereignissen und Dokumenten” – wie soll man denn das Christkind datieren? Oder Paulus? Von dem gibt es nichts, rein gar nichts, was man datieren könnte. Man weiß ja nicht einmal, welcher der 14 Briefe von ihm ist und welcher von einem anderen Schreiber. Das geht auch nicht alternativ. Von Moses ganz zu schweigen. Er hinterließ keine Inschrift, schon gar keine datierbare.
uwe
Ilya U. Topper
Hier möchte ich nur auf das ganz kleine Detail eingehen: “besonders die Heldenfiguren Moses, Jesus, Paulus, Mohammed sind sämtlich erdacht“. Ja, denn für diese Figuren gibt es Null archäologische Zeugnisse. Es gibt nur spätere literarische (Tora, Evangelien, Koran), aber keine zeitgenössischen (Inschriften, Münzen, echte, erhaltene Pergamento oder Papyri). Anders ausgedrückt: einen Pharao Tutankamon und einen Babylonier Hammurabi hat es gegeben, ihre Datierung wären zu überprüfen. Mohammed hat es nicht gegeben. Denn bei Fehlen jeglicher echter Hinweise dürfen wir nicht mehr einfach sagen: wird schon stimmen, viele Leute glauben ja daran. Wir müssen da anders herangehen: wenn es echte Zeugnisse gibt, gut, wir untersuchen sie. Wenn es keine gibt, dann ist die betreffende Figur so geschichtlich wie Parzifal oder die Königin Daenerys Tagaryen.
Uwe Topper
Volker,
ich nehme Dein Beispiel des Osterzyklusbeginns Monat 5. 4. 532 AD, Vollmond, Schaltjahr, rückrechenbar ins Jahr 0, “im JK zweifelsfrei … bis heute nachrechenbar.”
Ja und ? Ulrich Voigt argumentiert genau so seit zwanzig Jahren: die Rechnung stimmt, also ist sie geschichtlich. Worauf ich immer wieder frage: ob er ein einziges verläßliches Dokument kenne, das uns beweist, das am diesem Tag irgendwo Ostern gefeiert wurde ? Erst dann wird das Datum 532 AD zur Geschichte, sonst ist es Literatur. Daß die Rechenbeispiele stimmen, besagt doch nicht, daß sie realiter zu Ereignissen gehören.
uwe
Uwe Topper
an Rainer Schmidt:
Du gibst zu bedenken, daß die schiere Menge der Mss. , allein schon in der Bayerischen Staatsbibliothek ein Gegenargument bilden könnte. Die große Zahl provoziert die Frage: Wenn wir 700 Jahre im Mittelalter streichen, bleibt den Mönchen dann noch genug Zeit, um alle diese Mss. zu kopieren? Und reichen dafür evtl. 100 Jahre? Ein solche Rechnung ließe sich nur aufstellen, wenn wir verläßlich wüßten, wieviele Mönche im Abendland kopierten und wie lange sie an einem Ms. saßen. Dergleichen Rechnungen sind unmöglich, wir wissen einfach zu wenig über jene Vorgänge. Es war schon einmal eine gerichtliche Frage, anläßlich der Verhandlung gegen Simonides in Leipzig 1863 in Sachen Fälschung des Codex Sinaiticus von Tischendorf. Ergebnis: so eine Bibel ist in wenigen Monaten abgeschrieben (siehe Uwe Topper, Fälschungen der Geschichte 2001, 232).
uwe
Simon
Hallo,
meine Frage wäre weshalb ab ca. 1450-1500, historische Objekte, Büsten, etc. plötzlich beginnen aufzutauchen?
Hat die Renaissance diese Offenlegung vorangetrieben oder war es diese Offenlegung welche zur Renaissance führte?
Uwe Topper
Sowohl als auch, beides bedingte sich gegenseitig. Man grub aus und man stellte große Mengen Nachahmungen her. Man lebte die Vergangenheit und schuf sie neu. Papst Martin („V“) grub Rom aus und machte es wieder bewohnbar.