Leo Wiener – Pionier auf halbem Wege

Ein Buch von Leo Wiener zur Fälschung der giechisch-lateinischen Geschichtsschreibung

Kürzlich fiel mir im Internet ein Buch auf, das sehr wohl in unser Arbeitsgebiet paßt, doch seltsamerweise von niemandem bisher in diesem Zusammenhang zitiert wurde:

Leo Wiener (1920): Contributions towards a History of Arabico-Gothic Culture; vol. III: Tacitus’ Germania and other Forgeries (Philadelphia)

Ich falle mit der Tür ins Haus, indem ich das Schlußwort der Untersuchung der Germania des Tacitus (S. 299) vorwegnehme:

“Die völlige Wertlosigkeit der Germania ist offensichtlich, jenseits jeder Möglichkeit sie zu verteidigen. Nur ein geistig Blinder wird sie verteidigen, genau wie die Fälschungen des 19. Jahrhunderts, wie etwa das bekannte Königinhofer Manuskript immer noch Verteidiger findet. Es stimmt traurig anzuschauen, wie deutsche Geschichte und verwandte Themen sich auf die Germania und die Getica stützen, beides Denkmäler bewußter Täuschung und unbewußter Dummheit, Ergebnisse wie die der ersten Blüte arabischer Romantik, die zur Tausend-und-eine-Nacht führten. Ebensogut könnte man Geschichte von letzterem Werk rekonstruieren wie irgendwelche historische Schlußfolgerungen aus der Germania und Getica ziehen.”

In der Besprechung von Bd. III durch Victor Chapot 1921 heißt es:
Der Autor hat gezeigt, mit welcher Vorsicht man die Schriftsteller der niederen Latinität behandeln muß: Cassiodor und Beda, Ammianus Marcellinus und Gregor von Tours, Rufinus usw, einige ihrer Werke sind apokryph von Anfang bis Ende. Die arabische Einmischung vor der Übersetzung ist überall spürbar.
Der Gotenbischof Wulfilas ist ein imaginäres Wesen, den kein Autor seinerzeit bei der Bekehrung der Goten erwähnt. Auch vor Wieners Kritik war er schon eine nebelhafte Gestalt.
Ebenso war Jordanes nicht weiter bekannt, nur seine Getica galt als wertvolle Zusammenfassung der verlorenen Schrift des Cassiodor über die Goten. Aber sie ist eine Fälschung des 8./9. Jh. ohne die geringste historische Grundlage, zusammengestückelt aus persischen, syrischen und arabischen Bruchstücken einer unbekannten Antiquitas, deren großen Einfluß wir wiederfinden im Pseudo-Berosos, im Hunibald des Trithemius, und – was am schlimmsten ist – in der Germania des Tacitus.

In seinem Vorwort sagt Wiener:
“Der nächste Band wird zeigen, daß der Physiologus von syrisch-arabischer Herkunft ist, und dabei auch die Tatsache bestätigen, daß Gregor von Tours uns nur höchst verunstalted überliefert wurde, und daß eine Reihe anderer Werke, dem Rufinus und anderen zugeschrieben, Fälschungen des achten Jahrhunderts sind.”

Man sieht deutlich, mit welchen Gespenstern Wiener kämpft. Wenn die Liste der Teilnehmer am Nikänischen Konzil (325) echt ist, dann ist auch Wulfilas eine echte Person, sagt Wiener, um aber dann schrittweise zu erkennen, daß alle weiteren “Fakten”, die zu diesem Bischof und seinem Umfeld überliefert werden, gefälscht oder von anderen Schriften falsch übernommen wurden.
“Da gibt es keinen Ausweg: Die spanischen Gothen des 8. und 9. Jh. versorgten die westliche Welt nicht nur unbegrenzt mit Literatur- und Dokumentschwindel, sondern ermöglichten auch Einschübe und wichtigere Fälschungen in griechischer Literatur.”
Wobei die arabischen Schriftsteller nicht unbeteiligt waren…

Leo Wiener

Aber das achte Jahrhundert, vor allem syro-arabische Texte, bleibt ihm ein Rückhalt, den er nicht aufbricht. Und hier liegt die Schwäche Wieners, die er übrigens selbst erkannt hat. Angesichts der Ungeheuerlichkeit seiner Entdeckungen mag das entschuldbar sein. Heute hilft uns das nicht weiter.
Überraschend ist für mich, daß ein so klarer Beweis, daß Tacitus, Jordanes usw. gefälscht sind, wie es bezüglich Tacitus auch andere (Hochart, Johnson, Ross, Baldauf …) schon vor ihm geschrieben hatten, keine Schüler und Nachfolger zeitigte. Lag es eben doch an der unüberwindlichen chronologischen Sperre?
Wenn aber 700 Jahre oder gar ein Jahrtausend zwischen Antike und Renaissance herausgeschnitten werden können, wenn also die klassischen Texte soviel näher an die tatsächlichen Autoren heranrücken, dann wird der Blickwinkel weniger schwindelerregend; das von Wiener zum Vergleich herangezogene Erdbeben, das seine Weltanschauung zerbricht, wird wahrscheinlicher.

Mit diesem kurzen Hinweis möchte ich auf Wiener und seine Arbeit hinweisen, die Lektüre ist zeitweilig sehr vergnüglich, etwa wenn der Zusammenhang zwischen den Elchen, die keine Gelenke haben und sich darum nicht zum Schlafen hinlegen können, auf gewisse suebische Stämme übertragen wird, oder was es mit dem Umzug der Hertha-Nertha auf sich hat…

Notizen, zunächst zur Person Leo Wiener:
Leo Wiener (1862–1939) amerikanischer Historiker und Sprachforscher, geboren in Bialystok (russ. Polen) von jüdischen Eltern, aber später unitarischer Christ. Vielsprachig (man sagte, er beherrsche 30 Sprachen), Studierte in Warschau und Berlin; hielt Vorlesungen in Harvard über slawische Literatur seit 1896. Er übersetzte Leo Tolstoys Werke ins Englische.

zur Getica des Jornandes:
Jacob Grimm über Jornandes und die Geten 1866. Abhandlungen der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.
Daß Adelung die getischen Verse Ovids für “bloße dichterische prahlerei” hält, war Jacob Grimm bekannt. Aber eine kritische Sicht auf jene Überlieferungen besagt nicht, daß der Umfang des Fälschungsereignisses durchschaut wurde. Im Gegenteil, man nahm diese Texte nur umso historischer, je mehr sie diskutiert wurden.

Literatur
Leo Wiener, Contributions toward a History of Arabico-Gothic Culture;
Vol. III : Tacitus, Germania and other Forgeries, 1920
link: https://archive.org/stream/cu31924088053396/cu31924088053396_djvu.txt

Victor Chapot in Revue des Études Anciennes, Année 1921 23-3 pp. 253-255

Hochart hier im Lesesaal: Hocharts Untersuchung des Tacitus

Johnson hier im Lesesaal: Johnson, ein radikaler Chronologiekritiker
sowie ebenfalls im Lesesaal: Johnsons Spätwerk übersetzt

Ross, J. W. (1878): Tacitus and Bracciolini. The Annales forged in the XV. century (London)

Baldauf siehe Angelika Müller in Zeitensprünge 4/1996, Die Geburt der Paläographie, S. 533
sowie Uwe Topper (1998): Die Große Aktion, S. 16-20

Im Archiv gibt es zur Germanenerfindung allgemein zunächst Toppers Vortrag:
Wer hat eigentlich die Germanen erfunden
und außerdem:
Toppers Antwort auf Jurischs Kritik (in ZS 2/97, S. 226-231)

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