Dantes Zeitstellung in einem Kommentar von 1546
Dantes Lebensdaten (1265-1321) haben mich auch nach den bisherigen vier Beiträgen nicht ruhen lassen, ich gehe dem chronologischen Problem der um zwei Jahrhunderte versetzten italienischen Jahreszahlen zwischen 13. und beginnendem 16. Jh. weiter nach. Dabei stolpere ich über einen Artikel in einem Jahrbuch des Castrum Peregrini (84/85, 1968), der zum Grübeln anregt:
Frommel-Haverkorn van Reijsewejk, Joke (1968): Gespräche mit Michelangelo, von Donato Giannotti. Erste vollst. dt. Übertragung, eingel. und hrg. v. J. Frommel-Haverkorn (Castrum Peregrini 84/85, Amsterdam)
Es dürfte eine 2. Aufl. geben:
Leider ist das Manuskript von Donato Giannotti „Zwei Dialoge über die Tage, in denen Dante Hölle und Fegefeuer durchwanderte“, erst rund 300 Jahre nach der vermuteten Niederschrift, im Vatikan aufgetaucht, erstmals 1845 erwähnt und 1859 (noch etwas unzuverlässig) gedruckt worden (S. 5). Im Castrum Peregrini 1968 ist es nach der Ausgabe Florenz 1939 in bester Güte vollständig übersetzt und kommentiert erschienen. Für die Übersetzung der Dante-Verse benützte die Herausgeberin die Übersetzung von H. Gmelin 1954.
Die beiden Dialoge beschäftigen sich mit zwei Themen: mit dem Zeitmaß, das Dante in seinem Epos anlegt, und danach mit der Berechtigung zum Tyrannenmord, ein im 16. Jh. heißes Thema (zur offiziellen Lebenszeit von Dante um 1300 jedoch nicht).
Gleich anfangs (S. 10) wird vom Herausgeberin erörtert, ob es sich um ein echtes Dokument von damals handele. Sie befürwortet das mit guten Gründen. Der Zweifel ist in meiner Betrachtung weniger wichtig, in der es nur um die Zeitangaben Dantes geht, denn die kann man auch im 19. Jh. diskutieren. Ich bin überzeugt, daß das Ms. nicht älter als sein Auffindungsdatum ist. Das ganze Lebens- und Sprachgefühl war im 19. Jh. anders als im 16. Jh., und so etwas läßt sich aus dem heutigen Zeitabstand spüren.
Es handelt sich um ein Streitgespräch zwischen Luigi del Riccio und seinem Freund Antonio Petreo über Dantes “Comedia”. Nach kurzer Weile stoßen zwei weitere Freunde dazu: Donato Giannotti, der das Gespräch später aufzeichnete, und der berühmte Michelangelo Buonarroti in seinem siebzigsten Lebensjahr. Trotz der Kürze des Textes kann dieses Manuskript als wichtiger Kommentar zu Dantes „Comedia” gelten. Grundlage ist der erste Kommentar, veröffentlicht von Landino 1481. Er gehört zu den ersten Büchern, die in Florenz gedruckt wurden, enthält den vollen Text der „Comedia”, illustriert mit Kupferstichen nach Vorlagen von Botticelli. Erwähnt wird ferner der Kommentar von Boccaccio, dessen Echtheit von Michelangelo angezweifelt wird (S. 66). Heute ist man sich sicher, daß er ihm nur zugeschrieben wurde und sehr viel jünger sein dürfte (da Boccaccio auch verschoben werden muß, wie ich schon früher erkannte).
Die gesprächsartige Augenblicksskizze von Giannotti, die uns viel über das Genie Michelangelo verrät, spielt an einem Frühlingstag 1546 (S. 6). Um Dantes Zeitmaß ist ein heißer Streit entbrannt zwischen Michelangelo und seinen drei Freunden. Einer der Gesprächspartner unterstützt Landinos Zeitbestimmung, der andere die gegenteilige, die auch von Michelangelo vertreten und dann ausführlich erläutert wird. Dabei geht es nur um eine einzige Angabe: Wann war Vollmond, als Dante seine Wanderung durch Hölle und Fegefeuer zum Himmel unternahm? Welches Ereignis gehört zur Gründonnerstagnacht und der Karfreitagnacht? Das mutet wie ein Scheingefecht an, bei dem es in Wirklichkeit um etwas anderes geht, nämlich: Von welchem Jahr spricht Dante?
Angeblich war es das Jahr 1300.
Die Jahreszahl wird nur einmal genannt, hier die Textstelle (Hölle XXI, 112):
„Es war gestern, nur fünf stunden später,
Tausendzweihundertsechsundsechzig jahre
Genau vergangen seit der fels geborsten”
Frommel-Haverkorn (S. 21) bezieht das auf die Todesstunde Jesu, was im Gesamtkontext möglich ist. Der geborstene Fels am Wege kann sich auf den Tod Jesu beziehen (Matth. 27, 52). Jedenfalls wurde es so ausgelegt: Gestern vor 5 Stunden und 1266 Jahren war Jesu Tod. Die erwähnten fünf Stunden werden von Michelangelo so erklärt: Die Sonne steht am Samstagvormittag schon eine Stunde hoch, “gestern” bezieht sich auf Karfreitag. Die Todeszeit Jesu wird allgemein um Mittag (sechste Stunde) angenommen; “gestern und fünf Stunden später” zielt auf die genaue Todeszeit Jesu, Freitag 12 Uhr.
Rechnet man wie Herausgeberin die Lebenszeit von Jesus mit 34 Jahren zu den 1266 dazu (durchaus eine der für sein Lebensalter angegebenen Zahlen), dann ergibt sich das (AD-)Jahr 1300, also genau das angebliche erste Jubel-Jahr der Kirche.
Das fällt in die für Dante vorgesehene Lebenszeit; seine “Comedia” soll er nach heutiger Auffassung 1307 begonnen haben. Daß Dante sein Epos in die Vergangenheit versetzte, gilt als ausgemacht, weil auf diese Weise manche Aussagen als Prophezeiungen gelten konnten.
Die Zahl 1266 entspricht dem traditionellen Geburtsjahr Dantes. Für seine Geburt wird auch „Mai oder Juni 1265″ genannt, aber wegen der schwankenden Festlegung des Jahresbeginns ist die Zahl um 1 tiefer oder höher, je nachdem, wo die Aussage gemacht wird (dazu unten mehr). Das trifft auch auf den Moment der Abfassung des Epos zu: Dante wäre zum Zeitpunkt der „Comedia” im 35 Lebensjahr gewesen. Zu Dantes Lebenszeit sind also 1266 Jahre zu addieren, wie zu Jesu Todesjahr, und man kommt auf 1300.
Dennoch, die Zahl 1266 ist gar zu ausgefallen, sie muß eine Bedeutung haben. Sie klingt nach heiliger Zahl, denn sie liegt ganz nahe bei Joachim von Fiores heiliger Zahl 1260, die er aus der Offenbarung des Johannes (12, 14) entnommen hat: Dreieinhalb Zeiten (Jahre) entsprechen nach herkömmlicher Rechnung 42 Monaten (à 30 Tagen), das sind 1260 Tage. Die Zahl dreieinhalb Zeiten ist in Daniel (7, 25 und 12, 7) enthalten. Joachim bezog sie (angeblich) auf das Ende der Zeit, das demnach 1260 AD eintreten müßte.
Warum die Jahreszahlen um plus/minus 1 schwanken können: Die Allgemeine Encyclopädie (Bd. 23, S. 63) sagt: Florenz und Pisa begannen das Jahr am 25. 3., Florenz 2 Monate und 25 Tage später als die gewöhnlichen Zeitrechnung (die mit dem 1. Jan. begann), während Pisa der gewöhnlichen Zeitrechnung um 9 Monate 7 Tage voraneilte. Von dieser alten Zeitrechnung ging Dante aus. Da war der 25. 3. 1300 ein Freitag. (Quelle Ideler Chron. II). Dann wäre 14 Tage später am 8. 4. wieder Freitag gewesen und Ostersonntag am 10. April.
Mit der Festlegung auf das Jahr 1300 n.Chr. für den Beginn der Jenseitsreise Dantes tritt das Problem auf: der Vollmondtag vor Ostern.
Die Behauptung von Luigi Riccio lautet (S. 50 f): Dante verirrte sich in der Donnerstagnacht im Wald, wobei ihm der Vollmond hilfreich war, traf am Freitagmorgen auf die drei wilden Tiere, stieg am selben Abend ab in die Hölle, erst am Samstagmittag konnte er den Aufstieg des Läuterungsberges (Fegefeuer) beginnen und kehrte am Sonntag wieder auf die Erde zurück. Wie bei Landino waren drei Tage für die Reise ausreichend, der Zeitraum zwischen Vollmond und Ostersonntag.
Dagegen behauptet Antonio Petreo, und Michelangelo führt es mit weiteren Überlegungen aus: Es wären bereits fünf Tage vergangen, weil Dante zwei Tage in der Hölle zubrachte, den Freitag und den Samstag, und schon einen Tag eher die Wanderung begann. Er muß sich also schon am Mittwochabend im Walde verirrt haben (wobei ihm der Vollmond zustatten kam), und am Donnerstagmorgen mit den wilden Tieren gekämpft, dann am Abend in die Hölle abgestiegen sein. Zwei ganze Tage befindet er sich dort und erreicht erst am Abend des Ostersonntag den Läuterungsberg (Fegefeuer, Purgatorio). Der Vollmond wäre jedenfalls am Freitag schon vorüber gewesen, für Michelangelo hätte er schon am Mittwoch (in der Nacht auf Donnerstag) eintreten müssen. Der Wiederaufstieg auf die Erde kann erst am Sonntagabend bzw. am Montag erfolgt sein. Das wären insgesamt fünf Tage zwischen Reiseantritt und Ostern.
(Ich schlage in Alexander Toppers Tabelle nach: Vollmond fällt auf Dienstag, den 5. April 1300, Ostern auf den 10. April.)
Wenn auch manches widersprüchlich bleibt, wird doch deutlich, daß die beiden Meinungen sich nicht vereinen lassen. Wie aus dem Streit zu ersehen ist, liegt ein astronomisch-kalendarischer Zwiespalt vor, wenn die Zeitangabe zum Jahr 1300 unserer Zeitrechnung gehören soll.
Michelangelo hat die überzeugenderen Argumente, soweit es das Urteil der Freunde betrifft. Etwas ungewöhnlich ist für sie aber die Vorstellung, daß Dante mit Vergil zwei Tage im Inferno weilte, was Michelangelo damit begründet, daß zweimal ein Morgen genannt wird. Logischerweise gehören dazu zwei Tage, der Karfreitag und der Samstag. Das ist nicht elegant, erfüllt aber – soweit Michelangelo es erklärt – Dantes Darstellung.
Unpassend bleibt der Vollmond, der nach dieser Ansicht am Mittwoch eingetreten sein soll, das wäre am 6. April. Berechnet wäre der 5. April richtig. Das Streitgespräch zu diesem Punkt ist sehr ausführlich, behebt aber den Zwiespalt nicht.
Anmerkung am Rande: Zu sehr ähnlicher Schlußfolgerung kommt Philaletes (1839).
Er bestimmt den Vollmond (Hölle XX, 127) genauer: in der Nacht vom 4. auf den 5. April morgens um 3 Uhr (Anm. 26 und 27), das ist Dienstag. Daraus schließt Philaletes, daß keine Aussage sich mit einer anderen verträgt, auch die Verlegung ins ideelle Schöpfungszeitalter deckt nicht alle Probleme ab (XXI, Anm. 12). Das von Giannotti aufgezeichnete Gespräch konnte Philaletes noch nicht kennen.
Ein Argument lautet: Dante hätte sich irren können. Zumindest habe er nicht zum Himmel geschaut, sondern vorgefundene Daten verwendet. Dagegen steht: Nirgendwo in den Dialogen ist von einer Berechnung oder einem Kalendermodus die Rede, immer spricht auch die Comedia von beobachteten Himmelsereignissen.
Michelangelo argumentiert so (seine Worte im Dialog, S. 57, zitiere ich hier verkürzt):
“Dante beschreibt im XX Gesang (124-126) … nochmals einen Vormittag, der zweifellos der Vormittag des Samstag vor Ostern ist…:
Doch komm nun mit, denn Kain mit den dornen
Steht schon inmitten beider himmelshälften,
Um bei Sevilla in das meer zu tauchen.”
Und erklärt dann lang und breit, wie Sonnenstellung und Mondstellung in Bezug auf den Horizont hier zusammengehören.
(Kain ist der ewige Büßer im Mond, der Mann mit dem Reisigbündel auf der Schulter; die Hörner gehören zur Mondsichel, hier sind sie nur Metapher. Sevilla soll heißen: am fernen Westhorizont, aber sichtbar.)
((Eine andere Übersetzung (Karl Witte, Berlin 1916) bringt vermutlich genauer nach dem Wortlaut die Terzine so:
“Nun aber komm; bereits schwebt an der Gränze
Der zwei Halbkugeln und berührt die Welle
Jenseits Sevilla Cain mit dem Dornbusch.”
beschreibt also den sichtbaren Anblick der Halbheit der beiden Gestirne, wenn sie bei genauer Opposition am Horizont stehen.))
Dazu zitiert Michelangelo weiter aus der Comedia die anschließende Terzine (127-129):
„Und gestern ist ja Vollmond schon gewesen;
Du musst dich wohl erinnern, denn bisweilen
Kam er im tiefen walde dir zustatten.”
Es ist also wichtig, (sagt Michelangelio weiter) auf folgendes hinzuweisen: Als Vergil zu Dante sagte: ‘Doch komm nun mit …usw.’, befand sich die Sonne noch unter dem Horizont, sonst hätte er die erwähnten drei Zeilen: ‘ Und gestern ist ja Vollmond usw.’ ohne jede Berechtigung in den Wind geredet.
Das alles wäre sinnloses Geplänkel, wenn es nicht um die tatsächlich erlebte Situation der Himmelskörper gegangen wäre, sowohl bei Dante als auch bei Michelangelo.
Die Herausgeberin führt diese Terzine betont an und bemerkt (S. 21):
“Nach dem kirchlichen Kalender war es in der Nacht des 7. April Vollmond, also in der Nacht von Donnerstag auf Freitag. Das entspricht im Osterzyklus der Nacht, in der Christus auf dem Ölberg betet, gefangengenommen wird …”
Hier greift sie also auf ein kirchliches Datum zurück, das aber nicht stimmt, denn Vollmond war im Jahr 1300 AD am 5. April (Nacht von Dienstag auf Mittwoch), während Michelangelo erklärt: es war in der gestrigen Nacht, von Mittwoch auf Donnerstag.
Der Bezug auf einen ideellen Zeitpunkt wäre die einfachste Lösung, obgleich immer noch unzureichend:
Wenn man – durchaus berechtigt – den 25. März als Weltschöpfungstag berücksichtigt (was zwar viele Kommentatoren wie Landino richtig finden, Michelangelo und seine Freunde aber ablehnen) und die Daten der Karwoche nur als Fiktion, als “parallele” Woche (Allg. Encycl. wie oben), dann macht Dantes Angabe des Vollmonds keinen Sinn mehr (die Weltschöpfungswoche begann nicht nur mit Frühlingsgleiche, sondern auch mit Vollmond).
Demnach hätte Dante seine Reise am Donnerstagabend 24. 3. begonnen. Den Freitag 25. und Samstag 26. bringt er in der Hölle zu, wie Christus; am 27., Oster-Sonntag, steigt er aus der Hölle auf zum Läuterungsberg (Fegefeuer) und zum Paradies (Himmel). Ich vermute, daß Boccaccio, Landino und viele andere eine derartig idealisierte Zeitangabe bevorzugen, weil jede genaue Datenfestlegung in die Irre führt.
Da aus Dantes Angaben auch herausgelesen wird, daß er seine Wanderung an Frühlingsgleiche begann (Hölle I, 37), und diese im Jahr 1300 rechnerisch auf den 13. März gefallen wäre (Ideler Chron. I, 78), wird der Versuch, alle Angaben astronomisch auf 1300 AD zu beziehen, unerfüllbar. Es kann nur allegorisch gemeint sein oder ein anderes Jahr betreffen.
Die Erkenntnis, daß es sich um einen ideal gedachten Zeitablauf handeln müsse, kann man auch aus den Versen gewinnen, die von Michelangelo zwar zitiert (S. 56), aber in anderem Sinne ausgewertet werden:
„Die fische blinken schon am horizonte” (Hölle 11, 113) und
„Die sonne stieg empor mit jenen sternen,
Die bei ihr waren, als die liebe Gottes
Die schöne welt zum ersten mal bewegte.” (Hölle 1, 38-40)
Wenn das Sternbild der Fische am Horizont zu blinken anfängt, weil es in die Dämmerung, in den heller werdenden Schein der bald folgenden Sonne tritt, dann steht die Sonne nicht in diesem Sternbild, sondern noch davor, in Widder. Und genau das sagt der andere Vers, denn jene Sterne, in denen die Sonne stand, als die Welt erschaffen wurde, ist eben das Sternbild Widder. Beides paßt zusammen, aber nicht zur Zeit des Mittelalters oder der Renaissance, sondern zum Schöpfungsmoment. Die Aufstellung dieses Tierkreises in der Antike beschreibt später nur noch den idealisierten Zustand. In Dantes Zeit müßten diese Sternbilder um eins vorgerückt sein, weil die Präzession sich so ausgewirkt hat. Das bedeutet, daß Dante nicht einen von ihm gesehenen Himmelsanblick wiedergibt, sondern einen idealisierten. Warum Michelangelo nicht darauf eingeht, ist unerfindlich.
Er und seine Freunde halten die astronomischen Hinweise Dantes, besonders die Mondstellung, für unanfechtbar. Während der Diskussion wird ihnen allerdings bewußt, daß sich Dante ungeachtet der allgemeinen Hochschätzung, derer sich der Dichter erfreut, doch auch undurchsichtig ausgedrückt hat, wobei sich selbst mit einigen Verrenkungen das Datum des Vollmondes in der fraglichen Karwoche nicht zufriedenstellend einordnen läßt.
Michelangelo klärt die Fragen und versucht dann eine ähnliche Rettung der Astronomie in der “Comedia” auch bezüglich einer anderen Aussage Dantes, die sich nicht einfügen will (Fegefeuer I, 19-21, kurz vor der Beschreibung des Sternbilds Kreuz des Südens, die ich andernorts bespreche): „Venus habe im Zeichen der Fische gestanden, obschon sie sich nach den Berechnungen der damaligen Zeit im Zeichen des Wassermannes befand”, sagt Michelangelo (S. 67). Um die Stellung der Venus an den fraglichen Tagen zur Klärung des Jahres zu verwenden, wäre außerdem die von Michelangelo zitierte (S. 87), aber nicht kommentierte Aussage heranzuziehen (Fegefeuer 27, 94-96):
„Zur stunde, glaub ich, da am berg von osten
Zum ersten mal der Venusstern erstrahlte,
der immer glühend scheint vor liebesfeuer.”
Sie soll sich laut Michelangelo auf den Mittwochmorgen nach Ostern beziehen (13. 4. 1300). Michelangelo führt nämlich im weiteren Verlauf des Gespräches aus, daß der gesamte Zeitraum von Dantes Reise eine ganze Woche betraf, wobei die Zeit im Paradies nicht gezählt werden kann, weil es dort kein Zeitmaß in unserem Sinne gibt.
Das Gespräch endet dann mit einer Betrachtung über die Rechtmäßigkeit des Tyrannenmordes, die im 16. Jh. vielen Italienern sehr wichtig war, besonders in Florenz, für Dante in seinem Epos aber einen anderen Stellenwert hatte, was mich hier nicht interessiert. (Wer möchte, kann dazu Alois Riklin lesen).
Soviel steht nun fest: Sinnvoll sind die astronomischen Aussagen Dantes in seinem Epos nur dann, wenn sie sich auf einen deutlich anderen Zeitpunkt beziehen.
Diesen zu ermitteln dürfte nicht einfach sein. Ein Abstand von 4 Tagen zwischen Vollmond und Ostersonntag tritt in vielen Jahren ein. Etwa 1499: Vollmond am 27. 3., Ostern am 31. 3. – Abstand 4 Tage. Das Jahr, das in unserer Zählweise 1499 entspricht, könnte von Dante gewählt worden sein. Die Jahreszahl wird durch den vorgezogenen Jahresbeginn (wie in Pisa) zu 1500.
Die allgemeine Dante-Begeisterung im 16. Jh. ist allerdings auffällig. Daß sie zwei Jahrhunderte zurückreichen soll, geht mir nicht ein. Die italienische Jahreszahl 1300 wird dadurch nicht falsch, sie muß gesehen werden als kurz vor 1500 AD. Wenn man das weiß, sind astronomische Rückberechnungen in die Zeit der „Comedia” möglich.
Einschub: Für Florenz habe ich in den Venus-Ephemeriden nachgeschlagen: Am Ostertag, 27. März (nach der Ideallösung), steigt Dante auf zum Läuterungsberg und ins Paradies. Dort sieht er die Venus ganz neu erstrahlen. Das paßt nicht zum Jahr 1300 AD, wo sie am 17. April zum Abendstern wird im Stier. Es paßt aber sehr genau zum Jahr 1499: Venus wird laut Tabelle zum Morgenstern am 26. März um 6 Uhr im Sternbild Widder. (Im Jahr darauf, 1500, wird sie am 16. Februar zum Abendstern in Fische und dann am 28. Oktober zum Morgenstern im Skorpion, das paßt also garnicht.)
Der “göttliche Dichter” dieser “göttlichen Dichtung” wird leider kaum als Mensch, als Person, wahrgenommen, er ist 1546 selbstverständlich längst im Jenseits. Wie lange – das eben ist meine Frage. Die vier Gesprächsteilnehmer kannten ihn nicht persönlich, der fünfzehnjährige Michelangelo kannte den Kommentator Landino. Stutzig macht mich die starke Beschäftigung aller Intellektuellen Italiens mit Dante im 16. Jh., besonders auch mit dem astrologischen Inhalt seiner Dichtung, was schon 1506 (S. 14) in einem Dialog von Manetti vorkam und 1551 immer noch (aber nicht um 1300). Landinos Kommentar von 1481 wird fast wörtlich im Gespräch verwendet (S. 15).
Damit liegt für mich ein weiteres Indiz für meine These vor: Dante lebte im 15. Jh. und starb gegen 1500.
Dafür spricht auch folgender Hinweis: Die Akademie von Florenz bittet 1519 Papst Leo X um die Überführung der Gebeine Dantes von Ravenna nach Florenz. Michelangelo schließt sich der Bittschrift an, aber die bleibt erfolglos. Für mich ist diese Bitte – so spät, angeblich 198 Jahre nach dem Tod des Dichters – ein weiteres Indiz für eine zeitnähere Lebenszeit Dantes.
Vor allem aber ist die behauptete Genauigkeit Dantes in Sachen Astronomie-Astrologie (ich habe sie ihm selbst bezeugt) nur dann zutreffend, wenn ein anderer Zeitpunkt für die Entstehung des Epos angenommen wird.
Literatur
Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und herausgegeben von J.S. Ersch und J.G. Gruber (1832)
Frommel-Haverkorn van Reijsewejk, Joke (1968): Gespräche mit Michelangelo, von Donato Gianotti. Erste vollst. deutsche Übertragung, eingel. und hrg. v. Joke Frommel-Haverkorn (Castrum Peregrini 84/85, Amsterdam)
Ideler, Christian Ludwig (1825/26): Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie (2 Bände)
Philaletes (pseudonym für König Johann von Sachsen) (1828-1839 und 1849): Dante Alighieri’s Goettliche Comoedie, metrisch übertragen und mit Erläuterungen versehen (TB 1998)
Riklin, Alois (1996): Giannotti, Michelangelo und der Tyrannenmord (Stämpfli, Bern)
Venus-Ephemeriden: https://www.astro.com/swisseph/ae/venus1100.pdf
Die von der Herausgeberin zitierten Übersetzungen der Dante-Verse stammen von Hermann Gmelin (Stuttgart1954): Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Übersetzt und kommentiert von Hermann Gmelin, vollständige Ausgabe, Text und Kommentar (es gibt einen fotomechanischen Nachdruck 1988, von mir nicht eingesehen).
Ein beträchtlicher Teil meines Buches “Kalendersprung” (2006) beschäftigt sich mit dem Problem der verschobenen „italienischen” Jahreszahlen, die ja keineswegs nur in Italien vorkommen, sondern auch in Frankreich sowie in deutschen Druckwerken der Renaissance. Zum Thema Dante siehe besonders ‘Dante als Humanist’ (S. 246-251).
Dante Nachtrag (1)
Der Versuch, Dante aus seinen Werken heraus in einen konkreten Zeitrahmen einzuordnen, wurde von Hunderten von Historikern bearbeitet, und fast genauso viele Antworten wurden vorgeschlagen. Nach langer Untersuchung dieser Möglichkeiten hinsichtlich der Datierung von Dantes Traktat „Monarchia” stellt Friedrich Baethgen (1966) fest, daß weder ein konkreter Kaiser (oder König usw.) noch ein Papst in diesem Werk von Dante anvisiert wurden, sondern daß “Vergangenheit und Gegenwart in eines zusammenfließen” (S. 13) und “daß bei Dante eben nicht von bestimmten historischen Personen die Rede ist, sondern von Kategorien” (S. 14).
In einer neueren Arbeit (2006) vergleicht Patrick Hehmann „Dantes Monarchia. Eine Utopie?” mit der Utopie des Thomas Morus (1516), ein Sprung über mehr als 200 Jahre.
Schließlich noch ein Gemälde: Dante in der Kathedrale von Florenz gemalt von Domenico di Michelino 1465, wobei zeitgenössische Bauten von Florenz sichtbar sind. Eben – zum Zeitpunkt des ausgehenden 15. Jh.s.
Die vorigen vier Artikel zum Thema „Dantes Lebensdaten” sind im Lesesaal aufgelistet:
Dante – eine neue Datierung
Hardouins Zweifel zu Dante
Weitere Hinweise zur Zeitstellung Dantes
Exkurs zur Datierung von Dantes Lebenszeit