Die Bleitafeln von Granada
Eine grandiose Fälschungsaktion, die bis heute Wellen schlägt
Die Bleitafeln von Granada, die ich (in »Die Große Aktion«, 1998, S. 81, nach der Lektüre von Mayans 1742) besprach, können als klassisches Beispiel für eine mißlungene und dennoch erfolgreiche Fälschung dienen. Das hervorragende Buch von Caro Baroja (1991, hierzu besonders Teil 3) das sich mit Fälschungen aller Art in der spanischen Geschichte beschäftigt, legt den Sachverhalt noch deutlicher zutage. Er zeigt an diesem Lehrbeispiel, wie eine gut angelegte Fälschungsaktion aus theologischen Gründen abgelehnt wurde und dennoch Geschichte machte. Die Bleitafeln, die in Granada kurz vor Ende des 16. Jh.s in einem Turm oder einer Höhle im Sacromonte (Granada) gefunden wurden, sind trotz ihrer plumpen Machart über hundert Jahre lang von Bischöfen und Königen Spaniens als echt verteidigt worden, bis sie durch einen Papst als Fälschungen verboten wurden. (siehe hier, Teil 1).
Jean Hardouin hat sich kurz aber prägant zu den Bleitafeln geäußert. Hier der Text Hardouins (Prolegomena XIV, 12, in der hervorragenden Übers. v.Rainer Schmidt; seine ausführliche Anmerkung folgt hier am Schluß):
“Nicht nur auf Pergament, sondern auch auf Bleiplatten wurden von ihnen (der Fälscherbande) gewisse Dinge geschrieben, die sich auf die kirchliche und profane Geschichte beziehen; andere haben das in jüngerer Zeit nachgeahmt. So Ahmed ben Cassem Al-Andalousi, ein Maure aus Granada, der im Jahre 1599 lebte. Er zitierte aus einem arabischen Manuskript des heiligen Caecilius, Erzbischof von Granada, bestehend aus sechzehn Bleiplatten in arabischer Schrift, die in einer Höhle in der Nähe von Granada gefunden worden waren, so bezeugt es Don Pedro de Castro y Guinonas, der Erzbischof von Granada. Diese Bleiplatten, die sogenannten Granada-Platten, wurden anschließend nach Rom gebracht, wo sie nach mehreren Jahren der Untersuchung unter Alexander VII endgültig als apokryph verurteilt wurden. Das Buch über die Kindheit des Erlösers enthielt viele Legenden, wie man bei D’Herbelot nachlesen kann. Von der gleichen Art sind viele Bleiplatten, die in Grabstätten eingelassen worden waren, um zu bezeugen, es handle sich um die sterblichen Überreste Heiliger. Oder sie haben Namen von Fürsten oder Konsuln eingraviert, um den Chroniken Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Auf einer falschen Bleiplatte steht, wie uns der Pseudo-Guibert e Novigento glauben machen will, geschrieben: FIRMINUS MARTYRAMBIANORUM EPISCOPUS; siehe sein Gelübde der Heiligen, 1. Buch , Kap. IV.”
Das ist kurz und bündig das Wesentliche, was Hardouin uns sagen will: Fälschungen von der Art dieser Bleiplatten wurden geschaffen, um Geschichte zufestigen, Legenden zu verbreiten und hohes Alter vorzutäuschen.
In diesem besonderen Falle wird auch deutlich, daß einer theologischen Richtung zum Durchbruch verholfen werden sollte, nämlich der Möglichkeit, Christenum und Islam (der hier ja als die ältere der beiden Religionsformen auftritt, da alle sieben Schüler Santiagos vom Islam zum Christentum übergetreten sein sollen) zu versöhnen und das Nebeneinander der beiden Völker wünschenswert sei.
Wie ich oben schon sagte, hat Caro Baroja (1991, Teil 3) den Sachverhalt ausführlich besprochen. Im großen Ganzen stimmt Hardouins Aussage damit überein.
Kardinal Ratzinger hat im Jahr 2000 die Bleitafeln dem Erzbistum Granada zurückgegeben.
In der spanischen Wikipedia werden die Bleitafeln “una de las más famosas falsificaciones históricas” (eine der berühmtesten Geschichtsfälschungen) genannt, jedenfalls eindeutig Fälschungen, wobei Caro Baroja ausgiebig zitiert wird.
Die englische Wikipedia zieht den Schluß: “The authenticity of the bones and ashes of the 12 martyrs was never officially challenged, and they continue to be venerated in the Abbey that Archbishop Castro built on the spot. Hence the legend has acquired a moral function directly contrary to the intention of its presumed original propagators.”
(Die Echtheit der – mit den Bleitafeln gefundenen – Knochen und Asche wurde nie offiziell angegriffen, und sie werden weiterhin verehrt in der Abtei von Sacromonte, die Erzbischof Castro damals am selben Ort erbauen ließ. Seitdem hat die Legende eine moralische Funktion bekommen, genau entgegengesetzt der Absicht ihrer vermuteten Verbreiter – nämlich der Versöhnung von Islam und Christentum.)
Hintergrund
von Rainer Schmidt
Die protestantischen Gelehrten des frühen 17. Jahrhunderts in den Niederlanden zeigten ebenfalls großes Interesse an den Bleitafeln, aber ihre Charakterisierung der Bleibücher als eklatante Fälschung diente nur dazu, abweichende Meinungen innerhalb des katholischen Spaniens durch Assoziation mit Ketzerei zu diskreditieren. Aber auch der Vatikan stand den Texten jedoch weiterhin sehr skeptisch gegenüber, und 1642 gelang es ihm, die Bleibücher zusammen mit einem zugehörigen “alten” Pergament, das 1588 in einer Bleibox im Turm einer ehemaligen Moschee in der Stadt Granada selbst entdeckt worden war, nach Rom schicken zu lassen. Eine ausgedehnte Untersuchung des Heiligen Offiziums in Rom kam 1682 zu dem Schluss, dass sowohl das Pergament als auch die Bleibücher ketzerische Fälschungen waren. Obwohl die Verurteilung durch den Vatikan keine konkreten Personen betraf, besteht seit dem 17. Jahrhundert ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die Fälscher wahrscheinlich Luna und Castillo waren, dieselben beiden Moriskos, die viele der Texte übersetzt hatten. Eine Veröffentlichung aus jüngster Zeit meldet jedoch Zweifel daran an, ob es sich tatsächlich um Fälschungen handelt.
Die Bleibücher wurden zwischen 1595 und 1606 in den Höhlen von Sacromonte, einem Berghang außerhalb der Altstadt von Granada, Spanien, entdeckt. Sie bestanden ursprünglich sogar aus 22 Bänden beschrifteter kreisförmiger Bleiblätter, die mit Bleidraht zusammengeschnürt und in gefaltete Bleideckel gebunden waren; drei Bände sind jedoch nicht mehr erhalten. Die Leitbücher schienen in einer Kombination aus Arabisch und Latein geschrieben zu sein, wobei Schriftzeichen verwendet wurden, die die Moriskengelehrten des 17. Jahrhunderts angeblich als “salomonisch” erkannten und die sie als vorislamisches Arabisch identifizierten. Viele Buchstabenformen waren unsicher, und die Texte selbst waren kryptisch und wirkten z.T. wie gewollt undurchsichtig, so dass sich die katholischen Behörden völlig auf die Morisken-Übersetzer verließen; die wichtigsten unter ihnen waren Miguel de Luna und sein Sohn Alonso del Castillo (eigentlich: de Luna), die zufällig im nahegelegenen Albaicin lebten und die tatsächlich bei der Wiederentdeckung einiger der Bücher eine wichtige Rolle gespielt hatten. Zusammengenommen können die Bücher als eine Ergänzung der kanonischen Apostelgeschichte betrachtet werden (und zusammengenommen sind sie in der Tat von ähnlicher Länge), doch zeichnen sie eine alternative Missionsgeschichte auf, in der der Heilige Paulus nicht vorkommt. Die Texte enthalten einen ausdrücklichen lateinischen Verweis auf die gegenreformatorische Formulierung der Lehrmeinung von der Unbefleckten Empfängnis (Mariam non comprehendit peccatum originale), verwenden aber auch eine Terminologie, die sonst eher islamischen Formeln entspricht: “Gott ist einer. Es gibt keinen Gott außer Gott, und Jesus ist der Geist Gottes”.
Ein durchgängiges Thema ist die Betonung des Arabischen als einer alten Sprache Spaniens, der Araber in Granada als den ersten Christen in Spanien und des Christentums als der wahren Religion der Araber. Die dargestellte Form des Christentums ist für die Katholiken in Granada höchst akzeptabel, da sie die Reliquienverehrung, den Jungfrauenkult und die Priorität Granadas als christliches Bistum betont, aber auch einige Aspekte des Christentums herunterspielt, die den Muslimen am meisten zuwiderliefen, darunter der Kult der Ikonen, die Lehre von der Dreifaltigkeit, die Verehrung Jesu als des menschgewordenen Sohnes Gottes und der Gebrauch von Wein in der Eucharistie.
Miguel de Luna ist sogar extra nach Rom gefahren, um als angeblicher (Nur-)Übersetzer das Wohlwollen des Vatikans zu erreichen – ein Anliegen, das gründlich fehlschlug.
Die von Ratzinger als damaligem Vorsitzendem der Glaubenskongregation veranlasste und von Johannes-Paul II. im Jahre 2000 durchgeführte Rückgabe der Bleibücher nach Spanien geschah übrigens unter strengen Auflagen. Da der Vatikan sie nach wie vor als Fälschungen einstuft, müssen sie unter Verschluss gehalten werden und dürfen nicht öffentlich gezeigt werden.
Erst in jüngster Zeit kommt Bewegung in die Sache, wobei sich die Vermutung der Fälschung zur Gewissheit verdichtet. Der inzwischen verstorbene Leidener Emeritus Pieter Sjoerd van Koningsveld und sein Amsterdamer Kollege Gerard Albert Wiegers haben nämlich jahrelang weitergeforscht und im März 2019 in Granada die Quintessenz ihrer Arbeiten vorgelegt:
„Zusammengenommen können Pergament und Bleibücher als ein Versuch gesehen werden, die granadischen Moriskos als eine Vorhut am Ende der Zeit darzustellen, die sich sowohl als islamisch als auch als Erben eines authentischen frühen Christentums auf der iberischen Halbinsel präsentiert, während sie das Judentum entschieden ablehnt. Die Verwendung des Spanischen und des Lateinischen im Pergament und in den ersten beiden Bleibüchern diente dazu, die alteingesessenen Christen und sehr wahrscheinlich insbesondere das Erzbistum (…) für die »christlichen« Aspekte der Botschaft der Blei-Bücher zu sensibilisieren, während die Rolle des Arabischen und bestimmte Aspekte der religiösen Kultur der Morisken beibehalten und gefördert wurden.“ (2019, S. 44)
Rainer Schmidt, Mai 2022
Literatur
Caro Baroja, Julio (1991): Las Falsificaciones de la historia (en relación con la de España) (Circulo de Lectores, Barcelona)
Hardouin, Jean (1766): Prolegomena (deutsch von Rainer Schmidt 2021, Norderstedt)
Sjoerd van Koningsveld und Gerard Wiegers (2019): The Sacromonte Parchment and Lead Books. Critical Edition of the Arabic Texts and Analysis of the Religious Ideas. Presentation of a Dutch research project, Granada, 19 March 2019, 19.00-21.00 hours. With images of the original Lead Books and the Parchment
Topper, Uwe (2006): Julio Caro Baroja durchleuchtet den Historiker Annio von Viterbo.
Ein Kommentar
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