Edgar Dacqué: Urwelt, Sage und Menschheit

Rezension des Buches von Edgar Dacqué: Urwelt, Sage und Menschheit (München 1924)
Uwe Topper, Berlin

Der Münchener Geologe Edgar Dacqué nennt sein umwälzendes Buch bescheiden “Eine naturhistorisch-metaphysische Studie” und erklärt in der Vorrede, warum es sich tatsächlich nur um eine Studie handelt : Die Gedanken, die er hier entgegen der Zeitströmung vorbringt, sind so neu und ungewöhnlich, daß sie nur als Entwurf oder Programm gelten sollen. Die folgenden Generationen von Forschern werden erst die ganze Tiefe dieser neuen Gedankenwelt ausloten können und ihnen ein gediegenes wissenschaftliches Fundament verschaffen.

Was Dacqué in seinem hoffnungsvollen Ansatz nicht ahnte: daß die akademische Erstarrung viel stärker sein würde und die Geistesgeschichte weiterhin ein Stiefkind der Universitäten bleiben würde. Die erneut in unserer Zeitschrift (Synesis 1/2002, S. 21-28) vorgetragene Arbeit des Biologen François de Sarre regte mich an, den großen Vordenker mit einer kurzen Betrachtung seiner Thesen noch einmal aufleben zu lassen.

Wenn wir uns an Dacqués Wirken erinnern, fällt einem zumeist nur das Skandalöse seiner Thesen ein: daß Mensch und Saurier Zeitgenossen waren, daß der Mensch die Grundlinie der Schöpfung ist, die anderen Wirbeltiere die Abarten und Spezialisierungen, daß die Naturgeschichte ein anderes Zeitmaß hatte als das akademische usw.

Dacqués frühere Schriften (1921 und 1923) spiegelten noch das anerkannte akademische Muster wieder. Erst in diesem neuen Werk (1924) zeigt er sich als der Ketzer. An diesen Mann erinnert man sich, der angefeindet, aus dem akademischen Betrieb verdrängt und lächerlich gemacht wurde. In diesem Punkt muß ich jedoch eine Berichtigung bringen: Ich hatte gehört, daß Dacqué wegen seiner Thesen seinen Lehrstuhl an der Universität München aufgeben mußte, und hatte das auch im Berliner Geschichtssalon 1995 so weitergegeben. Horst Friedrich schreibt nun (in der Zeitschrift Bipedia von F. de Sarre, Nr. 20, Jan. 2002, S. 28): “Dacqué war zwar Professor an der Münchener Ludwig-Maximilian-Universität, hatte aber keinen Lehrstuhl (der Rezensent hat seine Personalakte eingesehen), kann ihn also auch nicht verloren haben.” (siehe Anm.) So werden Aktionen aufgebauscht. Dennoch stimmt es, daß diesem genialen Forscher die Anerkennung seitens der Etablierten versagt blieb. Da aus diesem Grunde nur wenige heute Dacqués Werke kennen, will ich einen kurzen Einblick in das oben genannte Buch bringen.

Sein Ansatz oder Einstieg hat gewisse Gemeinsamkeiten mit Hanns Hörbigers Welteislehre (die ein Jahr vorher in 2. Auflage herauskam), indem er die Mythen und Überlieferungen der Völker auf ihren katastrophistischen Wahrheitsgehalt hin untersucht. Dabei hat er allerdings mit seiner umfangreicheren Bildung einen viel größeren Hebel angesetzt, als dies der Ingenieur Hörbiger gekonnt hätte. Zumindest ergänzen sich die beiden, wo es um Sintfluten und Mondstürze geht, während Dacqué die Veränderungen im Sonnensystem in viel weiterem Maße erkennt, auch in einem weiteren Maß, als dies Velikovsky ein Vierteljahrhundert später gelungen war.

Im 2. Kapitel, “Wirklichkeitswert der Sagen und Mythen”, spricht er auch gleich den chronologischen Faktor an. Wir möchten den alten Sumerern gern einige Jahrtausende zugestehen, sie selbst sprachen aber von Jahrhunderttausenden ihrer Geschichte. Oder die Japaner, die haben eine jahrmillionenlange Geschichte, wenn man ihren Überlieferungen traut. Für Inder und Azteken gilt dasselbe, möchte ich anfügen.
Wie wir wissen, macht Heinsohn damit radikal Schluß, er hat glaubwürdig gezeigt, daß für die Menschheitsgeschichte nur zwei oder drei Jahrtausende zur Verfügung stehen.
Sind das konträre Ansätze zweier Außenseiter?

Unbeschadet der Einwände, daß “Jahre” in der Vergangenheit einen anderen Stellenwert und eine andere Länge gehabt haben können, oder daß Geschichtsschreibung dieser Art reine Zahlenmystik war, bleibt die Frage, was man als den Beginn der Menschheitsgeschichte definieren will. Schrift? Feuerbenützung? Aufrechter Gang? Denkvermögen? …

In diesem Punkt unterscheidet sich Dacqué von allen heutigen Vorstellungen (außer de Sarre und den bei ihm genannten Pionieren). Er sagt, daß die Entwicklung der Wirbeltiere mit dem Menschen begann, und daß alle Tierarten von diesem Hauptstamm abgezweigt sind. Auf einer Übersichtstafel (S. 252) beginnen die Adamiten bereits in der Steinkohlenzeit; sie waren horngepanzert, lebten amphibisch zwischen Wasser und Land, gingen noch auf allen Vieren (im Gegensatz dazu: de Sarre nimmt Zweifüßigkeit als Urform an) und waren natursomnambule Wesen, also noch nicht mit analytischem Denken beschäftigt, sagten auch noch nicht “ich” sondern “wir”. Als nächste große Stufe gibt es die Noachiten des Erdmittelalters, genauer der Kreidezeit; sie kämpften mit Drachen und entwickelten den Heldenbegriff. Ihre Taten sind unsere Mythen. Der Bruch zum Tertiär entspricht der Sintflut Noahs, Gondwanaland ging unter, die letzten Menschen mit dem dritten Stirnauge erlagen der Katastrophe.

Im folgenden Alt-Tertiär geht auch Lemuria unter, Atlantis wird besiedelt, der Weinstock wird angebaut, die Naturverbundenheit geht allmählich verloren. Das Jung-Tertiär ist die Zeit der Abspaltung der Menschenaffen vom Menschen. Aufrechter Gang ist jetzt endgültig (im biologischen Sinn, nicht wie bei Erich Kästner), Astrologie und besonders Sonnenkult sind die religiösen Merkmale.

Im Diluvium geht wiederum eine Kultur zugrunde: Atlantis versinkt. Und im letzten Abschnitt, dem Alluvium, tritt der apollinische Mensch mit den historischen Kulturen auf den Plan.

Gewiß tu ich diesem großen Denker Unrecht, wenn ich sein wohldurchdachtes Zeitschema in diesen kurzen Sätzen wiedergebe. Ich möchte anregen, das Original zu lesen! Außerdem möchte ich zeigen, wie sehr unsere neueren Theorien auf diesem Schema fußen. Es ist ja nicht so, daß man nur dann diese Pioniere wie Hörbiger und Dacqué zitieren muß, wenn man sie persönlich gelesen hat. Wir sind ja durch unsere Erziehung und die kulturellen Bewegungen unseres Jahrhunderts geprägt von den jahrelangen Diskussionen, die sich an diese Schriften gehängt hatten. Unsere Lehrer und Eltern kannten die großen Vordenker noch und haben sich oft heiße Debatten um ihre Thesen geliefert. Velikovsky war von diesen Ideen zutiefst geprägt, auch wenn er es aus religiösen Gründen nicht hervorgekehrt hat.

Wenn es den Menschen schon seit ungezählten Äonen, seit dem Erdaltertum sogar gibt, dann stellt sich die Frage, warum wir keine Fossilien von ihm oder seiner Tätigkeit finden. Dacqués Überlegungen (S. 75 ff) sind einleuchtend: Der ehemalige Kontinent Gondwana, auf dem der adamitische Mensch sich entwickelte, liegt heute größtenteils unter Wasser, und die Festlandstücke sind (oder waren 1924) noch kaum erforscht. Dacqué hofft auf künftige Funde, weiß aber, daß Fossilien nur im Zusammenhang mit Katastrophen (kosmischen oder vulkanischen und marinen) zu erwarten sind, und daß gerade die katastrophischen Kräfte fast alles zerstören. Nur im Flachmeer sind die Bedingungen für erhaltene Abdrücke und Versteinerungen günstig.

Aber es kommt noch ein erschwerender Umstand hinzu: Würden wir denn den Rest eines Frühmenschen als solchen erkennen? Sah der ferne Vorfahre denn genauso aus wie der heutige Mensch? Vielleicht war seine Hand anders, wie Utnapischtim bemerkt, als ihm Gilgamesch im Boot naht und vermutlich die rechte Hand zum Gruß hochhob: “Der da kommt ist doch kein Mensch, die Rechte eines Mannes hat er nicht.” Utnapischtim, der vornoachitische Mensch, hatte vielleicht noch Hände, deren Glieder verwachsen waren. Das muß eine sehr frühe Entwicklungsstufe sein, und doch wird es sich um einen aufrechtgehenden Menschen gehandelt haben, wie die Antwort Gilgameschs nahelegt: “Ich schau dich an, Utnapischtim. Deine Maße sind nicht anders, gerade wie ich bist auch du!”

Die verwachsene Hand macht jeder Mensch als Embryo noch durch; viele Sagen deuten dies an, Dämonen auf Mayabildern haben verwachsene Hände, und einige im deutschen Sandstein der Perm-Triaszeit erhaltene Spuren ebenfalls.

Fünffingrigkeit gilt seit langem als Beweis für höhere menschenähnliche Formen. Der Fossilienkenner Dacqué kann zeigen (S. 63), daß schon im Karbonzeitalter einige Wesen fünffingrig waren, und daß dies vermutlich eine Schwundstufe einer früheren Sechsfingrigkeit darstellt, was uns die eigenartige Diskussion über orientalische Eingeweihte (Bu-Sta, arab.) in Erinnerung ruft, denn der sechste Finger kommt bei ihnen als “Atavismus” vor. Die fünf Finger gehören zu Lebewesen, die an Land gingen, vermutlich schon halb aufrecht; sie waren unsere Ahnen, wenn man der Entwicklungstheorie folgen will. Die Vorstufe wären siebenfingrige Wassertiere gewesen.
Wir sehen schon: Fische waren nicht die Grundstufe der Menschheit, sondern der Mensch war die Grundstufe für alle anderen höheren Tiere. Das deckt sich mit Platon (Timaios), aber ob Platons Dialoge Dacqués Einweihungserlebnis waren?

Dacqué geht auch auf das dritte Auge ein, denn das Stirnauge ist ja in vielen Sagen vorhanden, wenngleich diese Riesen dann meist nur dieses eine Stirnauge besaßen. Das Problem bleibt zunächst ungelöst, nur der Zusammenhang mit der Zirbeldrüse, die auch für Riesenwuchs und geschlechtliche Frühreife verantwortlich ist, wird gezeigt.

Eins der Schlüsselwörter bei Dacqué ist der Zeitcharakter oder noch genauer: die Zeitsignatur der Lebewesen. Es gibt Gestaltbildungen, die allen verwandten Tierformen in einem gewissen Zeitraum eigen sind. Andererseits sind parallele Entwicklungen einer Säugetierform oder Menschenrasse häufig, so daß deren späteres Wiederzusammentreffen überraschende Ergebnisse bringt. Oannes, der babylonische Fischmensch, lehrt die einfachen Menschen, denn er hat ein großes Wissen bewahrt, das weit zurückreicht in ein Zeitalter, da der Mensch noch fischähnlich aussah. Riesen, Menschen und Zwerge lebten gleichzeitig und ergänzten sich gegenseitig.

An einer Stelle (S. 95) faßt Dacqué seine Erkenntnis so zusammen, “daß der Mensch ein eigenes Wesen, ein eigener Stamm ist, uranfänglich gewesen, was er sein und werden sollte, wenngleich mit allerlei grundlegenden Veränderungen seiner Gestalt; und daß er, körperlich und seelisch mit der Tierwelt stammesverwandt, doch als die von Uranfang an höhere Potenz die anderen aus seinem Stamm entlassen haben muß, nicht umgekehrt.”

Dacqués Sprache ist packend, von ungeahnter neuer Kraft, wie sie Haeckel oder Darwin nie aufbrachten. Hier ist mehr als nur theologische Besserwisserei, hier ist eine Weltanschauung zu Wort gekommen. Hören wir noch folgenden Satz: “Gewaltige Katastrophen kosmischer Natur waren es, die mit der ganzen Wucht apokalyptischer Ereignisse sich der Urmenschenseele einprägten und nun im Mythos unverblaßt fortleben.” (S. 203)

Bei Überlegungen zur Entstehung der Festlandsockel kommt Dacqué (S. 217) zu der Einsicht, daß das Zentralproblem paläographischer Forschung einer Lösung zugeführt werden könnte, wenn man den Wasserzufluß aus dem Weltraum für die erdgeschichtlichen Epochen als Tatsache einbeziehen würde; und “man würde damit auch wieder zur Anerkennung kosmisch bedingter Katastrophen kommen, wie es die Heroen der erdgeschichtlichen Forschung am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts noch ahnten und schauten…”

Er wandte sich scharf gegen Lyell und dessen Uniformismus, dem er die Erdkatastrophen entgegenstellte. Die Sätze am Ende des 1. Teils seines Buches sind wegweisend für viele gewesen. Unsere “behäbige Auffassung des erdgeschichtlichen Ablaufs”, die wir Lyell und Darwin verdanken, und die wohl im gewisser Harmonie mit dem stabilen Bürgertum des 19. Jh.s stand, hat die besten Werte der elementaren Katastrophentheorie Cuviers ganz in den Hintergrund gedrängt. “Erst neuerdings kommen sowohl Erdgeschichte wie Biologie wieder zu stärkerer Betonung der Tatsache, daß Zeiten ruhiger Evolution mit Zeiten revolutionärer Gewaltwirkung auf dem Erdkörper und in der Lebensentfaltung wechselten, wie wir es jetzt auch wieder so ungeheuerlich im Völkerleben sehen.” Dennoch hat sich der Katastrophismus auch in den folgenden 70 Jahren nicht durchsetzen können, so umstürzend die Ereignisse im Leben der tonangebenden Völker auch gewesen sein mögen. Hier versagte der Parallelismus zwischen Sozialgeschehen und Wissenschaft.

Auf wen Dacqué zurückgreifen konnte, wäre noch zu erwähnen. In biologischer Hinsicht wichtig war für ihn das postume Werk von H. Klaatsch (1920): “Der Werdegang der Menschheit und die Entstehung der Kultur” (Berlin). Kulturell bedeutend sind Bachofen, Frobenius, Spengler, auch Bölsche, Helene Blavatsky, geologisch natürlich die Welteislehre, ganz besonders Hanns Fischer, sie alle werden mehrfach zitiert; selbst Friedrich Delitzsch und J. G. Frazer sind erwähnt, und last but not least Martin Buber. Der Entelechie-Gedanke, von Hans Driesch am besten verteten, findet sich bei Dacqué sehr ausgeprägt. Aber am Ende ist es doch sein ganz persönliches Werk, unvergleichlich in seiner Offenheit und seinem Sprung nach vorn.

Dacqué ist übrigens nicht stehengeblieben auf dieser Stufe der naturwissenschaftlichen Denkweise, er hat den Sprung ins Geistige tatsächlich vollzogen: “Die Urgestalt. Der Schöpfungsmythos neu erzählt” (Insel-Verlag 1951) bezeugt die Größe seiner Weltschau, wahrhaft gnostisch, an Jakob Böhme geschult. Hier erst findet der Naturwissenschaftler seine Erfüllung. Aus diesem Buch wird klar, wie Dacqué das Menschwerden versteht: als ein ethischer Vorgang, als Bewußtwerden der Verantwortung vor dem eigenen Entwicklungsgang, als Bewahrung einer Zielsetzung, dergegenüber die tierische Weiterentwicklung ein Abfall von der Hauptlinie bedeutet. Anthropozentrische Philosophie? Gewiß doch, und zu Recht.

Einige Werke von Edgar Dacqué:
(1921): Biologische Formenkunde der fossilen niederen Tiere (Berlin)
(1923): Biologie der fossilen Tiere (Sammlung Göschen, Berlin und Leipzig)
(1924): Urwelt, Sage und Menschheit (München)
(1951): Die Urgestalt (2. Aufl.; Insel-Verlag)

Anmerkung: Der Fehler schlich sich auf folgende Art herein (Hinweis von F. de Sarre):
Edgar Dacqué – ein deutscher Pionier der Evolutionsforschung von Ulrich Magin, in: BIPEDIA, 2: 5-10, 1989 (Nice), (S. 9): schreibt: “Die Veröffentlichung dieses Buches [Urwelt, Sage und Menschheit] führte dazu, dass Dacqué seinen Lehrstuhl verlor (Biedermann 1987: 6), er widmete sich in der Folgezeit, bis zu seinem Tod am 14. September 1945 in Solln bei München, der weiteren philosophischen Ausarbeitung seiner Ideen …”
Die Angabe von Biedermann 1987 ist aus: Biedermann, Hans (1987): Wesen, die es “fast nicht gibt”. In: Mysteriöse Fabeltiere und geisterhafte Wesen. Luzern, Motovun, S. 6-7.
Da ich damals Bipedia noch nicht kannte (und U. Magin noch weniger), kann meine Information nur von Biedermann stammen, mit dem ich bis zu seinem Tod in sehr regem Briefaustausch stand.

2. Anmerkung: Obiges Beitragsbild zeigt eine mythische Figur: den Gewässerschutzgeist Nöck (Kapitel im Museum in Colmar / Elsaß) Foto Uwe Topper, abgebildet in “Jahrkreuz” (2016, S. 155)

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