Peter Hutter: Germanische Stammväter (2000)

Buchbesprechung: Peter Hutter, „Germanische Stammväter und römisch-deutsches Kaisertum“ (OLMS 2000)

 

 

So stellte man sich im 16. Jahrhundert in Deutschland den Vorfahren aller Deutschen vor: König Tuiscon. (Kupferstich von Nikolaus Stoer nach Peter Flötner „Tuiscon“, aus Burkhard Waldis, Ursprung und Herkumen der zwölff ersten alten König und Fürsten Deutscher Nation, Nürnberg 1543

Nach nur zehn Jahren ist dieses Buch über die „Germanischen Stammväter“ schon ein Klassiker und kaum noch zu kaufen.
Peter Hutter erklärt unsere chronologiekritischen Probleme in bester wissenschaftlicher Weise, ohne daß der Autor unsere Fragen überhaupt kannte. Eine solche ‚colaterale’ Arbeit ist wertvoll, weil sie unbeabsichtigt bestätigt, was wir auf anderen Wegen herausgefunden haben.
Der Slawenschöpfer Mauro Orbini wird von Hutter nicht erwähnt, aber alle Vorgänger bis ins Einzelne: Von Annius Viterbo ausgehend löst Hutter den Knoten der damaligen Geschichtserzeuger auf der deutschen Seite in minutiöser bildlicher Folge, daß mir selbst die Arbeit von Julio Caro Baroja als Vorstufe erscheint. Und den kennt er nicht einmal.
Das bedeutet nun für uns, daß Hutter den inneren Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtserfindung erkannt hat und in dieser Arbeit, die ihn zum Doktor werden ließ, auch allgemeinverständlich mitteilen konnte. Dabei erfährt man viele Einzelheiten, z.B. diese: Enea Silvio, später Papst Pius II, schrieb seine eigene „Germania“, verschieden von der des Tacitus. Und: Vor Kenntnisnahme des Tacitus hatten die Deutschen keine Ahnung von Germanien, schreibt Sebastian Franck 1531. Das ist Wasser auf die Mühle von Hochart und Kammeier.
Kritik an Nannius gab es auch damals gleich, erläutert Hutter: Melanchthon durchschaute die Fälschung des Berosos, bekämpfte sie aber nur lasch, da er im Grunde diese Ideen für brauchbar hielt. Sowohl von Beatus Rhenanus als auch von Melanchthon wurde die Echtheit des nannischen Berosos bestritten: „Die führenden Köpfe des Protestantismus nahmen ihn nicht ernst … (S. 41)“
Allerdings macht Hutter klar: Geschichtserfindung war im 16. Jahrhundert keineswegs eine perverse Handlung von Politikern (wie es heute üblich ist), sondern der Versuch von Humanisten, aus dem unbekannten Vergangnen eine bekannte Größe zu erzeugen. Hutter fragt nicht, wie es kommen konnte, daß diese Vergangenheit unbekannt ist – der Katastrophismus wird nirgends berührt – aber er geht davon aus, daß „damals“, also später als 1500 n.Chr., eine Geschichte des deutschen Volkes völlig neu erfunden werden konnte, ohne daß irgend jemand dagegen Einspruch erhob. Wenn es Gegenentwürfe gab, dann nur, um eine anders gesinnte Meinung durchzusetzen, nicht aus dem Grunde, daß ja gar nichts (oder sogar gegenteiliges) bekannt war von einer deutschen Vorgeschichte, die mehr als hundert Jahre zurück gelegen hätte.
In diesem Sinne ist Hutters Arbeit von überwältigender Klarheit und im deutschen Wissenschaftsbetrieb nicht mehr wegzureden.

 

Anders als einige Vorgänger, die schüchtern Anmerkungen zum Thema schrieben (die Hutter auch gebührend erwähnt), hat der Autor hier die bildhaften Konsequenzen gezogen und in einem reichen Tafelteil die geradezu irrwitzigen Erfindungen der deutschen Geschichtsschreibung vorgestellt. Da sieht man keulentragende und harnischbewehrte Vorläufer der deutschen Kaiser und Könige mit illustren Namen, die zum Teil damals gerade erdacht wurden, zum Teil auch dem gerade aufkommenden Christentum abgekupfert wurden, vor allem dem Alten Testament mit der Abstammungsfolge der Überlebenden der großen Flut, also der Nachkommen von Noah. Hier fängt das Lustigste für den heutigen Leser an, das Unverständliche natürlich auch. Denn was wissen wir denn heute noch von der Idee, daß alle Menschenkinder von einem Elternpaar abstammen, nicht nur von Ask und Embla (pardon: Eva und Adam), sondern auch von Noah und seiner meist ungenannten Frau?

Wenn alle Menschen Noahs Kinder sind, stammen sie alle aus dem Kaukasus, wo Noah am Ararat landete, war die damalige Folgerung. Ohne eine Wanderung von dort in die vielen Länder, die seitdem wieder menschenbewohnt sind, ist kein Bibelglaube erlaubt. Wenn aber auch die Hamiten sogleich Nordafrika einnahmen, wie man damals sugerierte, blieb keine Zeit, sie zu Sklaven zu machen, was sie ja sein sollten. Die neuen Christen in Deutschland hatten ebenfalls ihre Schwierigkeiten: Ist Askenas, ihr Vater, eingewandert? Und aus dem Kaukasus? Das spukt bis heute in den Akademien herum. (Ask, der Urvater aller ‚Germanen’, und auch Asciburg bei Tacitus hängen ja wohl an dieser Erfindung).
Wir haben die Gnade, Spätergeborene zu sein und wissen nichts mehr von diesem Mythos, der die Lehrenden noch bis gegen 1800 n.Chr. beflügelte. Insofern ist uns heute die Abstammung von dem Stammvater Aschkenas auch gleichgültig, aber nicht so den Gebildeten des 16./17. Jahrhunderts!
Wir Aschkenasen (der Begriff hat heute nur noch Münzwert in Palästina, wo er die vorherrschende Klasse bezeichnet) haben also einen besonderen Vorteil: Wir sind uralt und stammen direkt von Gomer und dieser von Noah ab.
Daraus leiteten damals die Geschichtsschreiber ihren Anspruch auf das hohe Alter der Deutschen und deren adlige (jüdische) Herkunft ab, und damit glaubten sie Deutschland in den Kreis der gefürchteten und edlen Herren der Welt eingliedern zu können. Daß das damals ihr Kaiser Karl (der fünfte) schon wirklichkeitsnah tat, indem in seinem Reich die Sonne nicht mehr unterging, war ja nur ein Beweis für die Richtigkeit dieser Geschichtsschreibung. Oder entsprang er daraus?
Hieran knüpfen sich Fragen, die Hutter deutlich in den Vordergrund stellt und damit unserer chronologiekritischen Forschung die beste Unterstützung bietet. Was hat denn eigentlich die Historiker des 16. Jahrhunderts veranlaßt, dermaßen fantastisch und fremdartig eine deutsche Geschichte zu produzieren, ohne irgend eine Rücksicht auf ältere Vorgaben?
Kann man denn bei Null anfangen, wenn andere Leute in der Umgebung noch eine Vorstufe kennen? Offensichtlich kann man das, sagt Hutter.
Damit wird Geschichtsschreibung zur Farce, zur Chimäre einer gebildeten Klasse, die unter sich ein Spiel ausführt, das schon bald zur gängigen Vorstellung für alle Studierenden mutiert und später nicht mehr auszurotten ist und sogar bis heute gültig bleibt. Auch wenn man die bibelbedingten Namen und freigiebig gezählten Zeiträume später korrigiert hat im Zuge der „Aufklärung“, blieben doch Personalitäten der Geschichtsschreibung jener Zeit im Kontext haften und wurden bis heute immer weiter ausgebaut, wie etwa der sagenhafte Vorgänger des berühmten Karl (des fünften), nämlich Karl der Große. Den hat sogar Dürer mitgeschaffen.

So dachte man sich Gestalten der deutschen Vergangenheit: Gambrivius, der heute nur noch als Schutzheiliger der Bierbrauer bekannt ist. (Peter Flötner „Gabrivius – Künig in Brabant“, aus Burkhard Waldis, Ursprung und Herkumen der zwölff ersten alten König und Fürsten Deutscher Nation, Nürnberg 1543)

So erfährt man bei Hutter, wie aus fürsten- und kirchenbedingter Anpassung historische Personen entstehen, die lange ihr Unwesen in den Köpfen der Gebildeten treiben und schließlich dermaßen wurzelverhaftet werden, daß sie mit allerbester Kritik unserer Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts nicht mehr auszurotten sind. Daran knabbern wir heute noch!
Auch der Erfinder des ganzen Schmus kommt dabei zur Sprache. Es war der gefeierte Annius von Viterbo, auch kosenamenartig Nanni genannt, denn er war ein sehr beliebter Schriftsteller seiner Zunft, der noch heute im Museum von Viterbo (Italien) als genialer Erfinder der europäischen Historiographie dargestellt wird: Hundert Jahre und mehr hat er die europäische Geschichtsschreibung an der Nase herumgeführt, eine Leistung ohne gleichen, liest man dort die stolzgeschwellten Sätze.
Für einige Länder waren es auch zweihundert Jahre, und da ein unausrottbarer Rest blieb, ist die Fabuliererei dieses genialen Mannes noch heute bestimmend für manche unserer Geschichtsdaten. Die Spanier waren wohl die ersten, die sich davon befreiten, weil die kirchliche Theologie sich von dieser Freibeuterei langsam entfernt hatte. Insgesamt brauchte es aber auch dort zweihundert Jahre, bis man den Unsinn einschränkte, und wie gesagt: ganz frei sind wir auch heute nicht davon. Annius mit seinem erfundenen Berossos und Flavius und Manetho werden auch heute noch als Quellen zitiert (z.B. in „wiki“).
Soweit es die Geschichtsschreibung betrifft, ist das ja auch korrekt, sie greift auf ihre eigenen Quellen zurück, das ist innerhalb der Akademie üblich. Wann diese Quellen erfunden wurden, ist unbestreitbar aufgedeckt worden durch die späteren Forschungen, eigentlich schon ab 1742 (Topper, Die Große Aktion, 1998, Kap. 5). Aber daß damit alle diese Bücher in den Höllenschlund der Betrüger fallen, hat wohl erst Hutter uns heute so deutlich gemacht.
Der aufgeklärte Zeitgenosse fragt sich natürlich, wie das denn sein kann, daß solche Erfindungen sich stückweise bis heute halten und daß die Aufdeckung fast unbemerkt an uns vorübergeht. Aber ehrlich: Ist es nicht allgemein so, daß eine auf der ersten Seite gebrachte Zeitungsmeldung lange in den Köpfen hängen bleibt, auch wenn sie schon am nächsten Tag als Lüge auf S. 16 klein unter dem Stichwort: „Berichtigung“ widerrufen wird?

Peter Flötner Suevus, Ahnherr aller Schwaben (Kupferstich von Hans Brosamer)
So dachte man sich Suevus, Ahnherr aller Schwaben, wobei der Künstler Brosamer nicht einmal mehr wußte, wie der Haarknoten der Sueven aussieht. (Kupferstich von Hans Brosamer nach Flötner 1543)

Ein Nachtrag:

Bei meiner Arbeit am Buch „Das Erbe der Giganten“ stieß ich etwa 1974 auf ein Buch von Gaspar Ibáñez de Segovia, der den Thubalismus und die anderen Geschichtsfälschungen der spanischen Humanisten rigoros ablehnt und mit guten Argumenten als Erfindungen bloßstellt, also vor allem gegen Berosos (bzw. Annius Viterbo usw.) gerichtet ist. Die Ausgabe von Ibañez, die ich in der Bibliothek vorfand, war von 1805 (3. Aufl.), die erste Auflage stammt schon von 1671 (!). Aus meinen Notizen erkenne ich, daß ich damals nicht begriff, daß es sich bei den frühgeschichtlichen spanischen Königslisten um Fälschungen handelte oder daß ich dies zumindest nicht akzeptieren wollte, weil Ibañez auch Platons Atlantida als Erfindung hinstellte. Die Lektüre hätte auch anders für mich ausgehen können und mich vor dem dummen Fehler bewahren können, die Thubal-Königsliste in mein Erstlingswerk am Schluß aufzunehmen.
Ebenso war ich damals schon auf Josef Pellicer gestoßen, „Aparato de la Monarquia antigua de España“, der sich ebenfalls heftig gegen die damaligen Geschichtsfälschungen wandte.
Diese Aufdeckung der Fälschungsaktion hätte mich sogar noch weiter bringen können, etwa soweit wie Caro Baroja 1991 kam, der Ibáñez mehrmals zitiert. Einige Teile in meinem Buch „Erbe“ (1977) hätte ich dann völlig anders geschrieben.
Na, „die Zeit war nicht reif dafür“, pflegt man zu sagen; warum sie ausgerechnet 1991 reif war, wäre eine Untersuchung wert. Denn Christoph Marx und Kollegen forschten ja schon seit Velikovskys Tod 1979 daran und gewannen nur Einzeldurchblicke. Erst Illig schaffte den Durchbruch, den er dann leider nicht völlig verstand. Jedenfalls war das 1991, das Jahr in dem Daehnhardt in Lissabon und Caro Baroja in Barcelona ihre Bücher gedruckt sahen. Und weitere Personen Hinweise gaben, die aber nur am Rande auftauchen (wie z.B. Thomas Riemer).
In jenem Jahr 1991 sah ich übrigens in Berlin die Doktorarbeit von Illig über Egon Friedell in einem Antiquariat im Wühlkasten, aber sie behagte mir nicht. Es steht vermutlich noch nichts aufregendes drin, das auf die „Mittelalterlücke“ schließen ließ.

(Abbildungen, wenn nicht anders vermerkt, aus: Hutter, Germanische Stammväter)

 

 

 

Literatur:
Caro Baroja siehe meine Besprechung hier im Lesesaal
Mauro Orbini siehe Topper, Fälschungen der Geschichte (München 2001) S. 165-172
Topper (1996): Wer hat eigentlich die Germanen erfunden?

 

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